Peter Waterhouse

Gedichte und Teillösungen



Wenn ich jetzt an den Bahnhof, den Nicht-Bahnhof denke, der kleinen Stadt oder des Rests Aquileia, habe ich gleich eine Vorfreude, möchte gleich dahin reisen, wo so gut wie alles erwartet, nichts sehenswert ist, jedenfalls keine Picasso-Sammlung in Saal 3, keine Berühmtheit, keine Raffinesse: Verkehr und Häuser in einer Ebene: und der Verkehr und die Häuser eine weitläufige Zeichnung, Abbildung einer ungewissen menschlichen Sache. Da sitzen und nichts können. Besser: da stehen und nichts können.
Die Schienen liegen meterweise schon unterirdisch. Hier ist lange mehr kein Zug angekommen. Vorne im Bahnhof ist eine unklar eingegrenzte Weinschenke (Zugang von der Seite), Osteria, teils verdeckt durch Kühlaggregate und das Brummen und Rütteln dieser Maschinen. Auf der Seite der Gleise, hier klopft mein Herz schneller. Es geschieht etwas. Hier habe ich angehalten. Die körperliche Empfindung ist: Hand aufmachen. Mit offenen unendlichen Handinnenflächen stehen. Mit nichts in der Hand dastehen (: und da die Zeichnung lesen: den Plan der Linien in der Haut und der Linien in der Landschaft). - Man kann die Zukunft nicht in die Hand legen. Sie ist nicht wie ein Stein oder ein Tisch. An die Zukunft denke ich an: an den Wind, Hauch, Atem, fahrende Wagen.
Es kann vorkommen, daß einer so aufgewachsen war wie Wind, umherbewegt von Ort zu Ort, mit den zwei Eltern mitgezogen in neue Häuser. Ein paar Monate hier, ein Jahr dort, drei Jahre in Köln gelebt, so daß eine Serie begrenzter kleiner Heimaten entstanden war. Zum Beispiel eine Halbjahrheimat auf einem Bauernhof, eine Dreijahreheimat in der Stadt usf. Auch die Minutenheimat am süß riechenden Rhein gab es. Die Spazierheimat Über die Wiese. Die Blickheimat vom Fenster aus auf die Blesse ('mein Heimatdorf: Pferdeblesse').
Gestern Abend stand ich im Park, unter dem Schneefall. Vor zwei Jahren stand ich in Köln auf dem weiten Grün (eines der Felder des parkartigen Gürtels, der um die Stadt geblieben ist). Auf das Schneeweiß, aus dem Dunkel kamen gelaufen die Kinder und Eltern und warfen Schneebälle, alle riefen aus Schreck und Freude durcheinander, eine Elster aus Schreck und Freude. Aber jeder dieser über die Fläche verteilten Rufe, auch Schreie, war eine kurz laut erzeugte Heimat, die, nachdem sie gezuckt hatte, sogleich zurückgelassen war irgendwo, Arme bewegend. Der kleine Arenbergpark rief ringsum ein Vertrauen. Es war eine veränderliche Wörtergesellschaft auf der Schneewiese. Und die enorme Sommerwiese. Ich stand auf einem Fleck Glanzglas, Windhalmen, Flattergras und wo und wie ich zentimetergenau gestanden war dreißig Jahre davor. Ein lang nicht mehr gehörter Ruf einer Stimme. Auf dem weichen Gras war ein Einlaß in die zarte Empirie, die rief. Ich wurde gegenstandslos. Der Ruf wie aus einer grünen Tiefe kommend oder wie aus Stille zusammengesetzt: endlich zart (die Haut abgezogen, geplagt, getrennt, voll Zorn oder Kummer).
So gibt es das Nicht-Können. Ich schaute von dem Fleck den Kastanienbaum an und dachte den Kastanienbaum, dachte den Baumstamm, dachte ohne zu zählen die Äste, schaute die Blätter an und dachte sie dabei, dachte Farben, wie ich sie anschaute, dachte Gelb, dachte Braungelb, Zitronengelb, durchsichtiges Gelb, Grün im Licht und im Schatten, ich schaute den Kastanienbaum an und konnte nicht, schaute ihn an, um ihn dabei zu denken, und es war ein Nicht-Können. Als eine denkende Samenkapsel des zwanzig Meter hohen Baums bin ich gestanden. Schwer zu sagen.
Wie wenn man im Berühren mit der Hand dieses Kastanienbaums ein Nicht-Können berührt, eine andere Sicherheit, ein Gewebe und einen rauhen Text. Anschaut, daran denkt, ihn berührt mit der Hand, damit auch ein Nicht-Wissen. Wie ich über die Wiese ging zum weißen Schulhaus, sah ich, daß der Speisesaal ausgehöhlt, unser aller Tische und Sessel untergegangen, die Küche in einer Gewalt zerbrochen. Hinter dem Gebäudeflügel in einem Dickicht von Weißdorn und Waldreben steht noch das Schild, in zwei Sprachen, englisch-deutsch, dieser Gartenteil sei ein Kindergarten, Zutritt verboten. Heute ist das hier, und das steht geschrieben auf der Tafel an der Vorderseite des Gebäudes neben dem damals Volksschultor, Hochschule für das Militär. Ich stand wieder bei der anderen Tafel im Dunkel, ganz eingeschlossen in die Waldreben, wie ein da hinein gefallener Regentropfen (alle Jahre gefallen, geregnet). Mit den Armen, ausgebreitet - wie im Flug ausgebreitet -, schob ich das Gezweig von mir; zog ich die Arme zurück, legten sich die Zweige wieder über mich, wie Buchstabenteile über mich und vor mich. Das Dickicht wuchs wie ein schwieriger Text.

(Auszug aus dem Anfang des Essays aus Die Schweizer Korrektur)