Michael Donhauser

Die Aprikose




«Im Grunde tritt also der Mensch und nur er allein
erhaltend in den Kreis der Dinge.» Eduard Renner


«Je m'assiérai dans l'abricot...»
(Ich werde mich in die Aprikose setzen, mir die Aprikose zueigen machen, bevor ich fortfahre...)

Ein Sitzmöbel, denkbar machen, imaginativ.
Es konstruieren, mit ein paar Gesten.
Strichen oder Worten, dass es feststeht.
Also ist die Aprikose denkbar zu machen.
Mit ein paar Tricks, um uns zu zerstreuen.
«Pour nous trîcher en trîchant...»
Doch mit einiger Beharrlichkeit: Festigkeit.
Als Sitzmöbel: als Steinfrucht.

Als die Möglichkeit, zu warten.
Mich zu setzen und nachzugeben.
(Nachzugehen, der Aprikose.)
Also fordert sie zum Bleiben auf.
Frühreif, mädchenhaft, Frucht genug.
Reif genug, dass ich mich in ihr täusche.
Über die Jahreszeit hinweg: jetzt im März.
(So dem Import zuvorkommend: imaginativ.)
Fein behaart von einem lichten Flaum.
Wie: früh gereift mit einem Spalt als Saum.

Sich öffnend sich verschliessen: duftend.
Schreibend: eine Blüte von einer Frucht.
«On dirait...»
Man würde sagen: ein fast fester Duft.
(Ähnlich fast fest wie: festlich, bildhaft.)
Immer wieder in der Stille des Zimmers.
(Des verhangenen Himmels, der blassen Schatten.)
Im Rauschen jetzt namens Vormittagsverkehr.
Kontrapunktisch, einstimmend, aufgehoben.
Im Licht, im Lärm, nahe dem Zittern des Schattens.
Zweieinig als Frucht: zum Funkeln oder Kosen.
Leisen Kaudern: im Selbstgespräch mit der Stille.
Oder Blubbern: wenn die Früchte zu Konfitüre verkochen.
(Nachmittäglich in der dann blankgeräumten Küche.)
Weichgekocht von der Sonne: unter dem Gewicht ihrer Wärme.
Oder im Regen: von der Zärtlichkeit der zögernden
Tropfen.
Erweicht unter der Berührung ihrer rollenden Lippen.
Wie: nachgereift unter dem Betgemurmel unserer Stimmen.
In der Stube: aufduftend aus der Schale Obst.

Jahrelang zu bedrängt, um mit einem Freund einen Nachmittag in einem Gastgarten zu sitzen, finde ich jetzt die Aprikose.
Die Möglichkeit, mich zu setzen: in der Aprikose.
Sitzen zu bleiben: gestützt, gebettet, gehalten.
Als in einem Fauteuil oder Faltstuhl: kartenschreibend.
Seine Karte lesend: «wir sind zu Fuss durch
die halbe Stadt gelaufen, einen
Fluss entlang, neben dem Fluss
eine Schnellstrasse mit Bäumen
und den allerersten Blüten
(Pflaumen-Blüten).»

(Ashikaga, 9. März '92)


Annähernd finde ich die Aprikosenfarbe.
In einigen Buchrücken, rötlich oder gelber.
Annähernd heller oder dunkler, je nach Nachbarschaft.
Oder in einer Zigarettenschachtel, in einem Wintermantel.
Aufleuchtend, verblassend oder anhaltend, wiederkehrend.
Dass ich die «Kleine Suite des Vivarais» aus dem Büchergestell nehme und die Packung FALK zum Buch lege.
Dass ich mich frage, ob «aprikosen» die Farbe dieses Winters sei oder die des Frühlings oder Übergangs.
Vielleicht ist es ein Übergangsmantel gewesen.
Vielleicht hat Francis Ponge einen Übergang eingeleitet.
Vielleicht rauche ich die FALK nur vorübergehend.

Es gibt die Aprikosenfarbe annähernd.
Gibt sie annähernd am Aprikosenbaum.
Annähernd im Gras unter dem Aprikosenbaum.
Und am Wegrand, weitab von jedem Baum.
Oder auf dem Küchentisch, annähernd.
In der Einkaufstasche, Brücken schlagend.
Scheinbare, zu den Konfitüregläsern im Keller.
Zur Aprikosenfarbe, die es nur annähernd gibt.
Die zum Orange ist wie das Rosa zum Rot.
Ebenso sanfter, wärmer eher als glühend.
Weicher, stiller, früher, funkelnd.
Mit bräunlichen Punkten: Sommersprossen.
Altersflecken: auf «deiner» Mädchenhand.
(Einmal wie jetzt werde ich dich wiederfinden.
Mich wiedergefunden haben: assis dans l'abricot.
Zu deinen Füssen sitzend am Rand des Kanapees.
Unter dem feinmaschigen Netz deiner Tücken.)

So schreibe ich die Aprikose: verweilend.
An einer Hausmauer: an die Hausmauer gelehnt.
Wo sich die Sonnenwärme staut: vorfrühlingshaft.
Als Ankündigung einer Vorvergangenheit: duftend.
Wenn auch oder: manchmal, ungehindert, leicht.
Von einem Luftzug als Ahnung verweht.

(Wien, 19. März '92)


Durch und durch aprikosenfarben.
(Von der Sonnenwärme gut eingefärbt.)
Und der Stein blattförmig zugespitzt.
Während die Haut einen bitteren Ton behält.
Das leicht bittere Nichts von einer Haut.
Als wären Stein und Farbe in ihr zum Ton vereint.
Zu jenem Grundton aus dem Saft der Baumwurzeln.
(Dem Aprikosenrot der byzantinischen Fresken.)
Dem Erdton, der auch den Wein aprikosen färbt.
(Den Wein aus der Gegend der Aprikosenbäume.)

Durch und durch dicht.
(Von der Sonne gut eingekocht.)
Reifgekocht von der Sonne ist die Aprikose weich.
Doch der Saft entrinnt ihr nicht: mit keinem Biss.
Trotz der beginnenden Zersetzung des Fleisches.
Zugunsten der Verdichtung des Geschmacks.
Trotz der Aprikose: zugunsten der Aprikose.
(Denn bevor sie übergeht, zieht sie sich zurück aus dem
Wettstreit der Früchte.
Oder ihr Saft versiegt in der Luft als Duft, während ihre
Haut runzelt.)

Die überreifen Aprikosen werden verlesen.
Man muss die faulenden Früchte herauslesen.
Die Arbeit des Winds noch einmal aufnehmen.
Und eine zweite Auswahl treffen: am Küchentisch.
(Nachdem die zur Reife gelangten Früchte aus einer ersten
Auswahl am Aprikosenbaum hervorgegangen sind.)
Eine Auswahl nach der Reife: nah der Fäulnis.
Wenn die Gärungsfliegen die Aprikosen schon besetzen.
Ausserdem der Stein: wieder der Stein.
Denn wer wird nicht während des Verlesens eine überreife
Frucht öffnen?
Doch fast ohne Gewalt, mit einem leichten Daumendruck
auseinanderfügen?
Und wem wird es einfallen, den Stein wie prüfend gegen
das Licht zu halten?
Ihn drehend, als liesse sich an seiner Farbe der Geschmack
der Frucht erkennen?
An dem matten Glanz, während er wie viele Steine feucht kostbarer scheint.
Auf der ausgebreiteten Zeitung, im Aschenbecher, dem
Kästchenrand entlang.
(Doch du seist nicht genannt.
Zugunsten der Himmelsbläue als Abstellfläche.
Zugunsten der bereitgestellten Konfitüregläser.
Während eines Augenblicks wie eines Klickens.
Vom Verschluss der Tür unter der Abwasch.)

Die Aprikose entgeht dem Vergleich nicht.
Nicht dem Vergleich mit dem Pfirsich.
Vorher gekocht: praecoquus, vorzeitig, frühreif.
Ist sie ihm ähnlich als dessen Vorvergangenheit.
(Als wäre jener immer schon erkannt.)

«Die Blüte des Baums kommt her=
vor im April, die Frucht im Julio, sie scheinet der
Grösse und Gestalt nach eine Art der Pfirschen zu seyn,
wiewol sie an Blättern, Blüte und Rinde ziemlich da=
von unterschieden; auch ist die Frucht viel süsser als
die Pfirschen, und die Blüte an diesem roth, an ienen
aber weiss.»
Johann Heinrich Zedler

Sie geht als Verglichene voraus.
Um so anfänglicher zu bleiben: bei voller Reife.
Oder: unerkannt, vernachlässigt, vorvergangen.
Wenn auch unterschieden: viel süsser, rosablühend.
Als «persica praecocia» im Lateinischen.
Als «praikókkion» im Griechischen.
Als «al-barqu- q» im Arabischen.
Als «abricot» im Französischen.

Es ist ihr Vorzug, zu gleichen.
Sich in sich zu gleichen als zwei Hälften.
Und so auch dem Pfirsich zu gleichen.
Schon reif, während jener noch reift.

Ich habe mich auf meine Art in Pose gesetzt.
Ich habe mich in die Aprikose versetzt.
Gestützt von ihrer weichen Festigkeit.
Wobei sie schliesslich eher einem Divan gleicht.
(Eher als einem Fauteuil oder Faltstuhl.)
So zweiteilig in sich: zweigeteilt von uns.
Wobei der Spalt fast unerwähnt geblieben ist.
Zwischen den beiden Polstern: als Furche.
Worin ein Aprikosenstein leicht verloren geht.
Eher, als dass daraus ein Baum entwächst.
Es sei denn ein Ding wie ein Traum.
(Doch ohne dessen Eindringlichkeit.
Dessen Hang zur Dinglichkeit.)
Sodass ich einnicke, heimisch geworden.
Halb sitzend, halb im Liegen.
Zum Erliegen gekommen.

Ich bin den Gärten der Vorstadt entlang gegangen, heiter,
müde, der Täuschungen, der Enttäuschungen, der Verbote
und ihrer Übertretung, ohne Klugheit oder Vagabunden-
eifer, bereit nur, berührt zu sein von der leisesten Geste wie einem Zigarettendrehen, einem Schimmer, gelblichgrün, im Gezweig oder von einem Wort wie rieseln, wie Häutchen, wie «la pulpe» für das Fruchtfleisch, wie Flaum oder Filz oder feinbehaart.

(Wien, 21. März '92)


Handtuch im Offiziershotel: aprikosenfarben.

(Budapest, 9. April '92)



(aus: Michael Donhauser: Die Aprikosen, in: ZdZ Heft 6)



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