Rainer Nägele

Vorwort von Echos : Über-setzen (Anfang)




Schon mischen und vermischen sich die Sprachen, noch vor dem Text und den Essays, die hier folgen, und in denen die Zitate in mehreren Sprachen durcheinander gehn. Es ist dies keine Ausstellung von Gelehrsamkeit, noch weniger eine hierarchische Konkurrenz der Sprachen. Deutsch oder Griechisch zum Beispiel stehen in keinem nähern Verhältnis zum Wahren als irgendeine andere Sprache. Jede Sprache ist eine unter andern und jede eine Erscheinungsform der SPRACHE.
Es hat sich ergeben, dass Deutsch beinahe (nicht ganz) meine Muttersprache ist. Beinahe nur, weil Deutsch, wie es hier geschrieben steht, weder die Sprache meiner Mutter, noch meines Vaters, noch meiner Kindheit war, aber es war als «Schriftsprache», wie man das Hochdeutsch nannte, die Sprache, in der ich Schreiben und Lesen lernte. Es hat sich ergeben, dass das (alte) Griechische nicht zuletzt in der rätselhaften Ferne und Nähe seiner Schriftzeichen zu eben dem Zeitpunkt lockend mich anzusprechen begann, als ich anfing, mich am Klang deutscher Gedichte zu berauschen, indem ich mir stundenlang die in billigen Taschenbuchausgaben entdeckten Gedichte von Goethe und Hölderlin vorrezitierte. Die Lust an der Schrift übersetzte sich in Mund- und Ohrenlust. Fast gleichzeitig begannen französische Laute mich anzusprechen. Und wenig später entdeckte ich in Baudelaire und Rimbaud eine Dichtung, die sehr verschieden von der Goethes und Hölderlins war, aber der Nachhall ihres Einschlags dauerte wie der Einschlag und das Echo der ersten Liebe.
Die folgenden Essays sind Echos solcher Einschläge. Etwas geschah. Es ergab sich, dass es in eben diesen besondern, eigentümlichen Konfigurationen geschah. Im Versuch aufzuzeichnen, was geschah, in der Evokation der prägenden Konfigurationen kreist das Schreiben um immer wieder dieselben Texte. Ein solches Schreiben ist immer schon Echo. Jede Begegnung mit einer besondern Sprache oder mit einem besondern Text ist schon gestimmt und also bestimmt von der eigentümlichen Struktur des Widerklangs. Jede solche Begegnung mit einer Sprache, mit einem Text ist Erinnerung an die erste und singuläre Begegnung nicht mit irgendeiner Sprache, sondern mit der SPRACHE.
Aufgabe des Schreibens, wie es hier verstanden wird, ist es, aufzuzeichnen, was sich herausgestellt hat, d.h. die Resonanzen zu registrieren, die jeden geschichtlichen und individuellen Augenblick als eine Konfiguration von Singulärem und Wiederholung stimmen und bestimmen. Registrieren, aufzeichnen: wie zum Beispiel Kafka am 2. August 1914 den Beginn des ersten Weltkriegs registriert hat: «Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. - Nachmittags Schwimmschule.» Man hat diese Tagebuchaufzeichnung gelegentlich als verstörenden Rückzug in die Privatsphäre gelesen, als ein Symptom von Kafkas Entfremdung in und von der Welt. Aber keine sich politisch meinende Reflexion hätte auch nur annähernd die diagnostische Präzision dieser Aufzeichnung, die in der harten Fügung zweier Ereignisse und im Gedankenstrich zwischen ihnen eine objektive historische Struktur im Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre als Abgrund festhält.
Wo immer eine solche Aufzeichnung stattgefunden hat und sich als zu lesende Gabe gibt, kann die Arbeit des Lesens und Schreibens immer wieder neu ansetzen und sich vollziehen. Die Singularität eines Gedankenstrichs und einer harten Fügung zweier Sätze, die zwei heterogene Ereignisse festhalten, sind die Daten und das Zeug, aus denen Geschichte und Geschichten sich bilden: nicht die Ereignisse und Fakten in ihrer abstrakten Unendlichkeit, sondern die Spuren ihrer Einschläge.
Wenn Schreiben das Lesen solcher Spuren sein soll, muss es da ansetzen, wo die Spur als Einschlag fühlbar ist.

aus: Echos : Über-setzen


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