Michael Braun

Birgit Kempker: Ausser Atem. Liebessprachfragmente



«Das Schreiben», behauptet Roland Barthes in seinem Traktat «Die Lust am Text», ist «die Wissenschaft von Wollust der Sprache, ihr Kamasutra». Daraus ergibt sich eine Arbeitsmaxime die für jeden Autor Geltung hat, der danach strebt, die «Fragmente einer Sprache der Liebe» aufzuzeichnen: «Der Text, den ihr schreibt, muß mir zeigen, daß er mich begehrt.»
Diese Sätze, markieren das Feld, das auch die Texte der Basler Autorin Birgit Kempker ausmessen, der von Affekten, Passionen, Obsessionen und Fetischismen aufgeladene Spannungsraum der Liebe und des Begehrens, die von den Zerreißproben der Lust aufgewühlte Landschaft der Sprache, der «Text der Lust». Im jüngsten Werk Birgit Kempkers, das als bibliophiles Lese-, Hör- und «Compact-Buch» bei Urs Engeler Editor erschienen ist, formiert sich der Text der Lust als wuchernde Verserzählung, als eine weitausgreifende lyrische Korrespondenz, in deren Verlauf ein Ich und ein Du ihre Phantasmen der Liebe austauschen.
«Ich will ein Buch mit dir» heißt der Titel des Werks, und es entfaltet sich darin eine heftige, um Liebe, Sehnsucht und Passion kreisende Sprachbewegung, wobei in die Briefgeschichte der zwei Liebenden immer wieder historische Liebesdiskurse eingeschleust werden. Die personalen, geschweige denn biographischen Konturen der Protagonisten sind dabei nicht auszumachen. In dem Text der Lust sprechen nicht nur zwei Liebende, er wird überlagert von anderen Texten des Begehrens: Hinein flüstern und zetern Stimmen auch anderer Liebender Ermahnungen erwünschter und unerwünschter Dritter - ein Maskentanz zwischen Kleist, Hamsun und Rilke hindurch, der immer wieder zu jenen Kempkerschen Liebesnarren aus der Gegenwart zurückführt. «Das ist unsere Aufgabe, uns lesen», sagt das Ich an einer Stelle, und so ist es nur konsequent, daß der Text mit einer «Legende» beginnt.
Die «Legende», die wir als erbauliche religiöse Erzählung kennen, kommt ja eigentlich von den mittellateinischen «legenda», wörtlich: von den zu lesenden Stücken. Die Liebenden lesen sich also gegenseitig, produzieren gemeinsam das Buch der Liebe. Was dann in den ersten Zeilen als «Legende» geboten wird, sind eigentlich nur Vers- und Satzköder, die, von der Autorin ausgelegt, als kleine geheimnisvolle Chiffren in den folgenden Text einführen. Jeder Satz der Legende kehrt im folgenden als Überschrift wieder, am Ende wird die Legende in umgekehrter Satz-Reihenfolge wiederholt: Der letzte Vers der Anfangs-Legende ist nun der erste, die «Legende» wird gleichsam von rückwärts her noch mal erzählt.
Birgit Kempkers Text spricht sich frei von allen formalen oder inhaltlichen Begrenzungen, evoziert in «atemlosen Spannungsbögen» das Wuchern des Begehrens und die Euphorien der Liebe, ohne jedoch in die Falle irgendeiner stereotypen Liebes-Ethik zu gehen. «Jede abgeschlossene Aussage», so heisst es bei Roland Barthes, «läuft Gefahr ideologisch zu sein.»
Birgit Kempkers Text der Lust und des Begehrens kennt aber nur Sätze und nichtlineare Geschichten mit offener Aussage. In ihrer antinarrativ angelegten Verserzählung sind gleichwohl kleine Erzählkerne verborgen; die Geschichte von Johann Nagel etwa, dem eigensinnigen Helden aus Hamsuns Roman «Mysterien», der als «Ausländer des Daseins» durchs Leben und durch die Liebe geht; oder die Geschichte der Schauspielerin Jean Seberg, die als junge Journalistin Patricia Franchini im gleichnamigen Film «ausser Atem» gerät. Oder die mit geheimnisvollen Fotos illustrierte Geschichte einer Kindheit, in der ein junges Mädchen Rose genannt wird und beinahe ertrinkt. «Schreiben», sagt Birgit Kempker, «ist ein Liebesversuch.» Das Maskenspiel ihres neuen literarischen Liebesversuchs irritiert, verstört, zertrümmert die Leseroutine - aber mobilisiert gerade dadurch «die Lust am Text».

(Basler Zeitung, Freitag, 28. November 1997, Nr. 278, Besprechung zu: Ich will ein Buch mit dir / Kein Fleisch. Stücke)