Birgit Kempker

Wiese ist







Wiese ist Heu im Winter. Wiese ist der Fluss in Hildesheim. Wär ich bloss in Hildesheim geblieben. In Hildesheim wollte ich nicht in Hildesheim sein. In Hildesheim kam Same in mich rein als ich von Hildesheim weg kurz auf den Pustenberg ins Opabett mit Blick über Essen Werden mit Gesicht in die Sterne kam, mir entglitt, gilt: Same auf dem Pustenberg ist Kind in Hildesheim.

Wiese ist der Fluss in Basel. Innerste ist der Fluss in Hildesheim. So kam die Lüge in die Welt. Sie sagten: sieh zu, es klaut dir den Schneid, siehst du es nicht? Ich sah mich um. Das Kind kam auf mich zu geschneit. Ich wollte lieber das Kind als Schneid.

Wenn sich die schneidlose Hand dem diebischen Kindskopf nähert, dann klaut sich der Beklaute den Schneid zurück, sagt Castaneder, Mann oder Frau oder beide, mit einem Streich, Fischer Taschenbuch, das wusste das deshalb kopfscheue und mit seiner Seele auf den Pustenberg ins Opabett hinuntergestartete Kind und hielt sich zurück, vor dem Vater, der Schneid will und aber Samen liefert und Castaneder glaubt und bei der Aktion verliebt ist.

Oder das Kind hielt mir den Kopf so hin, dass ich meinen Kopf ran rückte, fast und berührt und rein kroch in den kindlichen Schädel und roch und kleine weisse Würmchen krochen von Scheitel zu Scheitel, das Herz ging auf und Schneid ward schnurz. Ich stellte mich vor Freud auf den Kopf. Das Wort war Neid, nicht Schneid.

Ich schaute mir den Schneid sehr genau an und sah: es ist wahr. Das Kind kommt, der Schneid wächst. Der Schneid wächst weg vom Boden und wer nicht mit weg wächst, wähnt sich des Schneids beraubt, knabbert mutlos am Boden an Zehennägeln, reisst sich von den Fersen die Scharten und Schuppen, beisst sich in den Bauch, krabbelt am Boden im Schatten von dem, was er sucht und das für Kälte hält, weil er sich zusammenzieht in sich krümmt sich ins Elend winselt.

Wär ich bloss auf der Wiese geblieben. Wär ich bloss nie auf die Wiese gekommen. Wär ich bloss eine Pusteblume gewesen und abgepustet.

Oder: lies Sarg voll hinten, sag Gras, beiss rein, wende das Blatt. Wort verdreht sich. Wort versteht sich. Packs an: Es gibt keine Entwicklung. Es gibt kein Geschehen. Aber Schicksal gibt es: schreibt Heinrich Heine Marx, schreibt Esterhazy, Peter, Donau abwärts als Gräfin Hahn-Hahn, les ich im Flugzeug nach Berlin Tempelhof über dem Friedhof in niedriger Einflugschneise mit den Propellern den Balkon voll Brigitte Oleschinski streifend. Oder: wo ist bei dir die Entwicklung, fragen sie mich, ich schau auf das Knäuel und weiss, sie wollen lange Linien und Fluchtpunkte und fix und fertig Aussicht und nicht rot und Knäuel sehen. Niemand will auf der Stelle auf der Schwelle stehn.

Lind stehn vier Wände ums Bett. Ort ist Tor. Schlaf ist eine Weise auf vielen Wiesen zu sein. Jetzt steht Wiese auf Bühne. Das Blatt liegt Lindwurm schätzend auf zwischen Schultern hinter dem Herz.

Sagt: das Gras ausreissen, damit es grün bleibt, sagt Heiner Müller zu Chor auf Bühne. O holde Delikatesse der Dialektik, sagt Peter von Matt. Oh teure Toten, ruft Durs von den grünen Beinen aufwärts den Vielen, Viele werden von ganz Verschiedenem satt. Die Ernährer fürchten die Ernährten so sehr, dass die Ernährten sich von den Ernährern selbst ernähren, so sehr, dass die Ernährer die Ernährten voll stopfen mit Plunder, bis zum Hals zu und voll und ohne noch ein Fleckchen leeren Platz, rumpelpumpelvoll, dann sagen sie: du frisst mir die Haare vom Kopf. Du bist mein Sargnagel. Ich fall auf deine Kosten von meinen Knochen. Du willst mir ans Leder. Du hast mir den Schneid weggeklaut. Du bist mein Untergang. Die Vorstellung vom Ernähran hat die Ernährer weggehext.

Wüchsest du auf wie von selbst, sagte Mutti, ohne meine Milch, mein Hasten und Pressen, mein Kaufen und Spülen und Kochen. Wie auf Befehl und wegen seiner Kürze, verprasste ich mich selbst, presste mich in Bilder und Bücher. Wär ich bloss nicht auf diese Weise benommen zu mir gekommen. Missverstünde ich Wünsche nicht so sehr. Gehorchte ich nicht so tief. Hexte ich selber.

Dann kam das Kind und als es 14 war, kam Mutti. Was tust du, frag ich. Ich halt den Mund und koch, sagt Mutti. Der Enkel raucht Gras auf dem Mättchen. Das Mättchen ist die Schweizer Wiese. Mutti entmistet das Enkelkindbett. Sie sammelt Socken. Sie wischt mit Haushaltstuchabschnitt Siff. Sie durchkramt die Kiffkiste, rollt Klopapierrollen auf, kauft neue Klopapierrollen und steckt die zerknüllten nassen Fetzen in den Haushaltssack. Sie stellt den Bong mit Kopf nach unten auf den Balkon. Sie lässt Walter Benjamin: Haschisch, unabsichtlich deutlich neben dem Klo auf rosa Rolle, weich und von Mutti von Coop spendiert, wie mitten in der Lektüre, Suhrkamp Taschenbuch mit drauf grüner Pflanze auf schwarzem Grund, so wie hastig vom Klo weggerissen zu irgendeinem anderen Geschäft sehr zerstreut liegen verdächtig.

Wär ich bloss blass und bloss, säss ich bloss in einem Gedicht, einem Dickicht, einem Pfirsich, wär ich bloss ein Wurm, eine Socke, wär ich bloss in was drin oder um was drum, wärs bloss ichblosser und verblasster und weggebluteter und losgepusteter. Tät mich jemand lieben und fressen.

Wer Kinder kriegt sieht sich täglich Futteranforderung gegenüber gestellt. Geh füttern, sagt die Biologie, besorg Futter. Tät euch jemand füttern, sagte Mutti und kaufte Ikka, das Kindermädchen für wenig Geld, doch nicht so wenig wie wenn das Fütterlos Väter trifft, dann springen von nah und fern Weibchen bei und füttern Vater und Kind. Das ist Biologie. Was für ein Programm. Alles ist gut, alles ist schön, alles verwandelt sich unterwegs zum Mund in Scheisse. Mir kommt kleine Zeitverschiebung gross und ungerecht vor.

Vielleicht schau ich nicht richtig hin. Vielleicht verwechsel ich vorne mit hinten. Vielleicht kommt es auf die Reihenfolge nicht an. Vielleicht kommt immer Scheisse raus. Vielleicht will mich Mutti vergiften. Wär ich bloss auf der Wiese geblieben. Zwischen den Sternen funkelt die Milch auf der Strasse. Schön wär es wie es ist.


Zwei. Wie es in der Wiese ist

Ich liege in der Wiese und sehe sie wie sie ist. Ich sehe Dachse, Hügel, Pollen, Füsse und Bälle und Schnürsenkel und wohnte gern darin. Dein Rücken presste sich in Wiesengrund und badete und wie sie flöge und flatterte in dir liegendem Haus und grünte und spröss und flötete von Ast zu Ast, und draussen flüssig der Fluss in der Wiese und darin die Schnauze vom Hund, und wie der Hund in den Fluss, so hingestreckt du in die Wiese, so reingetunkt mit: in deinem Rücken Wermutstropfen, kleins Gränchen Granit.

Du wandelst liegendes Haus im Kreuzbein und sprichst mit Granit. Granit ist ein Wirbel im Rückgrat auf der Höhe unter der Brust. Nit Granit, sprichst du zu Granit. Granit ist der Taube und Tumbe in dir, der Zahnarztgespritzte, Schwerelose, der schmerzlose Halunkenpunkt, der, der als Kannitverstan, erstarrt, als Seelenblock im Koma zwischen deinen Wirbeln hockt, zwischen den Schultern als Siegfried und du sollst den Kuckuck brüten und ein Herz ginge dir gründlich auf wenn vor lauter Schutz der Raum nicht inwärts wüchse.

Roten Granit steck ich in die Hose und hicks höchstes 1 via Kreuzbein hoch die lange liegende Säule ins Scheitelweiss ein, uhboote dir durchs verzweigte Geäst, durch Gefässe, spreng sie, besprenkel dir dies, bespring dir den Hals, äse dort scheu unterm Kinn, betropf dich mit Tau und betreu als liegendes Haus in der Wiese den Aufstieg des roten Granit.

Auch Hasen hoppeln. Maulwürfe verschwinden dunkel kopfüber. Günther Eich schmunzelt. Grossväter schnitzen und pfeifen. Das Loch liegt im Gras. Hunde verschwinden, Spatzen tauchen auf. Auch Hals und Gurgelknorpel liegen in der Wiese. Auch Knöpfe und Kleidungsstücke. Auch Liebeshilfen. Auch Schuhlöffel, Cocktailstäbchen und elektrische Zahnbürsten, nur kein Liebesrücken vom Kreuzbein Wirbel für Wirbel hochgezwirbelt in die Kopfnuss, wieselflink, und geknackt, ward nicht gesehen. Nicht eingespeichelt, nicht hochgeliebt, nicht Scheitelweiss liegt in der Wiese, bloss Granit, und ich lieg bloss scheitelweisslos, mit Granat in der Hose.

Wessen Wiese ist hier los? Schöne Chose. Ich lieg in der einen Wiese, mit Granit im Rücken und Granat in der Hose. Mein Scheitelweiss liegt in der anderen Wiese. Wieder in einer anderen Wiese heisst es: Menschlein schüttel dich. Wieder in einer anderen Wiese heisst es: Menschlein entsetz dich. Oder Menschlein ersetz dich. Ich setz mich. Ich schüttel mich. Ich ist der Überbegriff über Wiese. Solang du nur in einer Wiese liegst, ist es so mit dem Ich. Darin liegen viele Wiesen.

Oder ich lächle sofort. Brustgranit und Scheitelweiss schimmern vor sich hin, bis da weit hinten, so weit und riesig ist Wiese und lang und ausgestreckt und hingelegt und hälmchensteif aufgerichtet mit Bäumen hoch zu Ross mit Kronen und Sporen versprühen und Knospen und japanischer Kirschblüterei und Eichhörnchen glitzern und springen in hohem Bogen, dahin, wo mein Scheitelweiss, und ich von der Sohle über den Brückengranit bis zum Scheitel zum Erweichen wohnen.


Drei. Dachs

Nass liegt der Dachs an der Mauer. Dachse sind gefährlich, sagt Mutti. Doro wirft mit Rüben. Ich habe Angst, der nasse Dachs schnappt nach mir, weil er Angst vor geschmissenen Rüben hat. Ich habe Angst, der nasse Dachs verhungert, weil ich Angst vor ihm hab. Dann ruf ich die Treppe hoch: Mutti, trinken Dachse Milch?

Bald hab ich ein Haustier. Dann Telefon. Es ist in der Diele. Es ist in Mainz. Früher wohnte ich hier. Ein junger Mann ruft an. Ich weiss nicht, wer er ist und habe das déjà vu Gefühl und will ihm nicht sagen, dass ich nicht weiss, wer er ist, aber ihn und das Gefühl, ihn nicht zu kennen, kenne.

Woher haben Sie meine Nummer? Oh, er habe vor meiner Wohnung gestanden und Schreie gehört. Er wird sich erkundigt haben. Vielleicht Polizei. Beruhigen Sie sich, ich ziehe bald aus, sage ich. Er ist empört, dass ich immer noch dort wohne, sorgen Sie denn nicht für sich, fragt er. Er ist nicht sicher dass ich nicht doch geschlagen wurde. Sicher nicht, sage ich. Sollen wir uns lesen, fragt er. Was ist Dein letztes Buch, frage ich. Vorher hat er gesagt: Vielleicht bündel ich Dir ein paar Seiten. Vielleicht hat er Briefe gemeint und nicht Bücher, vielleicht Sachen gesagt und nicht Seiten. Vielleicht hat er gesagt: sollen wir uns lieben? und ich verstand lesen. Vielleicht hat er gesagt: vielleicht sollten wir uns mündlich treffen. Entschuldigen Sie, sage ich, ich würde Sie sehr gern verstehen.

Vielleicht hat er Frechdachs gesagt. Ich habe am morgen Kafka gelesen und dabei an Hamburg gedacht, ohne es zu merken, entschuldigen Sie, sage ich. Ich merke nicht viel. Sieze ich ihn? Ich sage: Du bist enttäuscht. Ich las wo, dass so Verständigung geht. Er sagt nichts. Ich wache auf. Ich habe Halsweh und das Gefühl, mit jemand gesprochen zu haben, der zum zweiten Mal mit einer anderen Person von mir sprach, und zwar genau so, wie mit mir noch niemals jemand sprach und ich es immer aber wünschte.

Oder sie sprechen jeden Tag. Und Du? Denke an Scelsi, das Konzert vom Morgen, nach den Kafkabriefen, was für ein Sonntag. Denke an Spero, die Spätzin von Tandori. Denke an. Dachs. Denke an Unterwelt. Toni wird auf der Wiese den Dachs aus dem Koffer lassen. Ich soll ein Loch durch die Wiese finden, sagt Tom. Warum durch die Wiese? Toni wedelt mir Rauchsalbei in die Löcher im Gesicht. Nichts tut sich. Bestimmt tut sich nichts, sagt Tom. Der Koffer knallt hinter dein Dachs zu. Der Dachs sitzt im Koffer im Rauch und ich verwunderungsscheu in der Wiese. Verwandlungsresistent, sagt Tom.


Vier. Mein Aufenthalt beim Wurm

Mein Wurm ist tot und ich bin allein. Mein Befreier hat mich von meinem Wurm befreit, meinem Lieblingswurm, meinem Lieblingsleib.
Ich frag: - Ritter, mein Retter, was soll ich tun ohne meinen lieben mich warm heftig liebend bewachenden und wer bin ich überhaupt ohne meinen diesen Herzenswurm?
- Du bist die Jungfrau, sagt mein Befreier, und ich dein Befreier, und dieser greuliche Lindwurm ist tot, fürchte dich nicht.
- Bitte bleib, sag ich meinem Befreier, mein Gabriel, ich fürchte mich, bitte liebe mich, mir fehlt mein Wurm, mir fehlen Fesseln und Peitschen, mir fehlen Schnallen und Schellen, mir fehlt mein Befehl.
- Berichte, sagt Robert Walser zur.Jungfrau, das ist ein Befehl. Mein Befreier war kein Befreier, der blieb, er war ein Befreier, der Köpfe abhieb, ich war ihm umsonst empfohlen.
- Kopf hoch, für dich gibts viel zu tun, sagte mein Befreier, du bist jetzt ein interessanter Mensch, du hast der Welt viel zu berichten von deinem Aufenthalt beim Wurm.


Fünf. Hugo

Als ich einmal wirklich nicht mehr weiter wusste, setzte ich mich vor die Wand und machte den Hugo. Ich wusste nicht, was das heisst, sich vor die Wand setzen und den Hugo machen, was ich aber wusste, war, wer den Hugo macht, der setzt sich dafür vor die Wand und macht da den Hugo, das heisst, den Hugo machen, das wusste ich, und da ich nichts besseres zu tun wusste und aber dringend etwas tun musste, weil ich ganz erbärmlich nicht weiter wusste, - da sass ich also und machte den Hugo, was das war, wusste ich nicht, was ich aber wusste, war, da sass ich und wusste, wer einmal wirklich nicht mehr weiter weiss, der sitzt vor der Wand und macht da den Hugo, wie hier ich, ob er das weiss oder nicht, und wer das weiss, der weiss zwar nicht weiter, doch weit genug, denn wer vor der Wand sitzt und den Hugo macht, macht weiter nichts, weil es das ist, was er vor der Wand macht und das macht weiter nichts, weil es ein gutes Geflühl macht, das zu machen, was du machst, weiter nichts.

(Wiese ist: ist eine fünfförmige Feldforschung für: Wie es ist, Schichtwechsel im Bahnhof Schaan, Fürstentum Liechtenstein, gehalten Sommer 96)


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