Hans-Jost Frey

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Das Gedicht, dicht, klärt sich, zerlegt, auf Kosten seiner selbst. Dass sein Poetisches, in der aufklärenden Deutung aufgesucht, sich verliert: Widerspruch der sekundären, verstehen helfend das Verstandene entziehenden Literatur, die, zielstrebig räsonnierend, an die Üblichkeit zurückbindet, was sich, anders verfasst, nicht darum und nicht um sie kümmert. Das Dichterische zu fassen, ohne, es an gewöhnliche Muster des Verfügbarmachens anpassend, es zu verpassen, bleibt, auch noch, oder gerade und erst recht aufgegeben, eine Aufgabe.

Erklärendes Reden, aufklärerisch, sucht, Schritt aus Schritt ableitend, Sicherheit in der Absicherung, aber der Verstand, auf Begründung erpicht nichts auslassend, verleitet, in seiner Betätigung ebenso der Selbstbestätigung wie der Sache zugeneigt, leicht zur Länge. Die Selbstgefälligkeit des Verstehenden stört das Verstehen des Gefallenden. Die Geschwätzigkeit des Skrupulösen, keine Lücken duldend, verhängt die offene Genauigkeit des Dichten mit dem Schleier rationaler Präzision. Schwebendes, an die Schnur der verfügenden Argumentation genommen nur vermeintlich unter Kontrolle, ist nicht einzuholen. Die Poesie ist der Wind, nicht der Papierdrache, den er zum Fliegen bringt.

Wäre der Verlust des Poetischen, in dessen Zerlegung, durch die Verdichtung des Redens darüber gutzumachen? Dagegen, dem kaum je in Frage gestellten Auftrag, Verständnishilfe zu sein, abträglich, spräche die mit der verknappenden Ballung einfallender und ausstrahlender Sprachfunken verbundene Einbuße an Mitteilungsfreudigkeit. Dass leicht zugänglich sein muss, was zugänglich machen will, ist die Rechtfertigung des ausladenden Schreibens, das, hoffend, den Weg zu ebnen, zum Lesen des dichten Gedichts einlädt. - Poesie über Poesie können wir nicht brauchen. - Und Poesie? Gerade dass sie, nicht zu brauchen, der Einordnung ins System der Zweckmäßigkeiten widersteht, treibt die Versuche, sie erklärend zu rechtfertigen, hervor. Aber nicht nur braucht sie keine Rechtfertigung, sie braucht auch nicht einmal zu rechtfertigen, dass sie keine braucht.

Wozu - sie geschieht, wie vieles, was gewöhnlich als gewöhnlich anerkannt ist, immer und überall - der Poesie helfen wollen? Sie kommt, unvermittelbar, nur hin, wo sie schon ist. Weil, wer sie liest, schon hat, was er sucht, liest sie sich in wenigen. Über sie zu reden, von außen schwerlich gelingend, bestimmt, zusammen mit dem auch nie ganz erfüllten Wunsch, zu sein, was sie sagt, als das Bedürfnis, ihr eigenes, zu sagen, was sie ist, die Wendepunkte ihres rhythmischen Pendelns.

Die Literatur, entgegen zwei bei Lesern und Schreibern verbreiteten Irrtümern, dient weder der Unterhaltung der einen, noch dem Unterhalt der andern. Unterhaltung ist Zerstreuung, Lektüre Konzentration. Unterhalt erfordert Anpassung, Schreiben Absonderung.

Dass Poesie, kein Geschäft, spärlich gelesen wird, kann man entweder, marktkonform gesinnt, damit, dass sie sich nicht darum, den Ansprüchen der Leser zu entsprechen, bemüht, oder, skeptischer, damit erklären, dass wenige Leser dem Anspruch der Poesie genügen. Von der Sache, wenn nicht von den wirtschaftlichen Sachzwängen, her sind wenige genug, aber die Texte, weil sie ihnen, um gelesen zu werden, zugänglich sein müssen, werden, als Ware behandelt, gehandelt, obwohl ihr Preis nichts mit ihrem Wert zu tun hat. Eine Gesellschaft, die, beides verwechselnd, vor dem Geschriebenen versagt, gefährdet nicht dieses, aber sich. Darüber nachzudenken, warum und wie, schadet nicht.

Über Poesie zu schreiben fängt, vielleicht, wenn es aufhört, didaktisch zu sein, an, aussichtsreich zu sein. Beim Versuch, ein Sprachgeschehen, das, anders als alle anderen Arten, mit Sprache umzugehen, seine Besonderheit darin hat, in erster Linie, anstatt auf etwas ihm Äußerliches abzuzielen, sich selbst zu vermitteln, lehrend zugänglich machen zu wollen, unternimmt man genau das, was das an der dichterischen Redeweise, worauf man aufmerksam machen möchte, verpasst. Ein Widerspruch, der, unvermeidbar, bereits der Poesie selbst innewohnt, aber dem, der tastend schreibend der Sprache, in der er sich bewegt, zugewandt bleibt, näher an sie heranzukommen ermöglicht als dem Sprachvergessenen, der sie im Griff zu haben meint.

Ergebnisse, wo von Sprachlichem die Rede ist, gewinnen, auch hier, ihre, scheinbare, Festigkeit aus dem Vergessen ihrer Sprachlichkeit. Keine Doktrin - beabsichtigt, wäre sie, lehrbar, missionarisch verirrt - kristallisiert sich zu oder aus Sätzen, die sich, immer wieder, auf der Suche nach der Sache der Poesie, innehaltend sich aus der auf Inhalte gerichteten Geläufigkeit zurücknehmend, selbst zu erinnern versuchen.

Streng argumentatives Reden versiegelt die Fugen, durch die, ihm Fragen einpflanzend und seine Samen verstreuend, der Wind in den Text fahren könnte. Zwischenräume, in denen die Richtung unsicher wird, sprengen, Seitenwege öffnend und den Horizont rundum erweiternd, die Enge der Strenge. Eingeladen, im Weitergehen Umschau zu halten, ist man, lesend wie schreibend, vom Zwang zu planen befreit, jederzeit für das Abenteuer des Einfalls bereit.

aus: Wortstellungen zu Stellung der Poesie


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