Birgit Kempker

Diese bewundernswerte Bescheidenheit der Herzen




Die Wochenzeitung fragt die Sphinx von Pontresina: Wie steht es um die Handhabe der Liebe in der Schweiz und wo kommen hierzulande eigentlich die kleinen Kinder her?


In anderen Ländern stehen die Schwänze. In der Schweiz steht es um die Handhabe der Liebe. Die Liebe scheint etwas umständlich Praktisches zu sein in der Schweiz mit Hand und Fuss und Besitz. Und obwohl dabei alles umseitig bedacht und vorsichtig vollzogen wird, was sich einer Handhabung erfolgreich unterziehen kann, ein jegliches zu seiner Zeit an seinem Ort und eine jede Folge vorhergesehen und im arttypischen Griff und im Rhythmus, obwohl alles bis ins i-Tüpfelchen perfekt geplant und also jeweils erfolgreich Sequenz für Sequenz durchgeführt und dem Schönen und Guten automatisch zugehalten und entsprechend organisch eingeführt ist, folgen daraus nicht kleine Kinder, sondern die Frage, wo sie eigentlich herkommen hierzulande. Und wie so oft und zahlreich stecken in den Fragen die Antworten wie im Handschuh die Finger, in den Fingern die Gefühle und die Zahlen und im Mann das Kind und die Eisenbahn, was heisst: die schweizerische Liebeshandhabung spielt sich im Verborgenen ab, die Kinder eigentlich auch.

Von aussen gesehen scheint die Handhabung eine vorsichtige und präzise, eine keinesfalls barocke, eher protestantische, eine kontinuierlich ökonomisch spärliche, kein Haar verlierende, keine Falten generierende, sich nicht verschleudernde, langsam entwickelnde, ungiftige aber substanzielle, eher inwärts gerichtete, ziemlich vernünftig gesunde, langfristig den Körper weder auszehrende noch raubbauende, köchelnde, eher aufbauende und vitaminreiche, beinahe einträgliche, im Sinn von bereichernde, den Blutzuckerspiegel senkende und den Herzmuskel trainierende, fitnessbeispielhafte, blutverdünnende, lebensverlängernde vitaparcoursmässige, waldeffekthafte, eifersuchtsresistente, den Umständen angemessene und haltbare, ein bisschen erdige, ein bisschen luftige, etwas feurige, leicht wässrige, nicht zu bunte und nicht zu graue und insgesamt nicht übertriebene, unaufgeregte, überhaupt nicht turbulente, dezente, niemals über die Schnürchen schlagende, Schnürchen gibts gar nicht, und doch wellenhafte und übrigens auch dezentrale, höchst verschwiegene und hyperprivate und irgendwie trotz gegenteiligem Anschein vielsprachige, ja archetypische süssigliche Angelegenheit.

Doch ahoi und oho. Ausländer passt auf: diese bewunderswerte Bescheidenheit der Herzen, Glieder, Augen, Organe, Taschen, Ohren, Nasen und Münder, der Taschengelder, dieses genialische Mittlere nicht heiss und nicht kalt, nicht schnell, nicht langsam, nicht Fluss und nicht Baum und nicht Frucht, auch nicht Haus, nicht Schiff, nicht Knochen, nicht Bohne, nicht Fleisch und nicht Vogel, ist pure fürsorgliche Tarnung, denn es handelt sich bei den schweizerischen Liebeshandhabungen vermutlich um ausgetüftelte Esktasetechniken, magnetisierende Manipulationen, elektrifizierende Streichelungen, die nur Eingeweihte, also Einheimische kennen und praktizieren und inwendig glühen, siehe die Berge, und die etwas, den Bergen zum Trotze oder eher die Berge nach innen spiegelnd, sie dort mit sich selbst vertretend, sie stalaktitisch simulierend, also Operationen, die etwas mit Einstülpung, Implosion zu tun haben, mit einem Genuss verbunden, dem Ausländer nicht gewachsen sind, nicht mal aus der Ferne, und woran sie von Fall zu Fall stürben, nippten sie auch nur daran.

Damit nicht reihenweise Ausländer beim Anblick oder nur vom Dunstkreis der schweizerischen Paare nach oder in Erwartung der Handhabungen der Liebe umfallen und sterben müssen, zieht sich der Schweizer in sich zurück beim Lieben und zwar in langen Reihen, wie es der Ausländer Friedrich Nietzsche in Basel beobachten konnte, dann floh er nach Pontresina und schrieb: «Fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen, meine siebente letzte Einsamkeit».

Das Zurückziehen der schweizerischen Liebenden in den Berg erfolgt nach einem uralten geheimen innerschweizerischen Militärkonzept. Wenn Schweizer davon, was für sie wegen Landesverrat gefährlich ist, berichten, dann singend oder in Stein, so wie Hermann Burger in seinem Buch «Die künstliche Mutter» und Gilbert Clavel in seinem Castel Clavel in Positano. Schweizerinnen singen selten.

Immer fängt ein Schweizer an. Er zieht sich in sich zurück. Dann zieht er sich in eine Schweizerin zurück und diese zieht sich wieder in sich zurück. Dann zieht sich die Schweizerin in den Schweizer zurück und so kommt dieses angenehme Verschwinden zustande hierzulande, das die Schweiz so ruhig und beruhigt macht. Frische Ausländer und Ausländerinnen würden sagen: dieses schwindelrerregende Verschwinden, oder: «Ich entspanne hier bis zur Bedeutungslosigkeit», doch von innen sieht die Schweiz ganz anders aus, ahnen die alten ausländischen Hasen.

Von innen hat die Schweiz einen Tunnel zum Tao. Aus diesem Tunnel kommen auch die Kinder. Solange die Kinder im Tunnel stecken sind sie Kinder wie in anderen Ländern Kinder. An der Erdoberfläche scheinen sie alt, das heisst, sie erscheinen an der Erdoberfläche nicht sehr. Die Kinder spielen in sich versunken in Tunneln, und manchmal spielt das eine Kind so sehr in sich versunken in einem Tunnel, dass es mit einem Kind in einem anderen auch sehr in sich versunkenen Tunnel spielt. Die Kinder kennen sich untereinander wenig, weil es soviele Tunnel gibt wie Kinder. Die ausländischen Kinder fühlen sich deshalb mit den schweizerischen Kindern einsam. Das ausländische Kind kennt nicht die Handhabungen der schweizerischen Kinder, deshalb spricht das schweizerische Kind mit dem ausländischen Kind nur zur Tarnung und aus Fürsorge, in Wirklichkeit sitzt es im Tunnel und geniesst dort heimlich sein unerhörtes Glück.

Den Ausländern und Ausländerinnen laufen die Lippen über beim Imaginieren und Buchstabieren der Handhabungen der Liebe hierzulande bis in die Zeitungen. Sie werden nicht müde die Spitze des Eisberges zu besingen, überhaupt die Kristallisation, und darunter vermuten sie stur nach alter Ausländertradition: Tao. Damit sie beim Singen, Ersatztunnelung, in den Raum der Kraft und nicht in die Hölle der Fantasie kommen, forschen die Ausländer und Ausländerinnen beim Besingen des Eisberges nach Bestätigungszeichen, dass sie auf dem richtigen Weg sind in die Schweiz.

Das erste Zeichen ist die Anwesenheit der Götter im Tal. Man hört da Menschen reden wie etwa in der Entfernung von einigen hundert Schritten, jeden einzelnen ganz klar. Man hört sie immer. Man selbst hört sich nie.

Das zweite Zeichen ist die Helle in der leeren Kammer. Öffnet man die Augen, findet man seinen Leib nicht. Der Fleischleib wird glänzend wie Seide oder Nephrit.

Das dritte Zeichen ist das Zurückkehren des Geistes und das Gegen-den-Himmel-Stossen desselben. Es kommt auch zum Schweben. Sind alle drei Zeichen eingetroffen, sollte der Ausländer nie seinen Beruf aufgeben und in der Schweiz bleiben, die Geheimnisse der Handhabungen der Liebe besingen, den eigenen Ursprung pflegen und nähren, die Ahnen beruhigen, das Öl auffüllen, denn solange das Herz nicht die höchste Ruhe erreicht, bewegt es sich nicht.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor