Martin Zingg

«Diesem mit stummem Mut Stimme seid»
Anton Bruhins Palindrom-Gedichte




Spiegelgleiche Wörter wie «Otto» oder «aha» sind die einfachsten und bekanntesten Beispiele für Palindrome: für jene Laut- oder Wortfolgen, die vor- und rückwärts gelesen werden können, wobei die Bedeutung wechseln oder gleich bleiben kann. Unter den Spielformen der Poesie ist das Palindrom, auch «Krebsgedicht» genannt, die Königsdisziplin. Wer exakt symmetrische Texte schreibt und folglich mit äusserst strengen Vorgaben arbeitet, hat mit sprachinternen Hindernissen zu kämpfen und muss verfestigte Strukturen aufbrechen. Palindrome, das ist das Faszinierende, zeigen schon im Kleinen, wie schnell es in der Sprache um Identität und Differenz gehen kann.

Fürs Palindromieren scheidet allerdings ein grosser Teil des Wortschatzes aus, zumindest in der deutschen Sprache, denn mit ihren langen Wörtern und Konsonantenklumpen ist diese weniger ge-eignet als etwa das Französische. Das heisst auch: deutschsprachige Palindromisten sind selten. Einer von ihnen ist der in Schübelbach lebende Musiker, Maler und Autor Anton Bruhin. Der begnadete Sprachkünstler hat zwischen den beiden «Palindromjahren» 1991 und 2002 eine Fülle von «Rückläufern» geschrieben. Sein eben erschienener Band heisst «Spiegelgedichte» und ist eine Einladung zu grossem Lesevergnügen.

Den Band eröffnen kurze, einzeilige Palindrome: «Orgellaenge gebe Ton, Note begegne Allegro.» Oder: «Sage du zu Degas.» Oder: «Hermelin-Estimiererei mit senilem Reh.» Das sind lauter Fund-sachen, auf die nur stossen kann, wer die Sprache unablässig abklappert nach Möglichkeiten einer doppelten Lesbarkeit. «Betone Note B.» - das muss, so knapp es ist, auch erst mal gesehen oder gehört, jedenfalls gefunden werden. Als eine noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeit der Sprache und damit als ein Hinweis auf ihren phantastischen semantischen Reichtum.

Im Band werden die Sentenzen bald schon abgelöst von Mehrzeilern. «Nicht mehr modern» heisst ein vierzeiliges Palindrom: «Träg tat kalt er./ Kessel Heu, keine Gefuehle dank Nadel./ Heu fege nie kuehles Sekret./ Laktat gärt.» Und unter «Drei Grazien» steht: «Leda naesse Ufer. / Ehe ohne Beisein, / nass am Ei. / Sie badet Eugenie. // Meine Guete! / Dabei sie mass Annie: / Sieben hoehere / Fuesse an Adel.» «Ehe ohne Beisein, nass am Ei»? Da lauern natürlich Abgründe ...

Dass solche Texte, milde gesprochen, zuweilen etwas Seltsames und zugleich Unumstössliches haben, liegt natürlich auch an der selbstauferlegten Spielregel, denn die zweifache Lesbarkeit determiniert Wortwahl und Syntax auf höchst rigide Weise. So bringt es der Wechsel zwischen progressiver und regressiver Leserichtung beispielsweise mit sich, dass ein unverzichtbares «ein» in der Symmetrie noch leicht zum strengen «nie» werden kann, wenn es nicht in ein anderes Wort integriert wird. Hinzu kommt, dass der Imperativ nicht selten der einzige Modus ist, in dem, wenigstens in diesem Kontext, gewisse Verben überhaupt auftreten können. Und dennoch: Das enge Korsett nimmt Bruhins Versen nicht die Luft, im Gegenteil. Trotz (oder gerade wegen) ihrer strengen Buchstäblichkeit können seine Palindrome verblüffende Sinneffekte freisetzen; sie wollen uns nichts «sagen», was sich auch anders sagen liesse, und darin besteht ihr Charme. Sie laden ein zur Sinnfindung, sie stellen Wörter und Sätze in ein anderes, gänzlich ungewohntes Licht und stiften damit Aussagen, die letztlich immer wieder mit einem Seitenblick auf die Launen der Sprache verweisen.

Beim sprachlichen Kreisverkehr lässt Bruhin es nicht bewenden.
Die Wendelesbarkeit versetzt er mit weiteren lyrischen Mitteln, er spielt mit Alliterationen, mit A-naphern, mit Reimen, er riskiert Metaphern. Er baut damit, technisch gesprochen, eine Fülle von weiteren Hürden ein – und verknüpft diese mit einem weitgespannten Fächer von Themen und Mo-tiven. Auch dabei werden natürlich überraschende, oft aberwitzige Wahrheiten formuliert, funda-mentale Erkenntnisse, die es ausserhalb dieser Palindrome nicht gibt und auch gar nicht geben kann. «Granit tagt im Nebel, Otto, gib nun Ball ab!», das steht am Anfang eines sechszeiligen Gedichtes. Natürlich kann man nur zustimmen, man tut es gerne.

Der Band wird gegen Ende immer vertrackter, immer verspielter: mit den über tausend Zeilen zu «Purismus mit Sirup», die sich zu einer Art Palindrom-Säule türmen. Hier ist «Sirup» auf jeder Zeile das letzte Wort und diktiert sozusagen von hinten her, was davor stehen kann. Ein grossartiges Textmassiv. Und ganz zuletzt wird Bruhin gar «palindramatisch», mit einer Litanei für einen viel-stimmigen Chor. «Legitimiere mit Igel», heisst dieser Dialog, er endet mit einer Anrufung der fünf Vokale, beim Rohstoff gleichsam, hinter den man nicht gehen und den man nicht hintergehen kann.
Den köstlichen Band mit seinen Sprachfeuerwerken, um mit einem seiner «Rückläufer» zu schliessen, «git’s neu, guenstig!»
(Neue Zürcher Zeitung, 30. Dezember 2003)


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