Birgit Kempker

Ausritt aus den Feldern der Bedeutung




Zur Kunst und Geografie der Anna B. Wiesendanger


Was denkt hat Rippen. Auf einem Rappen reitet die dämonische Göttin Kali durch das Leichenfeld. «Dass das Leichenfeld jedoch zugleich auch als ein Ort des Heils anzusehen ist, beweisen die segenbringenden Sinnbilder, wie die verschiedenen Fähnchen und die Gruppe der sapta ratna, der sieben Kostbarkeiten», schreibt Pieter H. Pott in «Kunst der Welt» nicht über Zeichnungen von Anna B. Wiesendanger, sondern über ein Leichenfeld-Mandala aus dem 19. Jh., Südtibet, das als geheime Darstellungen zum Vollzug höchster Einweihungen bestimmt ist. Schmuck, Kleidung und Ausrüstungsgegenstände der Göttin sind sichtbar, sie selbst jedoch erscheint erst im Verlauf der Meditation durch «Gedankenkraft.»

Als Anna B. Wiesendanger als Kind einen Vortrag in Geografie halten sollte, sprach sie über Tibet und dieses Mandala, mit schlechter Note, da Kunst nicht zur Geografie gehört. Da die Geografie aber zur Kunst gehört, zur Kunst der A.B.W. besonders, fang auch ich mit Rappen und Reiterin an beim Erkunden der Räume der Anna B. Wiesendanger.

Auf den ersten Blick haben mich die Tonobjekte der A.B.W. an die Hühner der Witwe Bolte erinnert, wie sie übers Kreuz an Fäden zappeln und ziehen, von Max und Moritz gespannt und an jedem Fadenende ein Stück Brot und an jedem Brot ein Huhn, oder um jedes Brot herum ein Huhn, womit ich nicht sagen möchte, dass die Tonobjekte Hühner sind oder gar zur Gruppe der sieben Kostbarkeiten gehören, nur auszuschliessen ist es nicht, weil die Arbeiten der A.B.W. Freiräume sind, nichts einschliessen, nichts ausschliessen, sondern gehen lassen, sie laden ein, sich Bilder zu machen, Bilder aus der Kindheit, Erinnerungsbilder, Wunschbilder, Bilder bekannter Gegenstände und Situationen, Bilder von Szenen in Räumen, übereinandergelagert, Zeitmaschinen, Töne, Bilder also zu erfinden und wiederzufinden, gleichzeitig verweigern sie jedes Verhaften an einem gefundenen Bild.

Die Bilder sind keine Bildgefängnisse, die Figuren keine Fesseln, die Rippen keine Gitter, nicht für den Geist, eher Möglichkeitsräume, Übergangsorte, Schleusen und Waschanlagen für Reisegestelle. Vehikel für Nichts. Grossgeschrieben.

Wer länger schaut, bekommt eine Leichtigkeit und Ruhe geschenkt, die zu tun hat: mit Sehen und Loslassen von Bildern und den emotionalen Energien, die an Bildern und Erinnerungen an Bilder, in Bildern und an Räume in Räumen und Bildern haften. Kein Verhaften eben.

Ich könnte einen Embryo mit Orchideenleib auf einer schwarzen Linie liegen sehen und mit schwarzen Samthandschuhen mit Angel oder Teesieb im unteren Raum nach etwas Verlorenem fischen. Ich könnte von verlorenen und gefundenen Formen sprechen, vom Herstellungsverfahren der Tonfiguren, von Hohlräumen, vom Ausgiessen und Beulen der Linien, von Überschneidungen von Hohlräumen, ich könnte von fehlenden Rückenwirbeln des Embryos sprechen bei gleichzeitig erstaunlich viel Rippen.

Ich könnte von Tunneln, Gleisen, Röhren, Schächten, von Flecken, Mustern, Polen und Pollen, von Landkarten, Messungen, Tennisschlägern, Bögen, Kreisläufen, Natur, Technik, Rhythmen, Gehörgängen, von Locken und Wimpern und Füssen sprechen, vom Dschungel ohne Wildnis, vom Käfig ohne Tier, von Waschmaschinentrommeln ohne Wäsche und ohne Waschmaschine, von Sedimenten, Schnurrbärten, Organen und vom Rückgrat und bin froh, wenn ich davon nicht mehr spreche.
Die Formen, Figurationen sind keine Gefängnisse, heisst: sie bannen und binden nichts, keine Gefühle, auch keine Begriffe, halten nichts fest, identifizieren nicht, nicht mal das Nichts, lassen einen durchgleiten und am anderen Ende des Bildraums wieder raus und zwar leichter als vorher. Es ist möglich beim Betrachten und Begehen der Bilder und Räume, Bilder und Räume abzuwerfen und das wirklich Schöne ist, sie bleiben nicht als Schutt im Bild zurück, sondern werden transformiert, wie, das wissen die Geister, wenn.

Ich könnte von einem Rückgrat fürs Nichts sprechen, Grossgeschrieben, vom starken Wunsch und starken schwarzen Linien, in der Abwesenheit anwesend zu sein, im sich Aufgeben aufgehoben zu sein, im Chaos keine Angst zu haben, nicht ganz verloren zu gehen, von einem mentalen Gerüst, so, wie der Fleischkörper Knochen braucht, braucht das Denken Rippen im Leben zum Denken.

Das könnte in meinem eigenen System statt finden, könnte sich die betrachtende Figur sagen, was ich da sehe, könnte sogar in meinem Betrachten, also in mir statt finden, mit was ich sehe und was ich sehe und denke, überschneiden sich gleichzeitig, wie in den Bildern, ich sehe bekannte Massen, Schnitte, Enegiebündelungen und Streuungen, Gegenstände, Gedanken und Gefühlen, die laden mich ein: vertret dir in mir die Augenfüsse, sagen sie und auch: Achtung, Täuschung, dies ist kein Rad, dies ist keine Badewanne, dies ist keine Orchidee, dies vertritt sich selbst und die betrachtende Figur ist von einigem Ballast und einiger Illusion entlastet entlassen, mit Trost, dass alles schon schön am rechten Fleck ist und ich nicht dabei sein brauch, denn, das sagt schon J.J. Rousseau:
«Wo sich der Vertretene befindet, gibt es keinen Vertretenden mehr.» Wie, das wissen die Geister, wenn.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor