Hermann Wallmann

Vielleicht, dass eine Stimme weint
«Sarganserland» – Gedichte von Michael Donhauser




kommen zu sehen, so hatte der «Aufsatz» geheißen, mit dem Michael Donhauser im letzten Jahr seine Übersetzung später Verse von Arthur Rimbaud abgeschlossen hatte. In ihm war der Name Sargans – Hauptort des «Sarganserlandes» im Alpenrheintal – gefallen, durchaus in Anspielung auf Rimbauds Wanderungen durch die Schweiz, aber auch als die beinahe synästhetische - und damit auf Rimbauds Poetik zielende – «Realisierung» eines Wortes durch Farben: «in dieser Sonne am Asphalt, die den Asphalt weißt mit Resten von Schatten, schwebenden Schatten bis hinauf zum Perronkopf, wo «Sargans» steht – dort steht Weiß auf Blau «Sargans» auf einer Tafel an einem Sprossenmasten, der sich himmelwärts verjüngt».
Donhausers neuer Gedichtband ist in fünf Abteilungen gegliedert, jede von ihnen enthält elf titellose Gedichte, und wiederum hat er an das Ende seines Buches ein lyrisches Prosastück gestellt, das ganz im Bild bleibt – und Poesie so (physikalisch) reflektiert, wie sich der eingangs genannte Text Lebensspuren bis zur Unsichtbarkeit angeeignet hatte. Die erste Abteilung heißt Sarganserland, und sie kann gelesen werden als eine Fortschreibung, ja als ein Fort-Gang des Rimbaud-Buches: «Vielleicht an einem Abend, an / einem Abend spät vielleicht // ein Glas gefüllt mit Anis und / eine Stimme, die weint // Vielleicht, dass eine Stimme weint // Ein Glas an einem Abend spät vielleicht // Ich gehe nicht, nicht mehr sehr weit // Zu sehr, nicht mehr / zu weit». Donhausers Gedichte betreten den kleinen Grat zwischen Anverwandlung und Verfremdung, zwischen verschwiegener Scheu und scheuer Verschwiegenheit, ihre Sprachskepsis oszilliert in einem zwar beredten, aber syntaktisch fluktuierenden Vergleich.
Dem «Sarganserland» ist als Motto ein Satz des in einem späteren Gedicht auch noch einmal genannten Jan Potocki («Die Handschrift von Saragossa») vorangestellt: «Je mis ma main sur mes yeux et je me sentis défaillir», frei übersetzt: kommen zu sehen. Und tatsächlich hat Michael Donhauser die Hand von seinen Augen genommen, um sich nicht zu verlieren. Und doch ist es bezeichnend, dass er sich nicht zu der Kleistschen Metapher von den (unwiderruflich) weggeschnittenen Augenlidern versteigt. Indem er (nicht sein Programm, sondern) sein Konzept – «die bläulichen Bäume, keine These, kein Thema» – ex negativo bestimmt, hält er sich die Möglichkeit offen, doch einmal wieder die Hand vors Gesicht zu legen. Ganz zuletzt lauscht er noch einmal alle Aggregatzustände lyrischen Sprechens der Wirklichkeit ab, ein Bedenken, das wieder Grazie geworden ist, Naturkunde als Poetologie: «Wasser, das / singt, leisher / nächtlich und / gurgelt mit // Silben, wenn / wankend es / taucht und ein / dunkel ins // Becken, das / murmelt, bricht / Wellen, die / schlagen an // Heller, dass / es versiegt / flüstert, rinnt / für und für». Nein, das ist keine Lautmalerei, das ist, als ob Michael Donhauser nicht zu Gott, sondern, unbeirrt stockend, zu einem Gebet betete.


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