Dorothea Dieckmann

Die blauen Hefte
Ein neuer Band mit Prosagedichten von Farhad Showghi


«Am Mann blieb der alte Fuss lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuss fror auf und blätterte sich aus dem Schrank»: Peter Bichsels berühmte Kindergeschichte «Ein Tisch ist ein Tisch» ist, der Erzähler sagt es selbst, eine traurige. Denn der alte Mann, der hier «am Morgen lange im Bett liegen blieb», hat die Wörter für die Dinge gegen andere ausgetauscht, weil ihm die Welt zu eintönig war, und die Listen in blaue Schulhefte eingetragen. Bald aber fällt ihm das Rückübersetzen schwer; niemand versteht ihn mehr, und er verstummt. Nur, wo sind die blauen Hefte geblieben, in denen die verlorene «richtige» Sprache verzeichnet ist? Bichsels trauriger Held bezahlt mit Vereinsamung, weil sein Mut, die Sprache zu verlernen, nur so weit reichte, die vereinbarten Wörter durch andere zu ersetzen. Der soziale Sinn der Sprachkonvention geht verloren, während der Nachteil der Statik bestehen bleibt. Der Sprecher isoliert sich, doch ein Tisch ist ein Tisch, auch wenn er Teppich genannt wird.

Die freie Stelle

«Ich werfe einen Blick in den Himmel, ziehe einen Pullover an. Der Pullover hat die Wahl, Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein. Wäre ich jetzt selbst Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont. [. . .] Hätte ich doch schon Wolke mit Birken auf Brücke an. Läge mir die Stille den Unterarm.» Auch hier, in einem der neuen Prosagedichte des Deutsch-Iraners Farhad Showghi, ist von der Wahlfreiheit die Rede, die Plätze zu wechseln – wohlgemerkt aber: nicht der Benennungen, sondern der Dinge, wenn auch in geschriebener Form. Betrachtet man die Zeilen genauer, so erkennt man, dass hier keine Ersetzungen stattfinden. Der Pullover und die Aussicht aus dem Fenster könnten die Plätze tauschen. Das Ich versetzt sich probeweise an die Stelle des Pullovers, um von dort aus die Entscheidung zwischen der hautnahen Berührung und der weiten Umgebung zu erproben; erst dann kann es die neue Bedeutung des Pullovers «anziehen». Was ist was? Es ist, als begänne die Welt, sich um die frei gewordene Stelle zu drehen.

Um diese Stelle, diese «Stille» kreist Showghis Schreiben, um den unentscheidbaren Punkt deckungsgleicher Bedeutung. Seinem nunmehr dritten Buch gibt nicht zufällig eine Zeile des Dichters Gennadij Ajgi das Motto: «Ganz aus bestand der begriff .» Die von wenigen Zeilen bis zu zwei Seiten langen, geschlossen komponierten und syntaktisch stimmigen Texte sind in Zyklen gefasste Einheiten, die vielfältig miteinander korrespondieren. Hier geht es ebenfalls ums Verlernen der festgesetzten Sprache: «Wir heissen auf die ungewisse Weise weit ausserhalb von uns. [. . .] Ohnehin staunen wir, könnten zu einer klaren Stimme wechseln. Also ganz leicht uns in eine andere Lage versetzen.» Wer von der Lyrik lediglich andere, «poetische» Konventionen verlangt, etwa die Metapher als symbolische Umschreibung, prophezeit solchen Wagnissen gern das Schicksal des alten Mannes, der sich von der Kommunikation ausschliesst, mit dem Etikett «hermetischer» Unverständlichkeit.

Doch statt sich abzuschliessen, lösen und weiten Showghis Versuche die Klammern von Zeichen und Bedeutung so umsichtig, dass sich vorsprachliche, ja vorbewusste Räume erschliessen. Die Sprache, die dabei entsteht, öffnet den Zugang zum Ursprung der Sprache im Jetzt, «ungefestigt wie das Wörtchen Nu, mit dem ich eine Vermutung beginne», und – ahnungsweise – im Dunkel des kindlichen Spracherwerbs: «Fällt ein leichteres Wort [. . .] und verliert ein Gefühl, schlafwarm, noch Beissgefühl, mit deutlicheren Erlenkronen», heisst es etwa, oder: «Die Finger verrutschen, wir hören uns sprechen, es kommt Milch, wir meinen Mundlautwellen.» Genau diese Erfahrung des Spracherwerbs macht der Leser: Er lernt, je intensiver und zwangloser er sie aufnimmt, in diesen Schöpfungen eine neue Sprache. Sie zeigen mit seltener Eindringlichkeit, dass sich Sprache mit diskursiven Mitteln nicht erklären lässt, sondern sich selbst erklärt und beschreibt.

Vermessung des Sprachraums

Am deutlichsten formuliert das Prosagedicht «Sprechzimmer» Showghis poetische Prinzipien. Es erinnert daran, dass der in Prag geborene Sohn einer Deutschen und eines Persers, denen der Band gewidmet ist, als Arzt arbeitet. «Wie oft muss ich ein Zimmer betreten, um ein Zimmer zu haben? Ein Zimmer, das auch mein Sprechzimmer ist?» Hier, am Ausgangspunkt der Vermessung des Sprachraums, geht ein schlichter Wortschatz ein und aus: Tür, Fenster, Wand, Teppich, aber auch Hand und Fuss, Himmel, Strasse, Baum und Luft – Wörter als Chiffren eines prekären Eigentums. So wie der Ausblick aus dem (Hamburger) Zimmer Züge der «anderen Stadt» (Teheran) annehmen kann, findet die Hand die Hosentasche, der Fuss den Schuh, ineinandergleitend wie Ding und Wort, und ihre Entsprechungen in den anderen Sprachen. Wenn das Ich die tschechischen Schuhe «in den Mund nimmt», werden sie «nicht eigene. Aber sie ereignen sich trotzdem, verschieben mein Schauen und Hören.» In «boty» lernte das Kind laufen, und die späteren Farsi-Wörter transportieren weitere Erinnerungsbilder, andere Landschaften: «Aus so vielen Schuhen rag ich, mein Gott, ohne zu wissen.»

Diesmal also nähert sich Showghi den Polen seiner Herkunft sichtbarer an. Dem aufmerksamen Leser fällt auf, dass im Zyklus «Hora Hochgern», in dem die frühe mütterliche Erfahrung anklingt, elliptische Verkürzungen, aber auch schmerzliche bildhafte Fragmente überwiegen: «Strenggenommen zerreisst ein Herz», «Aus freien Stücken zieht die Brust». Der Begriff «Die grosse Entfernung», der seit je das Sehnsuchtsmotiv des «Orients» markiert, benennt nun den titelgebenden Zyklus, ein «Ferngespräch» mit einer Foto des Vaters, «immer auf halbem Weg zu seiner Sprache». Tauchen schon im Deutschen «Fremdwörter» wie Lolch, Lemur, geschalmt, Humbug auf, so wird das Farsi-Wort «Schotor» für Kamel in halb schelmischer, halb schamanischer Weise klanglich beschworen: «Schotter, schon lustig [. . .]. Schau, die da sind gleich keine Kamele. Sind noch eine Weile kaspisch, ein Stückchen Luftraum aus Staub und Schotor. [. . .] Wir gehen also weg. Mit dem schönen, dunklen Wort Schotor. Schönes Tor, leicht geöffnet.»

Farhad Showghis Prosagedichte öffnen ein schönes Tor. Sie führen zusammen, was, wie Nord und Süd, Lärche und Korbeiche, «vergleichsweise unverwandt» ist und doch auf der Haaresbreite zwischen benachbarten «Sprechzimmern» wohnt – einer Schwelle, die man nur unbewusst überschreiten kann. «Die Tür heisst Dar und Dar heisst die Tür. [. . .] Zwischen Dar und Tür. Wurde ich betäubt und in ein schattiges Zimmer getragen.» Gerade so, wie unter leichter Betäubung, liest man diese Texte, als läse man in den verlorenen blauen Heften, die die Bedeutung der sprachlosen Welt aufbewahren.


(Neue Zürcher Zeitung, 23. September 2008)


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