Martin Zingg

Poetische Rückschau
Felix Philipp Ingold trägt in Gegengabe ein Vermächtnis zusammen


Wenn es bei Büchern so etwas gibt wie «zarte Wucht», so ist sie hier mit Händen zu greifen: Über 700 Seiten zählt dieses Buch, mit einem grosszügigen Satzspiegel und in einer angenehmen, lesefreundlichen Gestaltung, zu der selbst zwei Lesebändchen gehören. «Gegengabe» ist ein Schwergewicht, wenn das Werk auf der Hand liegt, gewichtig ist es aber ebenso mit all dem, was es zwischen seinen Deckeln versammelt. In seinem jüngsten Buch trägt Felix Philipp Ingold Texte aus «kritischen, poetischen und privaten Feldern» zusammen, in einer kühnen und beeindruckenden Mischung. Präsentiert werden die Texte auf mehreren Etagen, die sich beim Lesen unvermittelt und dennoch mühelos miteinander verbinden: Essays, poetologische Notizen, Lektüreberichte, Skizzen, Porträts, Lesefrüchte, kritische Anmerkungen zu literarischen Werken - und dazwischen immer wieder kleine, sehr persönliche und sympathische Beobachtungen und Erinnerungen.

Alltagsbeobachtungen

Wunderbar etwa ist jene Notiz über ein älteres Ehepaar, aus dessen Wohnung der Autor in regelmässigen Abständen Schreie vernimmt, die er sich nicht erklären kann. Bis sich eines Tages herausstellt, vor den Auslagen eines Bücherbasars der Heilsarmee, dass der alte Herr seiner Frau zweimal täglich aus Diderots «Das Paradox des Schauspielers» vorliest, immer wieder und stets mit Inbrunst. Der alte Herr mag das Buch einfach, und eben hat er in der Bücherkiste ein weiteres Exemplar gefunden, er hat schon viele ...

Kleine Alltagsbeobachtungen wie diese finden sich einige. Dazwischen Gedichte, eigene und fremde, übersetzte: Gedichte von René Char, von Joseph Brodsky, Marina Zwetajewa und vielen anderen. Daneben kurze Berichte von den täglichen Spaziergängen in der nahen Umgebung. Oder Traumerzählungen, bizarre Geschichten, die Vertrautes und Unvertrautes in einer überraschenden Ordnung als kompakte und opake Einheit inszenieren. In anderen Texten wiederum formuliert Ingold Erinnerungen an Menschen, die ihn etwas gelehrt haben und denen er etwas verdankt. Walter Widmer etwa, dem Lehrer und ungeheuer produktiven Übersetzer und Vermittler, gilt eine freundliche Hommage. Ein anderes Mal ist die Rede von einem russischen Linguisten, der zu den wissenschaftlichen Betreuern von Ingold zählte, als dieser in den sechziger Jahren in Moskau studierte. In der Erinnerung bleibt Boris Gornung ein distanzierter Mensch, und erst viel später wird der Autor erfahren, dass sein Lehrer ein enger Vertrauter Ossip Mandelstams war und selber auch schrieb; das vorsichtig-respektvolle Gedenkblatt schliesst mit der Übersetzung eines Gedichts von Gornung.

Man kann sich genussvoll verlieren in den zahllosen Anmerkungen und Beobachtungen, die bald als ausgewachsene Aufsätze daherkommen, bald als knappe, aphoristische Bemerkungen. Von Ludwig Hohl ist die Rede, von Maurice Blanchot, André Thomkins, Julien Gracq, Elias Canetti, Ilse Aichinger, Franz Kafka, stets in einer konzisen, federnden Sprache, die keine endgültigen Urteile sucht, sich aber nicht scheut vor dezidierter Kritik oder Distanzierung.

Vieles wird hier auf den Prüfstand gehoben. Redensarten, vermeintlich genaue Erinnerungen, vor allem Erinnerungen an Begegnungen, die lange zurückliegen. Bisweilen trifft der Autor nach Jahren wieder einen alten Bekannten - reiner Zufall und eine gute Gelegenheit, am Gegenüber das Eigene noch einmal zu reflektieren. Natürlich werden auch einige schreibende Kollegen kritisch unter die Lupe genommen, so Peter Handke mit seinen Notizen. Andere Aufsätze münden in Lektüreempfehlungen, etwa im Fall von Peter Waterhouse' Buch «(Krieg und Welt)». Oder der Autor gerät in Begeisterung über den Aphoristiker Friedrich Hebbel: «Brillant der Stil, staunenswert präzis die sinnliche Wahrnehmung, produktives, fast immer an Detailfragen orientiertes Denken. [-] er empfiehlt mir, mich für ein Experiment der Natur zu halten - was ungemein entlastend wirkt und selbst eine Krankheitserfahrung interessant machen kann.»

Reiche Ernte eines Zeitgenossen

«Gegengabe» präsentiert die reiche Ernte eines unablässig lesenden und reflektierenden und beides geniessenden Zeitgenossen, der die Früchte seiner drei Felder auf einem einzigen, ziemlich grossen Tisch präsentiert. Einige Texte in diesem Band wird man bereits gelesen haben, noch gebunden an einen aktuellen Anlass, den sie im Kontext dieser Publikation nun mühelos abstreifen. Und natürlich kommt Ingold, der längst auf ein riesiges Werk zurückblicken kann, auch auf einige Themen und Thesen zurück, die er schon anderswo entwickelt hat, etwa im Zusammenhang mit dem Übersetzen - aber immer wieder überrascht er, so mit seinen Anmerkungen zu Nach- und Neuübersetzungen. Und zu entdecken ist schliesslich, mit einer Auswahl seiner Bilder, der Fotograf Ingold: eine weitere Überraschung in diesem opulenten Band.

(Neue Zürcher Zeitung, 13. August 2009)