Samuel Moser

Maximal minimal
«In Hackensack» – vier Einakter von Jürg Laederach



In Jürg Laederachs vier Einaktern, gesammelt unter dem Titel «In Hackensack», geschieht nichts, weil alles, was geschehen kann, immer schon geschehen ist. Alle Katastrophen, aber auch die Heilungs- und Läuterungsversuche. Das unterscheidet sie von der klassischen Tragödie. Laederachs Stücke handeln davon, wie es weitergeht, wenn es weitergeht. Ihr Skelett ist die nackte Mechanik von Beziehungsmaschinen. Fleisch am Knochen wird nicht gezeigt. Aber man kann es sich denken. In «Kanner» liegen zwei Männer Kopf an Fuss auf einem Brett in innigster Getrenntheit. Nähe «scheint eine unter das Vergrösserungsglas geholte Ferne zu werden», sagt Sriver. Kanner wiederholt immer nur den Satz: «Du kümmerst mich kaum.» Sriver erinnert Kanner an seinen Weg in die psychiatrische Anstalt. Er ist selber Kanner, spiegelverkehrt. Unter dem Brett ein Bunsenbrenner. Es tropft sanduhrmässig; Kanner und Sriver verschmelzen. Ein Pfleger misst das «Liquidum». Kanner piesackt mit einem «Distanz-Überbrück-Tool» (ausklappbarer Arm «wie zum Apfelholen auf hohem Baum») einen Papagei, der nur den Satz wiederholt: «Du kümmerst mich kaum.» Kurz vor Schluss noch ein letztes Aufflammen Kanners, er kotzt Sriver die Geschichte, die dieser hören wollte und schon wusste.

Komische Substanz

In «Wir nehmen Lift» fährt ein Lift munter rauf und runter, ab und zu steigt jemand ein oder aus, ein älteres Paar, zwei achtzig Zentimeter hohe Knaben, ein Mann, der einen Sarg an einer Schnur zieht, später ein zweiter, dann Handwerker, weil der Lift «verschraubt» wird. Oder ein Orang-Utan, das ginge ja noch. Aber wie bringt man «zehn Fliegen» in einen Lift? Die Personen sind austauschbar. Wer den Lift betritt, heisst «Noanoa». Sie definieren sich über das, was sie sagen, aber sie haben nichts zu sagen, die Eintretenden hängen sich an die Sätze der Aussteigenden. Draussen bleibt der Zuschauer, verwirrt ob dem Satz-Paternoster und seiner eigenen Demenz, wenn ihm die vorbeigelifteten Themenfetzen (Kühlschränke und Immobilien und Familien und Familien in Kühlschränken und Städtebau und männliche Sexualität und Salzburg und die Sexualität in Salzburg usw.) wie alte Bekannte vorkommen, deren Namen er vergessen hat. Hier zeigt sich die komische Substanz von Laederachs traurigen Stücken.

Man könnte Laederach für einen halten, der das Theater an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen will – wäre er nicht selber der Erste, der seine Einfälle unterläuft. Was soll ein Regisseur anfangen mit der Anweisung «Kanada»? Nichts! Nur keine Einfälle! Laederachs Stücke sind «minimal» wie die, die er 1981 unter dem noch geradezu mystischen Titel «Das fahle Ende kleiner Begierden» herausgegeben hatte. Sie sind nur noch minimaler, d. h., sie handeln noch maximaler vom Verschwinden. Eine andere Regieanweisung lautet: «hinübergehend, Welt verlassend». Verzweifelt heiter kommt das im Künstlerporträt «Mister Thelonious» daher. Thelonious ist noch, aber nicht mehr der Monk, sondern ein in den Fängen von Ehefrau, Schwiegermutter und Butterfragen aufgeweichter Hausmann. Wenn er die Fernsteuerung bedient, fällt das Frühstücksei ins kochende Wasser, und das Klavier spielt einen Akkord – nicht seinen, sondern den der Ehefrau, der Etüden übenden, Eiterbeutel werfenden, Nellie. Das Leben siegt immer.

Mit seinem «Ich als Thelonious» bleibt Thelonious aber in siamesischer Verbundenheit. Der nervöse Gang zwischen Tisch und Klavier ist das Produkt seiner zwei Lappen im Hirn. Seine «Schmerzmusik» ist zum Mundwerk mutiertes Handwerk: «In der Daumenperiode zum Anschlag auf die schwarzen einen gebogenen Daumen hochkant wie eine Tropenholz-Unterholz-Beilschneide fallen lassen . . .» Wörter und Sätze sind in Laederachs Stücken die Protagonisten, die Sprecher ihre stummen Antagonisten. Mister Thelonious' Äusserungen sind «Innerungen», mit denen er sich von sich in die Biografielosigkeit verabschiedet. Andere Figuren machen den Mund gar nicht auf.

Minimaler Agententhriller

Noch aufdringlicher als Thelonious' Frau Nellie schweigt der unfassbare Al Codge in «Codge's Phase». Codge's Phase ist die Verschiebung. Zwei, drei oder mehrere «MAN» warten auf ihn zur Vertragsunterzeichnung. Codge kommt nicht oder ist schon wieder weg oder ist immer schon da. Wenn MAN ihm die Hand drücken will, greift MAN durch ihn hindurch. Das ist der minimale, nackte Agententhriller: ein Flughafen, ein Koffer, eine Organisation, ein paar nervöse Typen. Nur nicht mehr Einfälle, bitte!

Laederach, zuletzt hervorgetreten mit der Übersetzung des unübersetzbaren Buches «Alphabetical Africa» des Amerikaners Walter Abish, ist kein Übersetzer seiner selbst. «Erklärungen, so erkläre ich, werten ab», sagt Mister Thelonious. In diesen Stücken sind die Dinge, wie sie sind. Wer in «Hackensack» wohnt, wohnt in einem Wort, das nichts anderes meint, als was es meint: das nackte Grauen. Grund zur Aufregung gibt in Laederachs Stücken nichts. Auch die Regieanweisung «Kanada» bedeutet nichts anderes als: «Schnee. Hohe Kälte. Kahles Land». Daneben bezeichnet es im Stück noch die kurzen Pausen. An solche Verschiebungen sollten wir eigentlich gewöhnt sein. Und Hackensack ist übrigens eine Stadt in Amerika.

(Neue Zürcher Zeitung, 13. Dezember 2003)


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