Wenn Texte nicht klingen, sind sie keine Literatur




Fragen an Birgit Kempker und Urs Engeler


entwürfe: Wie seid Ihr zum Hörspiel gekommen?

Birgit Kempker: Das Hörspiel ist in Gestalt von Sibylle Dickmann auf mich zu gekommen. Sibylle Dickmann war als Agentin im Auftrag von DRS 2 auf Hörspielschreiberinsuche. Wolfram Groddeck sagte zu Sibylle Dickmann: Frag doch Birgit Kempker. Sybille Dickmann führte mich in die Mensa zu Claude Pierre Salmony.

Urs Engeler: Über die Frage, in welcher Weise für mein Buchprojekt «Die Schweizer Korrektur» mit Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse eine akustische Umsetzung für Lesungen möglich ist: Das Buch hat vier Spalten; wie macht man's, wenn man es vorlesen will? Die Fragen und Antworten führen notwendigerweise zur Hörkunst - ein Begriff, den ich dem rundfunküblichen «Hörspiel» vorziehe. Für das nächste Buchprojekt «Erinnere einen vergessenenText» war die Antwort auf die Frage, in welcher Weise sich die Idee des Buches möglichst adäquat im Rahmen von Veranstaltungen transportieren läßt, eine akustische Installation, die neben dem Hören auch das Erleben eines bestimmten Raumes als Höratmosphäre umfaßt. Und nach diesen beiden Buchprojekten und ihren Hörstücken war es ein logischer Schritt, eine Buchreihe zu konzipieren, die die klassischen Disziplinen akustischer Literatur, also die Lesung, das Hörstück und den Gesang bzw. die Rezitation zur Musik, auf Compact Disc in Verbindung bringt mit dem Text auf Papier: die Compact-Bücher.

entwürfe: Lest und hört Ihr Hörspiele?

Urs Engeler: Nein, was das Hören betrifft, denn die übliche naturalistische Hörspielästhetik - hier schlägt eine Tür und dort brummelt ein Opa in seinen Bart - hat mich nie interessiert. Aber ich kann auch mit ja antworten, denn ich lese alles immer übers Ohr. Ich komme vom Gedicht her und «verstehe» Literatur, egal ob in Prosa oder Vers, nur insofern, als ich sie «hören» kann, d.h. empfänglich gestimmt werde durch das, was im Text lautlich und rhythmisch gestaltet ist. Das gilt natürlich auch für «still» gelesene Texte: Wenn sie nicht klingen, sind sie keine Literatur.

Birgit Kempker: Lesen: nein. Hören: ja, aber unsystematisch, meist habe ich Hörspiele aufgrund der Story, aus voyeuristischen oder anderen menschlichen Gründen zu Ende gehört, auch wenn das Hörspiel jenseits war von dem, was mir gefällt, vielleicht, weil mir das Abstellen schwerfällt und ich gerne Stimmen höre.

entwürfe: Welche Hörspiele sind oder waren für Euch wichtig?

Birgit Kempker: Nach dem Kindergarten und Abtrocknen vom Besteck gab's Mittagsschlaf und für die Älteste Kinderradio. Die Jüngste, meine Schwester, saß mit einem Berg von Märchenschallplatten im Bett und konnte sie auswendig. Da kommt mir «Königstochter, Jüngste...» ins Ohr, die rollenden Köpfe auf der Kegelbahn von «Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen» und das Lied von Rapunzel «Ich sing' von früh bis spät, bis daß der Tag vergeht, denn ich bin so allein, muß das denn immer so sein».
Den Rapunzelsong hab ich tagaus, tagein imitiert, mit dieser gequetschten Lolitastimme. Zwischen den Schallplattenbergen habe ich den größten Teil meines Werks hinter mich gebracht, nämlich der Jüngsten Geschichten erzählt, manchmal im Schlaf, wenn ich stoppte, hat sie mich gerüttelt, ich fragte: «Von was?» Dann hat sie z. B. «jetzt soll der Zwerg doch schnell glücklich sein» gesagt, und ich habe weiter erzählt mit der perversen Lust, erzählend zu gehorchen. Ich denke daran, dieses Setting einmal nachzustellen. Kann sein, ich habe früher die Hörspiele von Günther Eich gehört, denn die Art und Weise, wie ich die ganz frühen Hörspielinszenierungen von Günther Eich liebe, deutet darauf hin; sie kommen mir vor, als hätte er sie mir mal früher im Bett erzählt und ich: weiter, Eich, jetzt vom Tiger Jussuf, und er hat vom Tiger Jussuf erzählt.

Urs Engeler: Neben meinem Programm die Programme der Edition S Preß und des Gertraud-Scholz-Verlages: Hörkunst von der Wiener Gruppe über die Beatnik Barden bis zu den russischen Konzeptualisten und allen sonstigen Stimmen und Seelen, die in diesen Schubladen keinen Platz finden.

entwürfe: Was schätzst Du an der Form Hörspiel?

Urs Engeler: Ich müßte jetzt zurückfragen: Was meinst Du, wenn Du von «Form des Hörspiels» sprichst? Denn glücklicherweise gibt es neben der üblichen «Theater ohne Bild»-Ästhetik ja auch andere Formen, die ihre Ästhetik in der Sprache finden und dem, was in ihr akustisch geschieht, oder sich an musikalischen Parametern, etwa in bezug auf zeitliche Verläufe und räumliche Strukturierungen, orientieren. Solche Formen schätze ich. Oder ganz anders und allgemeiner geantwortet: Ich schätze an akustischer Literatur, daß sie durchs Ohr geht. Das Ohr ist unser emotionales Organ, das in unglaublich sensibler Weise auch die nuanciertesten Gemütszustände registriert - ob wir das nun bewußt mitbekommen oder nicht: Wir sind durch unsere akustische Umgebung gestimmt. Was auch meint: Ich schätze die Macht, Intensität und Tiefe, die Literatur eben deswegen erreichen kann, weil sie den Weg übers Ohr nimmt.

Birgit Kempker: Ich habe vor dem Hörspiel, genauer: vor seinen Institutionen, einen ähnlichen Horror wie vor dem Theater. Vor zwei Wochen sah und hörte ich von Sasha Walz und Gäste das Tanzstück «Zweiland» in Berlin in den Sophiensälen und war hin und weg, weil es genauso war, wie ich mir ein Tanzstück immer gewünscht habe, zärtlich, brutal, komisch, ohne den ganzen angelernten Theater- und Tanzquatsch, ohne diese scheußliche, meist die Bewegungen verdoppelnde Konservenmusik mit sehr viel Stimme, Gesang, Akkordeon, Kontrabaß und einer auf der Bühne aufgelegten Platte, es hätte auch «Himmel und Erde» heißen können wie das Kinderspiel.
So hat es bestimmt auch Hörspiele gegeben, die ich mochte, sicher die von Beckett, Ror Wolf, es ist schwierig, sich an Hörspiele zu erinnern, weil sie meist aus Zufall mitten drin angestellt werden, im Raum sind und weg. Wenn ich sie aufnehme, vergesse ich meist das Beschriften, oder ich vergesse, sie überhaupt aufzunehmen, oder die Aufnahmetaste klemmt.
Was ich sehr liebe an Hörstücken, sind die Stimmen, eine Form von Präsenz im Raum, die abgelöst ist von den Körpern, aber aufgrund von Körpern, daß ich als Hörerin der Resonanzkörper für andere Stimmen bin, wenn ich sie höre, eine Art Geistertanz und ich ein Geisterland oder Boot. Ich bin dann so groß, oder spitz, oder gelb oder traurig oder sandig wie die Geister, die mich bespielen.
Das Hörstück öffnet Räume, die es ohne das Hörstück nicht gäbe. Stimmen wirken direkt auf das Gefühl, ohne den Ballast der Identifikation mit dem Gefühl via festgezurrtem, ins Bild oder auf die Bühne gebanntem Körper, also wenn's gut geht ohne Psychologie. Es ist, und es ist nicht. Dazu fällt mir mein erstes Hörstück ein mit dem Titel «Kein Fleisch. Stücke», das wir für einen gelben Raum produziert haben.

entwürfe: Wie beurteilt Ihr die Stellung des Hörspiels in der Literatur im gesamten.

Urs Engeler: Wenn Texte nicht klingen, sind sie keine Literatur. Das heißt auch: Es gibt in der Literatur keine Stellungen, in denen das Hören nicht mitspielt.

entwürfe: Du willst mit deinen Compact-Büchern, Büchern, denen eine CD beigelegt ist, «das Auge mit dem Ohr verbinden». In welchem Verhältnis stehen für dich die zwei Sinne?

Urs Engeler: Ich muß Deine Frage etwas korrigieren, denn darin liegt schon meine Antwort: Der Anspruch in der Konzeption der Compact-Bücher war, nicht einfach einem Buch eine CD in der üblichen unbeholfenen Weise «beizulegen», etwa indem man sie in einer Schutzhülle mit etwas Klebstoff hinten rein pappt. Im Gegenteil: Wenn das, was auf der CD zu hören ist, zwingend aus dem hervorgeht, was man im Buch lesen kann, dann soll die CD in derselben Weise ein echter Teil des Buches sein. Das heißt: Der Buchgestalter Marcel Schmid mußte eine formale Lösung für die Verbindung zweier ganz unterschiedlicher Körper zu einem in sich homogenen Objekt finden, die sowohl funktional als auch ästhetisch befriedigt. Wie er das geschafft hat, das muß man sich ansehen, denn eine Beschreibung kann diese «Verbindung des Auges mit dem Ohr» nicht sagen.

entwürfe: Inwiefern hat dein Engagement für Hörtexte deine Arbeit verändert?

Urs Engeler: Meine Arbeit ist ja nur teilweise die übliche, kaufmännisch-administrative des Verlegers. In der Hinsicht hat sich wenig verändert: Das Geschäft mit den Compact-Büchern funktioniert wie jedes andere Buchgeschäft auch, es ist nur etwas attraktiver, und das für alle Beteiligten: Autor/inn/en, Leser/innen, Buchhändler/innen. Aber insofern meine Rolle die des Herausgebers ist, dem es bei der Realisation von Büchern um die Konzeption bestimmter Inhalte und Formen geht, die ich dann in der Arbeit mit Autor/inn/en und meinem Gestalter umzusetzen versuche, haben mir die Hörstücke ein weites Feld an Möglichkeiten im inhaltlichen Umgang mit Literatur wie auch in ihrer Vermittlung eröffnet. Und darüber hinaus habe ich einiges an neuen Fähigkeiten erlernt, z. B. das Schneiden und die Montage von Aufnahmen am Computer. So macht das Ganze natürlich noch mehr Spaß.

entwürfe: Welche Rolle spielt das Hörspiel in deinem Gesamtwerk? Macht es Sinn, deine Arbeiten in epische und dramatische zu unterteilen?

Birgit Kempker: Bei Lesungen sagten sie mir: Man muß dich hören, du mußt das aufnehmen. Es geht mir um Ton, Rhythmus, Schwingung, auch um Denken, Gefühl, nicht um abgegrenzte, in den Leib und in die Biographie gepferchte Personen.
Ich schreibe meist laut. Meine erste öffentliche Arbeit war eine Installation, ein grausam böses Weihnachtszimmer mit Kindlich-Komischem, Schrecklichem und vor allem erschrockenem Kosmischem und Singsang, völlig verdreht. Später hat mir ein Freund gebeichtet, daß sie dieses Tape auf der Alp als Dope gehört haben, und sind ganz schön abgefahren. Als Kind habe ich ganze Opern auf das Diktiergerät meines Vaters geschmettert. Meine Eltern haben das mit Freunden abgehört und sich krummgelacht. In meinen Hörstückanfängen, könnte ich sagen, bin ich mit den dämlichen Reaktionen nicht fertig geworden, mit diesem schrillen «die spinnt». Heute empfände ich das als Auszeichnung und eine durchaus erwünschte, zunächst hysterische, leicht erregte, auf jeden Fall lebendige Reaktion, ein Zeichen von Wirkung.
Parallel zum Opernsingen choreographierte ich Tanzstücke, studierte sie ein und führte sie sehr tyrannisch mit Freundinnen auf. Eigentlich wollte ich Tänzerin, genauer: Tanzstückeschreiberin, werden. Als dann mein Knie kaputtging, bin ich immer mehr aufs Schreiben umgestiegen, wohl auch wegen des geringen Materialwiderstandes und der Autonomie. Das Schreiben ist so gesehen ein unsichtbares Tanzen und heimliches Singen.

entwürfe: In «Kein Fleisch. Stücke» hast Du Teile eines Prosatextes «in ein Hörstück umgesetzt». Wie geschieht eine solche Umsetzung? Schreibst Du deine Prosaarbeiten von vornherein als Sprechtexte?

Birgit Kempker: «Kein Fleisch. Stücke» ist zunächst für einen gelben Raum gemacht, der bestückt, beschriftet und überschrieben war mit Zeichen, Zeichnungen, Sägemehl und Tieren, von mir und von in den Raum eingeladenen Freunden. Das war im Sommer 1992 im Kleinen Helmhaus, Zürich, so eine Mischung zwischen Ritual, Beschwörung, Rezitativ und Requiem mit Klagegesang. Ich habe dieses Stück zusammen mit Bernd Kempker, meinem Bruder, gebaut. Das Textmaterial haben wir uns aus einer Version von «Ich will ein Buch mit dir» geschnitten, als eine weitere version davon. Ich würde statt Umsetzung lieber Variation sagen, wie in der Musik, ein Motiv wird unter verschiedenen Vorzeichen mit verschiedener Besetzung in verschiedenen Räumen, eben: verschieden, gespielt (verschieden!), wobei die endgültige Partitur jeweils durch Improvisation gewonnen und entweder auf einem Tonträger oder im Buch festgehalten wird (festgehalten!).
«Ich will ein Buch mit dir» ist ein Text, der sich auf dem Hexenzaun, auf der Grenze zwischen Körper und Schrift, zwischen Realem und Symbolischem, also zwischen verschiedenen Ordnungen und Räumen, aufhält, kein Wunder, daß er noch mal anders als schriftlich auf dem Papier, als Stimme im Raum verkörpert sein wollte. Die CD für das Compact-Buch ist eine weitere Überschreibung von der CD für den gelben Raum und eine Überschreitung des Buches.
Sowieso entsteht jeder Text durchs Lesen, immer anders, auch für mich, erst recht aber, wenn ich ihn mit jemand anders lese und neu montiere, ich mag das sehr, mit einer gewissen Dreistigkeit die Bretter abmontieren, manchmal auch zersägen, anstreichen, hämmern, klopfen und eine neue Bude baun.

entwürfe: Wie sieht die Zusammenarbeit mit dem Regisseur aus?

Birgit Kempker: Ich stelle mir Zusammenarbeit vor wie früher als Kinder, sich verrückte Dinge auszudenken und zu tun, also unter Freunden. So gab es z. B. zuammen mit Musikern und Tänzern Projekte. Das Radio hatte ich als Ort der Zusammenarbeit nach einigen Versuchen aufgegeben, ich wollte kein Beamtenstück, eines, das ein Dramaturg frisiert, eine Regie inszeniert, die Hörer fressen und ich kotze.
Die Zusammenarbeit mit Bernd Kempker war dann wie verrückte Dinge tun, zuerst bauten wir uns das Skript, dann sammelten wir Geräusche, etwas Musik, suchten einen männlichen Sprecher, probierten Räume, Mikrofone aus, und Bernd kam auf die Idee, einen Teil der Texte von Berliner Bürgern sprechen zu lassen, dadurch bekommt das Stück etwas Dokumentarisches, mit den Straßengeräuschen, den Bemerkungen und den Verlesern. Diese Idee von Bernd war die ausschlaggebende für das Stück.
Bernd ging im Morgengrauen auf Vogelstimmenfang, daher kommt der schöne, in morgendlicher Verzweiflung und in großer Kälte gesagte Satz: «Man muß näher rankommen an die Vögel.» Außerdem gab es durch die Berliner Bürger im Stück selbst wieder dieses: Varianten durch Lesarten bauen. Die eigentliche Komposition fing beim Schneiden an, im Studio Togo.
«Anleitung fürs Blut» wurde ganz ähnlich gebaut. Ich gab bei dem Treff in der Mensa Claude Pierre Salmony den Text «Denken», und dann ging alles schnell. Claude gefielen einige Stellen, besonders ein Satz, so ungefähr: wichtig sein ohne das Gewicht der Wichtigkeit. Claude meinte, für ihn sei. das ein Porträt von Basel, die Beschreibung eines Stadtkörpers, und er schlug vor, eine solche Schneise in den Text zu legen. Wir schlugen, jeder für sich, mit Buntstiften eine Schneise, verglichen und bauten einen neuen Text. Das ist, glaube ich, ein, sehr außergewöhnliches Vorgehen, hat viel mit Vertrauen, Einfühlung, Respekt, vor allem mit Spielfreude und Wellenlänge und der Fähigkeit, auf Hiercharchie und Dominanz zugunsten der Kunst zu verzichten, zu tun, ein Glücksfall für mich und an dieser Stelle eine Verbeugung vor Claude.

entwürfe: Welcher Teil der Arbeit geschieht im Studio?

Birgit Kempker: Außer dem größten Teil des Textes (denn der kann umgeschrieben und auch neu durch Improvisation gewonnen werden), und außer der Recherche (also der Auswahl der Stimmen, der Musiker, der Rohstoffe wie Musik, Geräusche, Geräte) geschieht alles im Studio.

entwürfe: Welche Rolle spielen Musik und Geräusche? An welchem Punkt der Arbeit kommen sie hinzu?

Birgit Kempker: Musik, Geräusche haben beim Schreiben von «Ich ist ein Zoo» eine Rolle gespielt, es war Silvester und ich in Berlin, zwei Tage lang in Hauseingängen, auf der Straße, im Park nichts wie Böller und Schnee, das prägt ein Stück, wenn Du es in diesen zwei Tagen schreibst, und umgekehrt bringen Dich solche Böller und Schneetage dazu, ein Stück zu schreiben. Dazu Händels «Feuerwehrsmusik» zu nehmen war als Einfall so platt, daß er mich reizte, später schien es gar nicht anders möglich, es ist ja durch und durch ein neobarockes Stück. Von «T'ain't no sin to take off your skin/And dance around in your bones», dem Song von William Burroughs, ist nur das «bones» geblieben, für mich ist dadurch der ganze «Black Rider» von Tom Waits drin und der ganze Burroughs, das war wichtig. Auch das «Gut gebrüllt, Löwe» aus der Augsburger Puppenkiste mußte sein. Später habe ich das Hörstück «Fünf Mann Menschen» von Mayröcker/Jandl gehört und darin das «Gut gebrüllt, Löwe». Es war also eine Art zurückeilende und gleichzeitig vorauseilende Reverenz, ich wußte noch nicht, auf was es sich bezieht, aber daß.

entwürfe: Warum läßt Du deine Texte oft von Laien sprechen oder sprichst sie selbst?

Birgit Kempker: Die Stimmen sind auf ihre Art Profis, z.B. hätte niemand so sprechen können wie Wolfram Groddeck in der «Anleitung». Im «Zoo» sind die Kinder, finde ich, sehr präzise, und Anatol - mein Sohn - hatte einen anspruchsvollen Part mit Tonwechseln, manchmal mehrmals mitten im Satz. In der Anleitung wär' es mühsam gewesen, meinen Text rhythmisch an den Sprecher oder an die Sprecherin zu bringen. Für den Dj Arsal Caglar war der Rhythmus der Texte, also auch wie ich sie spreche, eine Vorgabe für seine Musik. Wir hatten Arsal gebeten, seine Hip-Hop-Rhythmen mit der Lulu von Berg zu kombinieren, er stand da mit den zwei Tellern, auf einer der Hip Hop, auf dem anderen die Lulu, und sah uns verzweifelt durch die Scheibe an: «Ich hab euch doch auch nichts getan.» Kurz: Ich mag es, wenn alle was Neues probieren und keine Ahnung haben, wie es gehen kann. Jerome Nußbaum z.B., Technik, hatte Händel mit Händel, wie Claude das nannte, auf dem Klavier, jazzig, und er spielte einen charmanten Conférencier. Auch Claude hat einen sehr schönen Satz, und Erwin Binzius, Technik, sagt völlig entrückt wie unter Wasser: «Angeklebt»
Ich mag den Schauspielertonfall nicht, diese Art, gefühlvoll zu sein, realistisch zu spielen oder modern. Ich mag an den Stimmen hauptsächlich die Seelen, die darin sind, und die gibt kaum jemand immerzu beruflich her. Mag sein, es ist Seelenvampirismus, der mich dazu bringt, Stimmen zu bevorzugen, die die Techniken des Eigentlich-gar-nicht-Daseins beim Spielen noch nicht kennen. Ich war schon als Kind wütend, wenn die Leute nicht mit ganzem Einsatz spielten.
Weil ich gerne sogenannt geraubte Texte mit im Stück habe, also das Leben (ichbitte natürlich um Erlaubnis), sind wir auf ein gutes Klima angewiesen. Bisher habe ich dazu einen nahezu familiären Rahmen gewählt, eine sehr intime Situation. Ich mag diese Spannung zwischen öffentlich und privat, die Kippmomente, auch die inszenierten.
Wenn ich natürlich Roy Orbison hätte kriegen können. Die sogenannten Profis, die mir am besten gefallen, sind meist Musiker. Eine kleine Oper wär' schön. Auch Knabenchöre interessieren mich und Andreas Scholl. Im Auto hat Peter Waters, ein Pianist, den «Zoo» gehört und über einen dritten kamen wir ins Telefongespräch und vielleicht auch mal zur Zusammenarbeit. Für Jeanne Moreau würde ich sofort ein Stück schreiben. Auch für jemand ganz Unbekannten, wenn ich sie oder ihn kennen würde.


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