Andrea Zanzotto / Giuseppe Bevilacqua

Gespräch über Hölderlin



Mai 2000

- Wir wollen zusammen deine Beziehung zum Werk und zur Person Friedrich Hölderlins beleuchten, ein interessantes, auch heikles Thema, das dich sehr direkt betrifft. Ich möchte mit einer - in gewissem Sinne äußerlichen - Frage beginnen: Erinnerst du dich an deine erste Begegnung mit dem Werk Hölderlins?

- Ja, es war, als ich an der Universität zu studieren begann. Ich war siebzehn, kam von meinem Dorf nach Padua, wo kulturell sehr viel im Gange war. Ein Freund verschaffte mir eine alte Ausgabe von Hölderlin (noch mit gotischen Lettern) und versicherte mir, ich würde einen der ganz großen Dichter kennenlernen. Ich begann also zu lesen mit dem bißchen Deutsch, das mir zu Gebote stand. Zu der Zeit praktizierte ich übrigens die hohe Kunst der Heimwerkelei mit verschiedenen Sprachen, die ich mir außerhalb der universitären Studienpläne anzueignen versuchte. Die Begegnung mit Hölderlin war an Intensität der mit Rimbaud vergleichbar und hat ungefähr zur selben Zeit stattgefunden.

- Ja, diese Beziehung verstehe ich gut, mir ist es ähnlich ergangen, Rimbaud - Hölderlin, interessant diese Sache. Du hast dann natürlich nicht aufgehört, Hölderlin zu lesen?

- Ja, ihn zu lesen und zu vertiefen; ich habe versucht, wirklich zu verstehen, was mich so zwingend anzog. Nach kurzer Zeit bin ich dann natürlich auf die ersten Übersetzungen gestoßen, die von Vincenzo Errante etwa ...

- Ja, das war eine umfangreiche Übersetzung ...

- Ja, aber ich hatte sie zuvor noch nie gesehen; die nahm ich zur Hilfe, aber ich versuchte den Text auch im Original anzugehen, als Übung sozusagen. Ich nährte noch die Illusion, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen!

- Wie wir alle!

- Ich bin dann leider über eine Annäherung nicht hinausgekommen. Es gab also eine ganze Reihe von Dichtern, die ich auswendig lernte. Ich verschaffte mir eine Art poetischer Nahrung in verschiedenen Sprachen, und schon bald nahm Hölderlin eine Vorrangstellung ein. Übrigens sind alle meine Lektüren immer ein wenig zufällig gewesen, außerhalb gängiger Programme. Ich habe mich nie daran gemacht, Hölderlin systematisch zu lesen, obwohl ich alles mir verfügbare gelesen habe. Ich habe es vorgezogen, mich auf Begegnungen einzulassen.

- Ja, das ist, glaube ich, auch für andere eine Leseregel, vor allem für Dichter: ein Lesen wie aus dem Stegreif, ausgehend von Anregungen, die mit der eigenen Entwicklung zu tun haben, mit den eigenen Überlegungen, der eigenen dichterischen Suche, das aber nicht einer systematischen Absicht gehorcht, wie dies eher bei einem Literaturwissenschaftler der Fall ist.

- Ja, für mich kam noch hinzu, daß ich auf der Suche war nach Lektüre, mit der ich mich selbst identifizieren konnte. Keiner hatte wie Hölderlin Gedichte geschrieben, die mir halfen, zu mir selbst zu finden! Ich denke da vor allem an einen Abschnitt, der mich von Anfang an in Bann schlug und den ich aufbewahre, auch in einer Übersetzung. Das Übersetzen des Abschnitts war mir eine Übung der Selbstfindung, denn es war genau dieselbe Lebenserfahrung, die auch ich gemacht hatte: "Da ich ein Knabe war, / rettetein Gott mich oft / vom Geschrei und der Rute der Menschen, /da spielt' ich sicher und gut / mit den Blumen des Hains, / und die Lüftchen des Himmels spielten mit mir.

- Großartig, großartig!

- Das ist der Abschnitt, den ich übersetzt habe: "Quando un pargolo io era sovente dal frastuono degli uomini in salvo un Dio mi trasse / giocavo allor sicuro e buono tra i f iori del bosco e le nuvolette del cielo con me giocavano / e come tu delle piante il cuore allieti quando verso di te rami teneri tendono, / cos! il mio cuore allietasti / Elio mio padre e come Eudimione / ero il tuo favorito, o Santa luna! / 0 voi tutti cari / amici, Dei, / o come conosceste Voi, / come vi predilesse l«animo mio."

- Ja, sicher, diese Phase der Dichtung Hölderlins war dir in deinen ersten Arbeiten sehr nahe. Wenn ich mich recht entsinne, trägt der zweite Teil von Dietro il paesaggio ein Motto von Hölderlin: "Ihr teuren Ufer, die mich erzogen einst". Ist dem so?

- Ja genau so.

- Die Ufer, der Fluß, die Hügel: das ist im Grunde auch deine Landschaft in Soligo und hat auch eine gewisse äußere Affinität mit dem Schwaben Hölderlins.

- Das könnte ich bejahen, insofern, als die Grundkoordinaten gegeben waren - wobei ich das jetzt nicht über alle Stufen der Veränderung hinweg behaupten könnte. Die Möglichkeit, mich auf wenige Schritte Entfernung in einem ziemlich dichten Wald hinter dem Dorf wiederzufinden, war mir eine wirkliche Notwendigkeit. Denn ich war allein, fühlte mich nicht sehr verstanden, weder zu Hause noch außer Haus, stand, wie er, unter dem Druck psychologischer Faktoren, auch erster Frustrationen in der Liebe, durchlebte ersten Liebeskummer oder ähnliches ...

- Ja, irgendwo hast du geschrieben, "meine Kindheit war reich, wenn auch nicht glücklich".

- So ist es: reich an Emotionen, reich an Dingen aller Art, auch bezüglich der Sprachen; Bruchstücke eines minimalen Deutsch bekam ich von meiner Großmutter mit, die Dienstmädchen einer österreichischen Prinzessin in Wien gewesen war, die in Wirklichkeit Italienerin war, - eine Collalto.

- Der kaiserliche Adel der Collalto.

- Ja, der kaiserliche Adel. Und als ich klein, noch sehr klein war, hatte sie mir schon eine ganze Reihe Wörter beigebracht, die ich lernen sollte, auch das l,Röslein, Röslein, Röslein roV von Goethe. Und gleichzeitig gab es das Französische, das sich in der Familie breit machte, weil ...

- Dein Vater in Frankreich oder in der Schweiz gearbeitet hat

- Ja, in Frankreich. Zunächst war er Emigrant in Österreich und dann, nach dem Ersten Weltkrieg, hat er wegen seines Antifaschismus mehrere Male nach Frankreich emigrieren müssen und ist schließlich in der Gegend von Bordeaux gelandet. Es gab also auch Nachklänge dieser Art, was Hölderlins furchtbare, großartige Reise durch Frankreich anbelangt, die ich mit großer geistiger Anteilnahme nachempfunden habe, weil da dieses Streben nach einem Unendlichen zum Ausdruck kam, das ihm verwehrt war in Deutschland und das auch mir zum Teil versagt blieb in meiner sehr verschlossenen Kindheit. Und dann auch noch die Tatsache, daß Hölderlin, wenn nicht ein wirklicher Jakobiner, so doch ein Krypto- Jakobiner war.

- Ja, er ist Jakobiner geworden. Während der Jahre im Stift war er erklärter Jakobiner, er hat den Freiheitsbaum aufstellen helfen ...

- Und hat dann diesen Drang hin zur Französischen Revolution, hin zu einer sozialen Erneuerung, die dann doch nicht stattgefunden hat, bewahrt, und die Identifikation lief auch über das Andenken dieser Faktoren.

- Gewiß. Du hast mich neulich auf das Werk Bertaux's hingewiesen, der ja die jakobinische Seite von Hölderlin stark hervorgehoben hat.

- Ja, so sehr, daß er übertrieben hat ...

- Übertrieben insofern, als er die leider reale Verrücktheit Hölderlins als eine Maskierung versteht.

- Das läßt sich aber nicht halten, dieser These hat sich niemand angeschlossen.

- Ja, trotzdem sieht man es auch gerne in der Form, denn es scheint unmöglich, daß ein Mensch, der zerstört ist,wie er es war, aus sehr schwerwiegenden Gründen: denn Diotima und die Katastrophe Diotimas, jener Austausch von Depression zwischen den beiden, jenes sich der Entsagung Beugen, die von oben kam, das ist ein Teufelskreis geworden. Sie ist gestorben, und er ist ihr - obwohl nicht sterbend - in den Tod gefolgt. Eben deshalb kam mir sehr oft, wenn ich an Hölderlin dachte und an seine Verrücktheit, die nicht ganz Verrücktheit ist, möglicherweise aber mehr als Verrücktheit, die Situation in den Sinn, die Dante zum Ausdruck gebracht hat - endgültig und göttlich, wie er das zu sagen verstand - in dem, was einer empfindet, wenn er dem Satan begegnet: jo non morii e non rimasi vivo" (Ich starb nicht und blieb nicht am Leben; Dante, Divina Commedia, Inferno, Canto XXXIV, 25). Für mich befand sich Hölderlin in genau diesem Zustand.

- Ja, die Krise, die nach seiner Rückkehr aus Bordeaux beginnt, 1802, als er vom Tod Diotimas erfährt und sich nach Nürtingen flüchtet, ins Haus der Mutter, was eine der Überwindung jener Krise sicherlich nicht zuträgliche Situation schafft..

- Ja, aber das war ja noch nicht alles. Im progressiven Zerfall der mentalen Fähigkeiten bringt sich die Zwangslange seines von allen Seiten her blockierten psychologischen Zustandes zum Ausdruck. Zur politischen Krise kommt die psychologische und die seiner Liebe. Das ist eine Situation, die uns in die Nähe von Ugo Foscolo bringt.

- Daran möchte ich gerne mit einer Frage anknüpfen: Du hast über Ugo Foscolo sehr schöne Aufsätze geschrieben. Wenn ich nicht irre, hast du in deinem Beitrag zum Foscolo-Kongress 1978 in Venedig einen Bezug hergestellt zwischen Alte Grazie von Ugo Foscolo - einer unvollendet gebliebenen Arbeit - und den Fragen, mit denen sich Hölderlin auseinandersetzt in seinem Streben nach dem Klassischen, das jedoch von Rissen durchzogen ist, geschichtlichen, persönlichen etc.

- Ja, ich könnte dem einige Nebenverzweigungen hinzufügen, denn in der Krise Foscolos spiegelt sich auch und vor allem die italienische Situation, wie in der Hölderlins die deutsche - vor allem und in besonderer Weise. Es gibt auch einen anthropologischen Interpretationswert, den man anführen könnte. Im Falle Italiens ist das zum Beispiel die Drohung der toten Väter, die unablässig drängen, wiederzuerstehen; es gibt immer ein "ri-sorgimento" (Wiedererstehen), ein "rinascimento" (Wiedergeburt), ein Wieder-Irgendetwas. Die Wahrheit verbleibt also in der Vergangenheit und die Gegenwart ist von einem unerreichbaren Etwas entstellt. In der Tat verschwindet Foscolo denn auch fast als Italiener, denn er wird ein english gentleman.

- Diese letztliche Flucht Foscolos ist etwas anderes, aber irgendwie scheint sie gestisch der Flucht verwandt, die Hölderlin durch seine psychische Zerrüttung erreicht.

- Ja, und im übrigen ist da Hyperion, der uns in griechische Gefilde führt mit all den Fragen des Krieges usw. und wie Foscolo eben: "Dixio non andö sempre fuggendo, ma nell'Ettaneso non ä mai tornato."

- Man hat von Foscolo als einem "Foscolo veneto-ellenico" gesprochen. Könnte man also von einem schwäbisch- hellenischen Hölderlin sprechen?

- Ja, sicher. Ein Vergleich ist möglich, wobei das, was die Italianität Foscolos ist beziehungsweise das Deutschtum Hölderlins, sich in unglaublichen Paradoxien darstellt. Auf der einen Seite können sie in eine metaphysische Ferne hinübergleiten, auf der anderen aber auch Grund geben zu Mißverständnissen; ich denke da an die exzessive Verbundenheit mit dem Boden, wenn nicht gar mit dem Blut. Wir hören, wie Hölderlin selbst sich in bestimmten Momenten tadelt wegen seiner und der Deutschen Verbundenheit mit der Erde, die er für .übertrieben hielt; mit dieser Mutter Erde, die ihm und auch den Deutschen obskur war, denn sie mußte ja noch reden, suchte noch nach einer eigenen Vergangenheit, auf die sie sich stützen, aus der sie Kraft schöpfen konnte. Wir sind also in einer antithetischen, aber gleichen Situation. Wir, in Italien, zu viele Väter, Deutschland, wenige Väter. Aber schließlich hatte es ja das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gegeben, aber es paßte und stimmte nicht, es war eindeutig ein von außen auferlegtes Gebot. Daher die Griechen, daher die Wahl Griechenlands zum Vaterland. Wir in Italien hatten im übrigen das besondere Glück, immer große Bildhauer zu haben, und Canova ist einer von ihnen. Canova betritt die Szene mit seiner ganzen, unglaublichen Stärke. Foscolo hat Canova die "Grazien" gewidmet, er hat sie nicht zu Ende gebracht, aber Canova hat herrliche Figuren daraus entwickelt. An der Figur George Washington kam er nicht weiter, die hat er nicht machen können, da war eben das Bürgertum, das nachkam, und die alte Welt der Aristokratie war nicht mehr.
Und wiederum aufgrund dieser Stärke und dieser Verschiedenheit der Situationen Hölderlins Stellung in diesem Kommen und Gehen zwischen Orient und Okzident, die Bezugnahme auch auf die Welt Indiens, dieses Sich-Bewegen von Gottheiten, die schließlich die Alpen überschreiten, aber von Orient her kommend.

- Ja, diese Bezüge sind da, in Germanien zum Beispiel.

- Ja, das ist da. Es ist übrigens in dieser Hinsicht besonders schön und wäre besonders jetzt zu nutzen, da Deutschland in einer Phase der Transformation, der Besserung vielleicht zu sein scheint, aber auch noch mit Rückständen, die in den Alpengegenden, den "Sicher gebaueten Alpen" an den Tag kommen.

- Du zitierst diesen Passus in einem Gedicht.

- Ja, denn diese Alpen vermitteln das Gefühl von einem Ort, an dem Götter entstehen können, aber auch gefährliche Halluzinationen, wie wir vor kurzem erst gesehen haben. Jedenfalls gab es für die orientalischen Reiche eine nie unterbrochene Kontinuität: Indien und China sind unverändert da seit wer weiß wie lange, mit ihren Göttern und ihrem Boden. Die Stärke des Denkens, der Hymnen und überhaupt der Dichtung Hölderlins liegt darin, daß er immer versucht hat, die Gesamtheit der deutschen Lage mit hineinzunehmen, bis hin zu dem Vers Ju, Germania, inerme insegni" (Germania, wo du Priesterin bist / und wehrlos Rath giebst rings /den Königen und den Völkern.) - eben dank der Großen, die sie weiterhin hervorgebracht hat. Interessant jenes wehrlos', weil er es sagt nicht wie etwas Schlechtes, sondern im Gegenteil etwas substantiell Schönes, auch wenn er andere Male den Überschuß an Phantasie zensiert mit einem Mangel an Tun der Deutschen.

- Was du jetzt sagst, läßt mich an Heideggers Aufsatz von 1936 denken, der den Brief Hölderlins an die Mutter zitiert, in welchem es heißt, die Poesie sei das ,unschuldigste aller Geschäfte", das unschuldigste aller Dinge, dieses "wehrlos" koinzidiert ...

- Ja, es koinzidiert mit der wahren Kraft, die für Hölderlin eben - man müßte es mit dem Terminus,energia o energeria' benennen, nicht Natur, nicht Materie, - etwas, das in sich eine ungeheure Ladung auch von Energie hat: Die Erde, der Boden schafft heraus, unablässig.

- Ja, er hat den Terminus "aorgisch" gebraucht, nicht wahr?

- Ja, was genau dieses Gefühl ausdrückt des Drängens nach einer Selbstidentifikation der Dunkelheit in der Erde, des Drängens nach Zonen also, in denen gegensätzliche Faktoren, auf die man zum Teil verzichten müßte, was man aber nicht kann, gleichzeitig gegeben sind. Immer gegenwärtig die Möglichkeit eines Selbst-Widerspruchs. Aber der eigentliche Übergang, als Hölderlin zurückkehrt und allmählich die Kontrolle zu verlieren beginnt; ich habe Schreckliches gelesen über die psychiatrischen Behandlungsmethoden...

- Gewiß, aber es wäre unhistorisch, die heutigen Behandlungen mit denen von früher zu vergleichen. Dieser Doktor Autenrieth, der Hölderlin damals behandelt hat, war zu seiner Zeit ein angesehener Spezialist. Es ist also schwierig, sein Vorgehen für gut zu halten, und andersherum ist es auch falsch...

- Es zu dämonisieren.

- Ja, aber ich denke, auf diesem Gebiet der Psychiatrie hätte Hölderlin noch viel zu sagen. Ich würde seinen Fall zum Pflichtstudium für Psychiater machen.

- Ja, weil die Behandlung von Autenrieth in gewißem Sinn den Elektroschock vorwegnimmt.

- Genau, der springende Punkt dabei ist, daß die Polemik um den Elektroschock noch immer aktuell ist.

- Ja, sie ist noch immer offen, und man weiß nicht einmal, ob man sie überhaupt abschließen kann. Im angelsächsischen Raum wird noch immer reichlich davon Gebrauch gemacht. Jedenfalls, dieser Schatten der Verweigerung, der mit den undenklichsten Mitteln bekämpft wird... das war schließlich die Zeit am Ausgang des 18. Jahrhunderts, die Zeit Hahnemanns, der die homöopathische Medizin begründet im Gegensatz zur allopathischen, und der theoretischen Darlegungen Hahnemanns, die mir reinstes Delirium zu sein scheinen.

- Und der romantischen Medizin...

- Wer weiß, wie sich manchmal etwas auswirkt. Der springende Punkt ist der Übergang zur eigentlichen Krankheit, und dieses Aufscheinen des Mysteriums dieses Zusammenbruchs, der ja kein wirklicher Zusammenbruch ist. Ich weiß jetzt nicht, ob es neuere Studien gibt, aber mir scheint, Hölderlin sei vor einigen Jahren ins Interesse der Psychiatrie geraten, mit einer Untersuchung, in der jemand...

- Es gibt umfangreiche Literatur über die psychische Krankheit Hölderlins. Allgemein wird angenommen, daß es sich um eine Form von Schizophrenie handelte, aber du weißt, daß Schizophrenie ein weitläufiger Begriff ist und ein sehr verzweigtes Erscheinungsbild aufweist. Hölderlin näherte sich der Krankheit schrittweise; man nimmt an, daß sie auch hätte aufgehalten werden können, wenn ausgleichende Faktoren auch seiner äußeren Lebensumstände aufgetreten wären, die es aber leider nicht gab.

- Ja, das stimmt, die Psychiatrie hat sich für Hölderlin in einem allgemein psychiatrischen Sinn interessiert, aber meines Wissens gibt es keine vertiefte Studie, wie Binswanger sie gemacht hat über...

- Psychopathologie eher als Psychiatrie...

- Ja, genau, Psychopathologie, wobei er für diesen Fall gültige Angaben daraus gezogen hat, die aber auch gültig sind für andere. Denn Schizophrenie sagt alles und nichts. Es sei denn, wir nähmen das amerikanische DSM3 und das DSM4, dort haben sie eine Reihe von Symptomen, von denen es heißt, es sei Schizophrenie. Aber das ist das genaue Gegenteil von dem, was ein Fall wie dieser notwendig machte, denn die Geisteskrankheit von Tasso ist nicht die von Hölderlin. In dem Sinne, daß über die Äußerungen der Persönlichkeitsspaltung sich in solchen außergewöhnlichen, großen Fällen auch ungeheuer tiefe Schichten des menschlichen - und auch des kollektiven - Unbewußten manifestieren.
Da kommen wir dem Moment näher, in dem auch ich leider eine ganze Reihe wenig schöner psychischer, vielleicht wäre es besser zu sagen: depressiver Erscheinungen hatte. In dieser Zeit schenkte ich Hölderlin besondere Beachtung. Ohne eine kontinuierliche Lektüre aus den Augen zu verlieren, um eine realistische Vorstellung zu haben von dem, was er im Grunde hätte sein wollen, näherte ich mich doch mehr dem an, was er eigentlich war und nicht hätte sein wollen, durch diese Krankheit, was aber dann vielleicht ganz plötzlich in Augenblicken höchster Kreativität wieder heraufkam. An diesem Punkt ist für mich dann auch eine Form von ... was ein Freund von mir, Bandini...

- Fernando Bandini, der eine wunderbare Einführung in deine Ausgabe geschrieben hat...

- Ein guter Dichter und auch ein Freund.

- Auch er ein Dichter.

- Auch er Dichter, ein exzellenter Dichter in meinen Augen, in italienisch, im Dialekt und auf Latein.

- Auf Latein!

- Da er also um meine Wachsamkeit dem Handeln der Ärzte gegenüber wußte, hat er gesagt, ich habe eine Hölderlinphobie. Das nur, um zu zeigen, daß meine Annäherung auch weiterhin nicht phobischer Natur ist. Die Phobie mag bestanden haben in diesem Sinne: meine Aufmerksamkeit war ungeschmälert aufgrund einer hohen Identifikation poetischer und menschlicher Natur, denn auch ich hatte große Schwierigkeiten, mit anderen in Beziehung zu treten und mich auszutauschen auf eine Art, in der ich mich verstanden fühlen konnte. Er fühlte sich nicht verstanden, oder sagen wir, er konnte den Zwang nicht verstehen, sich mit den Formeln eines verknöcherten Protestantismus, wie man ihn im Stift lehrte, zuzustopfen; für mich hingegen war es eher die rigide Schulmeisterei der Internatsschulen, die ich vielleicht nur als externer Schüler besuchte, die aber deutlich zeigte, daß sie vom Leben der Kinder wenig verstand. Das war der Grund, weshalb ich es schier nicht mehr aushielt, auch zu Hause nicht, denn mein Vater war nicht da, meine Mutter mit den Zwillingsschwestern beschäftigt. Daher nahm ich Zuflucht zu meiner Großmutter, und das ist ein weiterer Verbindungspunkt zu Hölderlin. Er hat auf eine Bitte der Mutter hin, glaube ich, sein Gedicht an die verehrte Großmutter geschrieben.

- Man müßte eine Studie machen über die Großmutter, beginnend bei Proust, oder vielmehr beginnend bei Hölderlin, dann über Proust bis zu dir.

- Ja, die Wichtigkeit der Großmutter. Wie gesagt, ich habe dem Andenken an die Großmutter ein Dialektgedicht gewidmet, genauer, das Gesamt der kleinen Dialektpoeme in kurzen Strophen. Vielmehr, und das ist der Punkt, waren es kleine Strophen, die auch in einem Allegretto auftauchen konnten, denn der Dialekt bietet die Möglichkeit, die poetischen Ausdrucksmittel auf ganz eigene, besondere Weise einzusetzen. Diese Folge von Gedichten endet mit einer freien Übersetzung des Schlußes von Hölderlins Gedicht an die verehrte Großmutter. Sie lautet: "E adess che son en on de bota consumä, se mantegn par ti quel che tosatelle la lodä." (Daß dir halte der Mann, was er, als Knabe, gelobt)

- Sehr schön.

- Hier muß ich auch einige Worte verlieren über die Bedeutung der Dialekte. Wir wissen, wie wichtig Hebel war, auch bezüglich der - nennen wir sie einmal ,Düsterkeit' Heideggers. Wenn er von Hebel spricht, sehen wir, daß er einer Gesamtheit von Situationen zustimmt.

- Eben wegen dieser Düsterkeit ist Heidegger als Leser Hebels von Robert Minder widersprochen worden, wegen dieser Bindung an die Erde, an diese ganze Mythologie, die Hebel völlig fehl am Platz erschienen wäre, hätte er den Aufsatz Heideggers einsehen können.

- Ja, sicher, ich habe davon gehört, aber hätte Hebel diese Aufmerksamkeit Heideggers für die Dialektausdrücke zurückgewiesen, dann - ich sage nicht, er spricht ihn frei - aber es gibt doch zu denken, daß er eben der Mann von "Sprachen", "Reden" und "Boden" war und nicht eines "Blut" und "Boden"; das, denke ich, kann man schon sagen.

- Zweifelsohne.

- Ohne ihn freizusprechen... der Dialekt gibt die Möglichkeit, die Sprache ein bißchen mehr schillern zu lassen. Er ist auch Sinnbild einer absolut anfänglichen Sprache, denn der Dialekt war mündliche Überlieferung hier in Italien; vielleicht kann man auch in Deutschland von einer Pluralität sprechen, die, denke ich, auch heute noch ziemlich erhalten ist.

- Zum Teil.

- Jedenfalls gibt es hier in Italien verschiedene italienische Sprachen, unter denen das Toskanische als das Italienische herausragt. Aber wenn ich zum Beispiel das größte Werk des italienischen 17. Jahrhunderts wählen müßte, würde ich sagen Belli. (Giuseppe Gioacchino Belli, Rom 1791-1863; Versi, Roma1839; 1 sonetti, a.c. Vigolo, Milano 1952 )

- Da ist dir Puschkin zuvorgekommen.

- Ja, siehst du, ich weiß, daß Puschkin eine hohe Meinung hatte. Das waren Gedichte, die im Umlauf waren; dann mußten auch die ausgelöscht werden, wie du wohl weißt. Diese Tiefen der Sprache spürt man an der außergewöhnlichen stilistischen Gärung, die in allen Gedichten Hölderlins vorhanden ist, unablässig, ich würde sogar sagen, es ist geradezu so etwas wie ein Funkenschlag, in dem die Metren eingesetzt werden - Klopstockscher Herkunft, glaube ich, nicht wahr?

- Ja, vor allem am Anfang ist die Klopstocksche Prägung deutlich. Er hatte die Odenform wieder eingeführt, von der Hölderlin reichlich Gebrauch gemacht hat.

- Ja, der Reichtum, der eine Metrik bietet, die griechische Würden geltend machen konnte, ist von Hölderlin, denke ich, in höchstem Maße genutzt worden. Auch ein in der Sprache wenig beschlagener Leser nimmt diese Dinge wahr. Wenn ich an die italienischen "Odi barbare" denke, könnte man sich einen Auspruch zu eigen machen, der Momsen zugeschrieben wird, als er die "Odi barbare" von Carducci in der Hand gehabt hat: "Saffo non fia mai nostra" (Sappho war nie die unsere)

- Ich weiß nicht, ob das von Momsen stammt, denkbar wäre es, geistreich und drastisch wie er war in seinen Urteilen.

- Siehst du, das ist wie eine Erinnerung in mir hochgekommen, aber ich garantiere nicht für meine Erinnerungen. Für ein italienisches Ohr, das allenfalls den Weg über die barbarischen Oden von Carducci nimmt und über deren Veränderungen von Seiten eines Pascoli, eines D'Annunzio usw., ist es besonders schwierig zu erfassen, wie im Geist, mit einer ihm eigenen Eleganz, an eine Tradition gerührt wird, die das Lateinische überspringend direkt zum Griechischen gelangt.

- Ich glaube, Leone Traverso hat sich in seinen Übersetzungen mit diesem Problem auseinandergesetzt. Wie du weißt, hat er "Hymnen und Fragmente" übersetzt, und mir scheint, Traverso habe Hölderlins Gräzität pindarischer Herkunft in die Tradition des klassischen italienischen Verses übertragen; manchmal ist Monti herauszuhören in seinen Übersetzungen.

- Ja.

- Was die Übersetzungen angeht: Ich sehe und weiß, daß du Hölderlin im Original lesen und daraus schöpfen kannst, aber vielleicht hast du auch Übersetzungen zu Rate gezogen?

- Was du sagst, stimmt nicht ganz; leider hatte ich immer das Original und die Übersetzungen. Ich erinnere mich an die von Contini beispielsweise.

- Die Übersetzungen aus den dreißiger Jahren. Contini machte in sehr jungen Jahren sehr persönliche Übersetzungen, zu persönliche vielleicht, denn in der Tat kamen sie nie zum Ziel, könnte man sagen. Wohingegen vor allem die Übersetzungen des schon erwähnten Traverso, aber auch die von Giorgio Vigolo, die in den dreißiger Jahren in den Zeitschriften zu kursieren begannen, ein unmittelbares Echo unter den Dichtern fanden, auch den toskanischen. Das ist aber eine andere Geschichte, denn du kommst aus dem Veneto und zu deinem Hölderlinismus - wenn ich das so nennen darf - trägt die Tatsache bei, daß du unmittelbar an jenen "Sicher gebaueten Alpen" lebst.

- Gewiß.

- In einem Passus von "Dietro il Paesaggio" kommt, wenn ich nicht irre, auch das deutsche 'jenseits der Alpen' vor. Wenn ich recht erinnere, heißt es da "Le spoglie luminose, gli ornamenti perfettissimi dei paesi dell'Austria".

- Ja, das ist ein der "Neustria" entgegengesetztes "Austria"

- "Neustria"?

- Ja, diese magischen, fernen Namen eben...

- Ja, ja hyperboreisch.

- Die für uns bedeuteten, über den Cadore zu gehen und in das Deutsche hinein'. Das heißt,die Überschreitung einer Grenze, der des häuslich Bekannten, um auf ein Etwas zuzugehen, das durch den archaischen Namen - man verstehe das richtig - "Austria" oder "Neustria", was ja die Aufteilungen sind, die noch von den Longobarden stammen, gar zu der Vorstellung 'hyperboreisch'führten.

- Das ist die andere Alpenseite. Wo es zum Beispiel nicht das Rot der Dolomiten gibt. Die Berge sind grau, die Wälder blau; das ist, was ich einmal "die Wetterseite der Alpen" genannt habe, die Seite im Schatten, wie ein Haus, das eine Nordseite hat.

- Eine Rückseite.

- Eine Rückseite, ja eben, es gibt eine Nordseite, auf der man sich nicht so gerne aufhält wie auf der Südseite, aber sie hat eine eigene Anziehungskraft, eine eigene Faszination.

- Aber, wenn ich darüber nachdenke, vermittelt mir die Welt unserer Alpen heute noch ein Gefühl von Angst, ich beziehe mich dabei auf das, was im Moment dort geschieht. Es hat den Anschein, gerade diese Alpen - in gewisser Weise Herz Europas und auch für Hölderlin magische Orte, weil die Götter dort wohnten hätten sich in der Schweiz und auch in Österreich zu Tresoren gewandelt aufgrund von Kapitalen übelster Herkunft - und hätten dann, wie jetzt der Fall, aschfahle Abweichungen auf ein Nichts zu. Bedauernswerterweise, und von einer Psychopathie, daß, wenn die Hölderlins erhaben war, die hingegen die Asche der Asche ist. Es ist also eine Situation, in der wir uns heute befinden, daß man denken muß, ... denn auch die politischen Wirren hier in Italien, man versteht im Moment gar nichts mehr. Um also bei unserem Gebiet zu bleiben...

- Ich möchte dir jetzt ein bißchen mehr auf die Pelle rücken und dich fragen, wie stark und eventuell in welcher Form deine Nähe zur Person und Dichtung Hölderlins sich kann übertragen haben in der Übernahme von Suggestionen, die am Text verifizierbar sind. Ich würde zum Beispiel etwas von der Art hören in dieser ersten Ekloge "I lamenti dei poeti lirici" im Original "Die Klage der Lyriker", daraus folgende Verse: "chiedono, implorano i poeti, le nutre Lazzaro / alla sua mensa, come cigni biancheggiano" (Es fragen, flehen die Poeten, Lazarus / nährt sie an seinem Tisch, wie Schwäne leuchten sie weiß)

- Ja, sicher.

- Die Schwäne auch von...

- Es gibt sicher llölderlinsche Suggestionen.

- Im Sinne des Erhabenen?

- Im Sinne des Erhabenen, ja; aber dort beginnt die Ironisierung.

- In den Eklogen beginnt schon die Ironisierung?

- Ja, es ist ein Kontrast zur Annahme des Erhabenen von Horaz, außerdem konnte der Schwan par excellence Hölderlin sein, wegen dieser Tendenz zum Erhabenen, zum Hohen, zu etwas unsäglich Hohem.

- Was im Grunde das war, was ihm die Dioskuren Schiller und Goethe vorhielten, dieses Dichten immer auf Zehenspitzen.

- Über der Zeile schwebend...

- Dieses, als müsse ein Dichter davonfliegen, Flügel anlegen und in den Himmel davonfliegen und entschwinden, das war, was den Weimarern (die sicher wußten, was die Dimension des Erhabenen ist, die aber mit den Füßen auf der Erde blieben)... Das ist der Hauptgrund der Diskordanz gewesen, die sich, beklagenswerterweise - in jeder Hinsicht beklagenswerterweise - eingestellt hatte. - Wir haben jetzt von dir und deiner Beziehung zu Hölderlin gesprochen. Ich möchte daran meine nächste Frage anschließen: Welche Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, Italiener oder Nicht- Italiener, sind deiner Meinung nach von Hölderlin beeinflußt; man könnte vielleicht sagen: mehr oder weniger alle, teilst du diese Einschätzung?

- Ja, doch, Hölderlin war von entscheidener Bedeutung für die große Mehrheit der Dichter. Selbst Montale, der mit seiner ätzenden Ironie weit davon entfernt zu sein scheint: "La vita oscilla tra il sublime e l'immondo con qualche propensione per il secondo" (Das Leben oszilliert zwischen dem Erhabenen und dem Schmutzigen, mit einer gewissen Vorliebe für das zweite), selbst Montale hat Hölderlin gespürt.

- Mit deiner Erlaubnis möchte ich eine Stelle zitieren, in der Montale auch Hölderlin erwähnt: "Was die Unmittelbarkeit, die Natürlichkeit und die Linearität betrifft (er antwortet auf die Frage: Was ist Lyrik) ist nicht ersichtlich, wie diese Eigenschaften die Lyrik definieren können. Von Petrarca bis Hölderlin weisen allzuviele große Lyriker diese Merkmale nicht auf."

- Auch das ist sehr eigenartig.

- Entschuldige die Unterbrechung...

- Ich bitte dich, das war sehr treffend. Da kommt mir unter anderem ein Satz von Celan in den Sinn, in dem es heißt"Torna a riaffacciarsi Petrarca" (Petrarca 1 ist wieder / in Sicht. Vgl. Paul Celan, Lößpuppen, in: Schneepart, Frankfurt/ M. 1971)

- Ja, das ist ein Gedicht.

- Eben.

- Petrarca ist wieder in Sicht.

- Da gäbe es viel zu sagen bezüglich der Unterscheidung Lyrik, Nicht-Lyrik, was an Dramatischem da hineinpassen kann ...

- Ja sicher.

- Die literarischen Gattungen vermischen sich irgendwann, auf einer hohenEbene, da ist dann alles zu finden. In unserem Jahrhundert jedenfalls findet die erste Wiederaufnahme Hölderlins genau zu der Zeit statt, als das deutsche Schicksal, das dem diametral entgegensteht, was Hölderlin präkonisierte, d.h. eines Deutschland, das wohl Gesetzgeberin ist, Überbringerin höchster Gedanken und Gefühle, aber wehrlos, mit höchster Gewalt hereinbricht. In dieser Wiederaufnahme hören wir etwas heraus - wir wechseln auf eine ein wenig eigenartige Ebene, dieses Verlangen nach menschlicher Authentizität, das in Hölderlin immer da ist und auch während der Zeit der Umnachtung so wunderbar in Erscheinung tritt - und das auch die Fortdauer einer deutschen Dichtung rechtfertigt, die sich aus denselben Idealen nährt, - wir hören etwas, weil es da ist. Und ich muß daran denken, daß auf der anderen Seite Hitlers Truppen (man weiß nicht, wie weit alle daran beteiligt waren) sich das Lied "Lili Marlen" zu eigen gemacht hatten, was sich für meine Ohren anhört wie ein Flehen um Verständnis, eine Art zu sagen: schaut her, auch wir sind aus Fleisch und Blut, - ich weiß nicht, ob dir diese Episode bekannt ist.

- Marlene Dietrich, die vor den amerikanischen Soldaten Liii Marlen singt.

- Ja, soweit kommt es, aber der eigentliche Grund dafür ist, daß das Lied eine sehr verbreitete Vorstellung ins Wanken bringt, die besagt, daß die Deutschen Deutsche sind und nicht Menschen.

- Ja, mir ist sie auch begegnet, diese Vorstellung

- Es gibt ein Dorf, man hat neuerdings erst darüber gesprochen, da haben sich die Einwohner während der Resistenza - obwohl sie Tote und Verletzte zu beklagen hatten - mit den Partisanen angelegt und gesagt, sie wüßten, daß die Deutschen Deutsche sind und also machen würden, was ihr Teil ist.

- Sie machen ihren Teil, ja.

- Sie machen ihren Teil als Deutsche, eben. Was ja auch wieder ein Aberglaube ist, denn schließlich kann in einem Volk auch ein Bach in Erscheinung treten, oder aber Unmenschen, alle Völker sind in dieser Hinsicht gleich. Aber der Gefahr der Emphase, auch der Heldenverehrung, wird widersprochen durch eine andere deutsche Tradition: "Ich hatte einen Kameraden, einen besseren findest du nicht", d.h. man weint um den toten Gefährten, anstatt die Kriegshymne zu singen. Wie in dem berühmten Gedicht, das Noventa a uf Deutsch geschrieben hat.

- An das erinnere ich mich nicht mehr.

- Es ist sehr schön: Er wird zum König gerufen, der will, daß er als Dichter die errungenen Siege preist, aber er sagt: meinetwegen können alle ihr berechtigtes Preislied singen, aber ich habe meinen teuersten Freund verloren, deshalb muß ich seinen Tod singen. Er nimmt das Motiv von Goethe auf und gestaltet sein Gedicht im Rhythmus von "Es war ein König in Thule".

- Ja, das ist die "humanitas" unseres Noventa. Ich habe eine Auswahl der Gedichte von Noventa aus unserem Dialekt ins Deutsche übersetzt in der "Festschrift für Walter Jens". Ich bin ein "Noventista".

- Wir sind "Noventisti".

- Das sind wir; wir waren zusammen bei der Beisetzung, bei den Trauerfeierlichkeiten von Noventa.

- Ja, da kommt mir übrigens ein anderes berühmtes Gedicht Hölderlins in den Sinn, das über Alcibiades und Sokrates, das Noventa in seinen Dialekt übertragen hat.

- Noventa beherrschte die deutsche Sprache gut.

- Ja, er war auch einige Zeit in Deutschland gewesen; aber wir schweifen von unserem Thema ab...

- Kommen wir also zurück. Was diesen Einfluß betrifft, diese fast durchdringende Präsenz in der...

- Es ist eine Durchdringung...

- In der Dichtung des 20. Jahrhunderts...

- Es ist eine durchdringende Präsenz...

- Und im übrigen dann auch in der Kritik und der Philosophie.

- Ja, abgesehen von Heidegger, der geschrieben hat, was er geschrieben hat und den Metapoeten aus ihm gemacht hat, den Dichter der Dichter, eines der wenigen Dinge, die er meiner Meinung nach zu Recht gesagt hat und von dem ich glaube, daß man es nicht in dem beschränkten Sinn eines reinen Dichter der Dichter, verstehen sollte, sondern sicher ist es etwas, was mehr sein wollte. Wie immer bei Heidegger besteht die Sonderbarkeit darin, daß er Intuitionen, die in eine bestimmte Richtung gehen, in einenTopf warf mit Gepflogenheiten und anderen Ausklügelungen, die in die genau entgegengesetzte Richtung gehen. Es hat also etwas von dem Wahnsinn, den wir auch in Nietzsche wiederfinden usw.

- Du hast in einem Artikel im "Corriere della Sera" auch einmal über die Begegnung zwischen Celan und Heidegger geschrieben, über "Todtnauberg".

- Ja.

- Auch Celan empfand diesen Gegensatz in Heideggers Wesen, von dem du gerade gesprochen hast, sehr stark und für ihn auch schmerzhaft.

- Ja, aber man weiß heute auch, daß die beiden Sich mehrmals getroffen haben, aber daß dieses schweigsame Maultier' auch in den vielen Begegnungen, die es gegeben hat, denn es gab mehr als eine, es gab so etwas wie eine Freundschaft in fieri, die aber dann blockiert wurde vom Schweigen Heideggers...

- Ich weiß nicht, Gisèle Celan sagte mir, Paul habe alles in allem auch eine tiefe

- Abneigung Heidegger gegenüber empfunden, und im übrigen gibt es gewisse Anmerkungen Celans, am Rand der Bücher, die Heidegger ihm regelmäßig schickte, immer mit ehrlich gesagt sehr stereotypen Widmungen versehen. Einige dieser Anmerkungen sind eindeutig kontestativ. Aber kehren wir zurück zu...

- Ja, diese Präsenz Hölderlins ist sicher zu finden in der Linie von Dichtern, ich würde Bonnefoy zitieren, Char, ich denke da an "Du mouvement et de l'immobilité de Douve" (Mercure de France, 1953), das erste Werk von Bonnefoy, das mit einem Zitat von Hegel beginnt und also nichts zu tun zu haben scheint mit ... das aber sicher an jemanden denken läßt, dem diese ganze Linie sehr gegenwärtig war, denn es war ein Zitat aus der "Phänomenologie des Geistes", wie mir scheint, wo es heißt: "Die Dichtung weicht angesichts des Todes nicht zurück, sondern sie geht vorwärts und bietet dem Tod die Stirn", sie geht also weiter, in entgegensetzte Richtung.

- Ja.

- Das könnte Heidegger in seinen Kommentar zu "Andenken" aufnehmen. Du weißt besser als ich, daß er dieses 'Andenken' als ein 'denken an' Vergangenes interpretiert, gemeinhin wird 'Andenken' als Erinnerung, Gedächtnis verstanden, aber er versteht das auch als ein 'an die Zukunft denken'.

- Das ist fundamental, denn dieses Thema der Erinnerung an die Zukunft ist heute aktueller denn je. Es findet sich auch im Titel eines Werkes von Bandini wieder, das vor zwei Jahren erschienen ist und steht in enger Beziehung mit der Tatsache der damnatio memoriae, die in der Luft liegt aufgrund der generellen Beschleunigung der gesamten Realität, die übliche, bekannte Thematik, die uns wie ein Strick, ja wie ein Henkersknoten den Hals schnürt. Die Person Hölderlin und seine Dichtung verkörpern im 20. Jahrhundert also die Bewahrung tiefer, unveräußerlicher Werte jenseits alter politischen Festsetzungen. Ich würde sagen, sie vermengen sich fast dem Biologischen, stehen - und hier nähere ich ihn vielleicht fälschlicherweise an meine eigenen Überlegungen an - vielleicht für so etwas wie ein Ethos der Biologie als 'Biodicea minima', so wie es eine Theodizee gibt, die maxima sein möchte, gibt es eine Biodizee, die minima ist, eine Selbstrechtfertigung des Lebens in. anderen Worten, das Hölderlin, wie ich glaube, letztendlich und zu Recht sehr tief in sich hatte. Denn er ist ausgegangen von"Ein Sohn der Erde /Schein ich; zu lieben gemacht, zu leiden", d.h. Liebe und

- Tod. Die ästhetische Rechtfertigung des Lebens führt dich also zu Nietzsche zurück?

- Ja, es gibt aber auch Ellbogenkontakt mit Nietzsche, zumindest über Dionysos. Eben.

- Wir wissen, es gäbe auch da einen Vergleich zu ziehen...

- Ja, ja.

- ...zwischen den verschiedenen Momenten.

- Jedenfalls stimmt, was du zu Recht hervorgehoben hast, die Art, wie Hölderlin im 20. Jahrhundert rezipiert worden ist - nach dem Unternehmen Hellingraths und den Aufsätzen Heideggers - hat auch eine gewisse Unterscheidung im Werk Hölderlins mit sich gebracht. In dem Sinne, daß die Hymnen und späten Fragmente stark aufgewertet wurden.

- Gewiß, das scheint mir mehr als gerechtfertigt, vor allem in den Hymnen und stärker noch in den späten Fragmenten tritt genau diese "fides ultima" in Erscheinung. Luciano Zagari spricht in seinem kürzlich erschienenen Buch von der "zerstörten Stadt der Mnemosyne", was nichts anderes ist als die "damnatio memoriae". Er studiert diesen Zusammenbruch der Mnemosyne bei Hölderlin, der Zusammenbruch von Mnemosyne, den wir heute erleben, ist hingegen total. Die generelle Beschleunigung also; berechtigerterweise schreibt Zagari Hölderlin ätwas zu, was weit darüber hinaus geht, ein - wenn auch großer - Vorläufer dessen gewesen zu sein, was jetzt ist: "Auch das schwierigste Gedicht Hölderlins nährt sich, wenn nicht von der Präsenz, so doch von der Latenz (sehr wichtig!) des poetischen Bildes als Gabe."

- Das trifft auch auf dich zu.

- Ja, als erste Gabe, und man weiß nicht, woher sie kommt. Im Gegenteil: nehmen wir es ruhig im Hölderlinschen Verständnis als eine schreckliche Gabe, die dem pfeileschießenden Apollo entspricht etc. Ich war unvorsichtig genug, in einem der ersten Gedichte aus "Dietro il paesaggio" zu sagen, ja sogar jenen Ausdruck zu gebrauchen

- Welchen?

- "Mi avviai solo, in un seine di morte, colpito da un Dio"

- Was du jetzt mit Bezug auf Zagari gesagt hast, betrifft dich - ich möchte nicht sagen ausschließlich - aber doch fast ausschließlich. Anders gesagt, ich empfinde ihn als bewahrheitet, diesen Begriff der Latenz, was ja auch bedeutet, letztendlich den Tod der Kunst zu negieren etc., oder nicht? Dieser Widerstand ist deine Ethik.

- Ja, sagen wir, es gibt eine minimale Ethik, die man Endopoetica nennen könnte in dem Sinn, daß die Tatsache selbst, daß es Poesie gibt, daß sie nicht schweigt, - auch wenn jetzt alles sie zusammenpreßt auf ein Schweigen hin und ins Abseits,eine Gabe ist mit doppelter Kehrseite.

- Kann ich dennoch die Meinung wagen, daß diese Aufwertung des in letzter Instanz positiv zeugenhaften Charakters der Dichtung wieder sehr gegenwärtig ist in deinem jetzigen Schaffen?

- Es ist gegenwärtig in dem Sinn, daß, je älter man wird und je wackeliger das Gedächtnis...

- ...auch eine große Distanz da ist.

- ...daß gleichzeitig auch eine große Distanz da ist. Es wird einen Moment geben, und ich fürchte, mich stellen zu müssen, an dem ich nicht mehr wissen werde, ob die Distanz lenkbar ist. Oder ob diese Distanz aufgrund zerebraler Atrophie unlenkbar ist und auf eine Umnachtung hinsteuert, die leider ungeheure Massen von Alzheimerisierten' betrifft. Aber diese Alzheimerisierung' sehe ich auch in der "damnatio memoriae", die heutzutage den Weg über die Medien nimmt und die Leute verblödet. Es stimmt also, was Zagari sagt: "Latenz des poetischen Bildes als Gabe, des Wortes als verlorene Fülle, die aber wiedergewonnen werden kann und muß". Und ich glaube, daß viele, auch diejenigen, die sich einer Avantgarde verschrieben haben, die ursprünglich das "quid" war: die auch politische Demolierung, die Sprache nicht endopoetisch gebraucht, sondern als Kraft, die helfen sollte, die kapitalistische Gesellschaft zu zerschlagen, wobei das aber nicht zu derartigen Ergebnissen geführt hat - daß es also auch in diesem Bereich, nicht wirklich klar, aber latent, angesichts des Desasters dieser "damnatio memoriae", das über die ganze Poesie hereinbricht, in gewisser Weise jene Art guten Glauben gibt. Und möge er wiederkehren und sich einen Weg bahnen. Willkommen! Entweder das oder nichts!!

- Wenn man auf dem Tiefpunkt ist...

- Wenn man auf dem Tiefpunkt ist, dann...; vom Sein kann man reden als vom Sein des Nichts, vom Nichts kann man nicht reden als vom Nichts des Seins. Es kehren also jene anfänglichen Formen wieder, die, im Lauf dieses wirklich unglaublichen Jahrhunderts, das so vieles gegeben hat - ich denke jetzt nur an die Fortschritte dieser Tage in der wunderbaren Optik, die sogar... den Ursprung des Universums photographieren kann. - Den Ursprung des Universums. Ich mache keine Werbung für diese Firma, das möchte ich noch einmal wiederholen, aber erinnerst du dich an Marcon?

- Ja, Marcon, wir beobachteten zusammen die extragalaktischen Nebelflecken.

- Die Nebelflecken, die da waren

- Ja, ja...

- Im Spiegel und dahinter lösten sie sich auf in den Mündungen des Piave. Jetzt haben sie siebzig Angestellte, wie ich gehört habe.

- Er machte Brillengläser, wie Spinoza.

- Eben, er war ein Typ wie Spinoza. Was ich sagen wollte: jetzt haben sie Linsen gemacht, die es erlauben, diese Photographien zu machen.

- Das wußte ich nicht.

- Da müssen wir mal zusammen hingehen.

- Das müßten wir

- Noch eine Pilgerschaft in unsere ferne Vergangenheit.

- Ein Punkt mehr für unseren 'Veneto-Patriotismus'.

- Ja...

- Stimmt's?

- Ja.

- Aber ohne Hintergedanken an die Lega veneta, offen...

- Das sind doch nicht...

- Das ist nicht unsere Tasse Tee.

- Oder unser Glas Wein.

- Jedenfalls...

- Ich hab dich wirklich zu lange beansprucht, aber...

- Nein, wirklich.

- Du willst noch etwas sagen?

- Ich wollte noch sagen: diese Fragmente von Scardanelli, dieses schrecklich beunruhigende Spiel des Schicksals, dieses Hinabsteigen und Hindurchgehen durch verschiedene Schichten der Realität in einer dem Anschein nach, ich würde beinahe sagen: liturgischen Stille, von jemandem, der vielleicht eine uns unbekannte "religio" zelebriert.

- Du hast mir einmal eines der kurzen Scardanelli-Gedichte auswendig aufgesagt, hast du es noch im Gedächtnis ?

- Mir sind noch eine ganze Menge Verse aus der Vergangenheit geblieben und die von Hölderlin sitzen noch ziemlich gut, ich erinnere mich eben an "Die Linien des Lebens sind verschieden, wie Wege sind und wie der Berge Grenzen, was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen mit Harmonie und ewigem Lohn und Frieden".

- Friede ist hier das Wort. Du hast du es übersetzt, nicht wahr?

- Ja, ich habe es übersetzt und dabei versucht, den Reim zu erhalten. Aber ich habe nicht dein Gedächtnis und erinnere mich nicht mehr an die Übersetzung. Es ist aber eines der reinsten Gedichte. - Ja, und manchmal stellt es sich ein. - Aber du hast es auswendig gelernt, du kanntest eine ganze Menge Hölderlin Gedichte auswendig?

- Ja, mindestens zehn, fünfzehn.

- Ich weiß, ich weiß.

- Und manchmal steigen sie wieder auf, manchmal verschwinden sie.Jetzt kommt ziemlich oft das Fragment, das endet: "April und Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne". Ehrlich gesagt, dieses ich bin nichts mehr' manchmal ... soweit bin ich dann doch noch nicht. Aber in depressiven Augenblicken kommt eben das"io non morii e non rimasi vivo" (Ich starb nicht und blieb nicht am Leben)

- Die Verse, die du zitiert hast, ragen aus dem Komplex der späten Gedichte Hölderlins heraus. Was die inhaftliche Ebene betrifft, sind sie im allgemeinen licht und auch inspiriert von einem wiedergefundenen Glauben an die annehmende Natur etc, nicht wahr? In ihrer so ausgewogenen Form entsprechen sie hingegen haargenau jener äußersten heiteren Gelassenheit - unheimlich, zuweil - aber jedenfalls Gelassenheit, die alle die langen, in der Verrücktheit zugebrachten Jahre kennzeichnet. Und auch diese Texte, die, wie du weißtnur ein Teil, vielleicht nicht einmal ein sehr großer Teil dessen sind, was er in diesen Jahren geschrieben hat.

- Sind alle veröffentlicht, oder nimmt man an, daß es noch andere...?

- Alle, die man gefunden hat, sind veröffentlicht worden. Aber man nimmt mit gutem Grund an, daß viele dieser "Gedichtchen" - ich sage das mit Anführungszeichen, denn als solche sind sie von den verschiedenen Herausgebern bis vor nicht allzulanger Zeit angesehen worden, verloren gegangen sind.

- Ja, und was auch sehr verstört, ist diese Präsenz, Scardanelli, und vor allem dieses "mit Unterthänigkeit", was unübersetzbar ist, d.h. mit Unterwürfigkeit, mit Demut, mit...

- Das ist eine damals ziemlich gebräuchliche Formel, nicht? Aber dieses Insistieren, am Schluß eines Gedichtes ...

- Ja, am Schluß eines Gedichtes, eines vielleicht auch sehr brillanten. Es ist so etwas wie Demut, ich empfinde ... einen Eindruck von Danksagung quasi.

- Das ist da, das stimmt; das ist ein offenes Problem. Jemand (da bin ich nicht ganz einig) vermutet, daß dieses "mit Unterthänigkeit" ein in den psychischen Schichten des Geisteskranken verbliebener Rückstand aus der Zeit sei, die mit dem Beginn der schwersten Symptome der Krankheit koinzidiert, in der Hölderlin - auch ausgelöst durch den Prozeß, dem sein Freund Sinclair unterzogen worden war - immer sagte: "ich bin kein Jakobiner, ich bin kein Jakobiner'. D. h., man hat angenommen, daß im geisteskranken Hölderlin wie ein Rest von politischer Palinodie verblieben sei, die der Tatsache zugeschrieben werden könne, daß er als Gefährte Sinclairs angezeigt worden war und wegen Subversion auch gegen ihn ermittelt wurde.

- Ja.

- Möglich, aber was du sagtest, überzeugt mich mehr. Es scheint mir dem Kern der Sache näher.

- Das könnte sein, das könnte schon sein. In jedem Fall kommt es aus tieferen Schichten.

- Ja, ohne Zweifel,

- Ich habe den Eindruck, als sei da wie eine Bitte um pietas diesem Gott der Poesie gegenüber, eine Danksagung, eine Erklärung ecce Deus, servus tuus sum. Denn es ist ja eben der Knecht, der sich da äußert.

- Ja, sicher.

- Es ist der "doulos" selbst. Daher scheint mir dieser Ausdruck der "douleia" recht wenig in eins zu bringen mit der Gesamtpersönlichkeit Hölderlins, wenn nicht im Vergleich zu jenem "quid", das ihn Dichter gewesen sein und sich vielleicht auch in diesen Augenblicken als Dichter empfinden läßt. So ist das jedenfalls für mich, ich sehe das lieber so. Die Philologie, die Geschichtsschreibung werden vielleicht anderes sagen, aber ich glaube, eine Hypothese dieser Art ist nicht unhaltbar, wenn wir die Persönlichkeit Hölderlins als Gesamtes mitbedenken. Und dann das Zurückkommen zu der Idee von Frieden als "consumatum est" Daher der Akt der Unterwerfung unter dieses "quid", von dem wir nicht wissen, was es ist. Es geht nicht um Religionen, sondern um eine Wurzel der Realität, die danach strebt, sich trotz allem selbst zum Ausdruck zu bringen und zu rechtfertigen und die in der Poesie einen der Pole der Selbstrechtfertigung und Selbstdarstellung findet.

- Wie du siehst, sind wir über die Geschichte deiner Beziehung auch bei diesem letzten Hölderlin angelangt, den zu streifen wir nicht umhin konnten. Denn mir scheint, daß neuere Studien - abgesehen von den Untersuchungen Jacobsons und anderer zu diesen späten Texten (Pierre Jean Jouve hat schon vor langer Zeit "Les Poèmes de la folie" übersetzt) ihre Aufmerksamkeit in starkem Maße den Scardanelli Gedichten widmen, die lange Zeit lediglich als peinliche, bemitleidenswerte Dokumente angesehen wurden. Wir mußten unser Gespräch also mit deiner hochinteressanten Einschätzung beschließen. Du hast uns heute ein Dokument hinterlassen, hast ein wertvolles Zeugnis abgelegt über die Präsenz des Werkes dieses großen deutschen Dichters in der italienischen Dichtung des 20. Jahrhunderts.

- Um auch bei der Aktualität zu bleiben, würde ich dem gerne noch die Oberreste der Erinnerung hinzufügen, die Sprünge in der Zeit, vom 17. ins 18. Jahrhundert, das bis ins 20. Jahrhundert hineinreicht. Es gibt nämlich auch einen Rest zu Beginn des Krieges, es gibt einen von 1939: in diesem Kommen und Gehen ist etwas ziemlich, ich wage zu sagen sinistramente magico', das hat eine gewisse Ähnlichkeit - vielleicht übertreibe ich jetzt - es kommt eine Art Mantik durch... wie bei einem Orakel, so etwa.

- Genau das war es, was im 19. Jahrhundert nicht verstanden worden ist, von den Zeitgenossen Hölderlins ganz zu schweigen. Was du Aspekt der Mantik nennst, das ist nicht verstanden worden.

- Ohne Zweifel.

- Oder wenn es erkannt worden ist, ist es unter den Tisch gekehrt oder sogar verlacht worden. Heute hingegen trifft es mit seiner ganzen Kraft.

- Ja, es trifft auch mich, denn es ist auch in einem der letzten Gedichte, das ich geschrieben habe, wiedergekehrt: "Mit gelben Birnen hänget und voll mit wilden Rosen etc, etc. "Hälfte des Lebens", eines der Gedichte, die mich von Anfang an sehr beeindruckt hatten, kehrt wieder mit dem in der Beschreibung eines riesigen Birnbaumes wiederholten Zitat "mit gelben Birnen hänget". Denn die ihrer Energie überlassenen Birnbäume werden zu hängenden Städten, die innen, mit ihren Birnen, eine ganze "imago vitae" nähren, eine Nahrungskette. Die Birnen fallen auf den Boden, Mäuse fressen sie, Fledermäuse stürzen herab, ja sogar Möwen; es entsteht ein regelrechtes "specimen" all dessen, was wir den Stiegen-Käfig der Weit nennen könnten. Ist dieses Gedicht in der Ausgabe deiner Gedichte enthalten?

- Nein, es ist noch unveröffentlicht.

- Schade, daß du es nicht dabei hast und es möglicherweise auch nicht erinnerst

- Nein, es ist auch ziemlich lang.

- Dann hoffen wir also, es möglichst bald lesen zu können. Ich danke dir, auch im Namen derer, die Nutznießer unseres Gespräches sein werden, und entschuldige, daß ich dich so lange aufgehalten habe. Aufrichtigen Dank dir, Andrea und "admultos", wie die Griechen sagen.

- Ich habe dir zu danken, wie immer, und lade dich auch ein, da wir ja schon zwei ältere Herren sind...

- ...kann man sagen.

- ...ohne uns von zu vielem vereinnahmen zu lassen, zusammen die Wege aus Jugendtagen wiederzugehen, die uns nach lesolo führten.

- Ja, das machen wir, das machen wir in einer anderen Erinnerungsfeier; noch einmal Danke.

(Übersetzung von Elsbeth Gut Bozetti)


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