Alexander von Bormann

Über Norbert Hummelts «singtrieb»



Norbert Hummelt lebt, wie viele junge Autoren heutzutage, in Köln. Seine Gedichte haben einen ganz eigenen Ton und sind über ein Probierstadium längst hinaus. Schön, daß Urs Engeler ihm einen Band in seiner Compact-Buch-Reihe eingeräumt hat: Der O-Ton, das eigene Sprechen, verhilft den Texten zu einer ganz anderen Präsenz als die Buchstaben. Trotzdem behauptet auch hier das Selberlesen sein Recht, möchte man sich nicht alle Texte vom Autor entwenden lassen.
Das Buch ist sehr schön gestaltet, mit allerlei Abbildungen, interessantem Format und Satz (Gestaltung Marcel Schmid, Basel) - die CD denunziert nicht das Medium Buch, sondern ergänzt es. Die Texte werden auf ihr fast im Singsang vorgetragen, jedenfalls höchst gekonnt mit Musik verschränkt. Dafür zeichnet Christoph Clöser verantwortlich, der u.a. als Gründungsmitglied von Ugly Culture bekannt geworden ist: mit Bariton-, Tenor- und Sopransaxophon, mit Schlagzeug und Stimme; Hummelt selbst gibt noch die Triangel dazu. Vor allem seine eigenen Texte, die, wie gesagt, diese Aufmachung nicht nötig haben, sie aber gut vertragen.
Die Untertitel verbeugen sich weitgehend vor dem Eichendorffschen Motto aus dem Taugenichts: aus der ferne / in der fremde / diskontinuum / in der stille / die aussieht. Die Texte geben dieser Romantikanspielung kaum nach. «in der stillen Pracht / ... Flüstert's wie Träumen / Die ganze Nacht», heißt es bei Eichendorff. Bei Hummelt erscheint «die stille» eher als Bedrohung; sie macht Gefahren beziehungsweise Ängste hörbar, die sonst verdeckt sind: «was sind auf einmal für verdünnte stimmen / langgezogen in dem innenhof / was schrilles (panisches) kommt / in die abendstunde so nah herangeweht».
Die Erfahrungen der Gegenwart sind nicht dem romantischen Zwielicht verbunden, sondern großteils dem künstlichen Licht, das Außen und Innen fließend macht - «indifferente schattierungen», so daß die Elster aus dem «Parsifal»-Prolog herbeizitiert werden muß, um Schwarz und Weiß wieder zu scheiden, nicht zu «verhuschen».
Sehr viele Gedichte geben dem klassischen Jambus nach, auch wenn Hummelt das durch Zeilenbruch aufzulösen sucht. Die Reime haben sich oft taktvoll ins Innere der Zeilen zurückgezogen, sie spielen trotzdem eine bedeutende Rolle, teilen den Versen ein Melos mit, das häufig weiter reicht als die bloße Aussage: «hell u. klar» (Hummelt kürzt das und ab) wird dann zum Leitmotiv für «das noch junge jahr», auch wenn die Zeilen sich erst durch den Leser zusammenfinden müssen.
Die Bilder sind sparsam gesetzt/benutzt, halten zumeist ein ganzes Gedicht lang vor, ohne verschlissen zu werden. So arbeitet «spät im sommer» mit dem Eindruck: «mit licht durchschossener maschendrahtzaun». Daran lagern sich Bilder, die nachvollziehbar gehalten werden: «raster für eine fotografie», «schuttgelände». Auge-Gitter-Netzhaut, Vogelnetz.
Die Bildfolgen Hummelts sind so offen gebaut, daß er sich die Musik dazu leisten kann. Zugleich sind sie so intrikat und gebildet, daß sie eine lesende Versenkung gestatten. Der Maschendrahtzaun führt wie von allein auf das emblematische Bild des Vogels im Käfig, der nach mittelalterlicher Tradition die Seele im Körper meint.
Doch der Schluß geht über eine solche Anspielung hinaus, indem er sie in einen Konjunktiv setzt, der (die Belesenen) wiederum auf Eichendorff verweist («Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus»): «wie verletzlich / wäre auch der nur geahnte / vogel, flöge er / hin durch ein solches netz».
Doch muß man dem Mißverständnis wehren, es seien Gedichte für Unterrichtete. (Klar - je mehr man kennt, desto mehr Freude hat man beim Lesen, das ist immer so.) Viele Gedichte Hummelts arbeiten eine Geste aus (Schenkeldruck beim Reiten, den Abflug der Spatzen vom Fenstersims, ein verspanntes Liebespaar), mit Bildern und Vergleichen, die neu/unerhört und oft sehr komisch sind. Und auch mit seiner Formkunst (wohltuend präsent) leistet sich Hummelt hübsche Scherze, etwa wenn er den Kreuzreim, die Naturschrift, das Sonett, die «Winterreise» oder den Benn-Ton («nicht sehr beweglich im gestänge»: turnjunge) hochnimmt.
Das führt hier und da zu kalauerhaften Gesten, ist aber ein wohltuender Untergrund für jene etwas schrägen, ganz starken Texte am Ende des Bandes, die unterm sarkastisch-ironischen Titel «die aussicht» Innensichten eines zeitgenössischen Jugendlichen entwickeln: «zerstreute ichfigur», durch nichts als «schwund» gekennzeichnet, weit weg vom Bennschen Pathos der Selbstpreisgabe.
Auch die Reime geben nicht mehr viel her, sollen nur daran erinnern, daß man das mal konnte. Hummelt geht taktvoll/subtil auf die «Irren-Poesie» zurück (ohne sie, wie zum Beispiel Kipphardt, durch Nachahmung zu denunzieren): Fragmentarisches Reden, Ambivalenz der Zeilenbrüche/Übergänge, die Vergegenständlichung des Selbst und seine Behauptung im Zeugnis der Vergangenheit, das Stocken beim Wort «Gleise», das ein Ende der Rede/Person bezeichnet - es ist eine sehr anrührende zeitgenössische Version der «Winterreise», mit der Hummelts Band schließt.

(Besprechung aus den «horen» zu: singtrieb)