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Angela Schader

Die Kunst des Akrobaten



Neue Zürcher Zeitung, 13./14. Juli 2002

Ein hohes Niveau erreicht eine bei Urs Engeler erschienene Publikation: die von Mirko Bonné ebenso geistreich wie gekonnt präsentierte Sammlung «39 alphabetisch» von E. E. Cummings. Das Bändchen ist von bemerkenswerter Sogkraft: Begierig und neugierig liest man sich durch, und hier hat der zweisprachige Leser gleich mehrfachen Gewinn. Da die Gedichte im Original wie in der Übersetzung programmgemäss «alphabetisch» nach ihren Anfängen geordnet sind (und der Herausgeber gegebenenfalls noch um ein wenig um schöpferische Unordnung besorgt ist), kommen englische und deutsche Version nie nebeneinander zu stehen; lediglich entsprechende Seitenverweise dienen als Orientierungshilfe.
Wer nun lieber liest als blättert, wird vermutlich sowohl die englischen als auch die deutschen Gedichtfassungen gründlicher betrachten, weil er nicht unmittelbar von der einen zur andern springen und sie gegenseitig als Verständnishilfen konsultieren kann. Und ein genaues Aushorchen und Abklopfen der Texte bringt bei Cummings Gewinn: ob es sich nun um konventionellere Gedichtformen handelt, die durch die Kohäsion von Metrik, gebundener Sprache und bildlicher Entwicklung in Bann schlagen, oder um die suggestiven, offenen Sprachgebilde, mit denen man diesen Dichter in erster Linie assoziiert. Zudem - auch deshalb darf man von schöpferischer Unordnung reden - treten durch die halb vom Alphabet diktierte, halb auch vom Herausgeber gesteuerte Konjektur Texte aus ganz unterschiedlichen Schaffensphasen des Dichters nebeneinander, und öfters auch in reizvollen Dialog.
Weitere Freude bringt dann der Vergleich von Original und Übersetzung: streng in der disziplinierten Geste, der massgeschneiderten Knappheit, des Sprachkleides, spielerisch, aber nie mutwillig im Umgang miteinander, präsentieren sich die beiden Fassungen wie eine Truppe von Trapezkünstlern, fliegend und bunt in der Höhe der Zirkuskuppel: ein Schauspiel, das bezaubert und den Atem verschlägt.

Not
un deux trois
der
die
Stood(apparition)

dichtet Cummings. Bonne kontert:

Nicht
er he le
ahn
döh
Bare(erscheinung)

Da ist in «er he le» die Sprachtrias deutsch/englisch/französisch aus dem Original herübergebracht; im «ahn, döh» der Klang des «un, deux» – aber warum in dieser kuriosen Umschreibung?
Der Kunstgriff des Übersetzers lenkt die Aufmerksamkeit auf eine vertikale Bedeutungslinie: Das «Nicht er/ahn/Bare» sorgt immerhin. für ein Mass Gewissheit, dass auch das «Not un/der/Stood» im Original nicht unverstanden bleibt. – «Er he le –: wahrhaft erhellend darf man eine solche Übertragung nennen.

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