Peter Waterhouse


Zu Andrea Zanzottos «La Beltà»



«tutto fronzuto trotterellante di verdi visioni» - in diesem Vers bewegt sich etwas trippelnd oder in leichtem Traben durch grüne Bilder oder Wälder und Dickicht. In einem der ersten Übersetzungsversuche ins Deutsche hieß das: unter Blättern trippelnd durch grüne Bilder, also «tutto fronzuto» übersetzt zu «unter Blättern» oder vielleicht «unter Laub». Aber wer hier durch den Wald schlüpft, der mit dem Trippelschritt, ist ja gar nicht zu unterscheiden von diesem «tutto fronzuto», von den Blättern, sondern er selbst ist es, der Blätter hat, der Gehende selbst trägt die Blätter und gleicht dadurch ein wenig einem Baum - so hieß der Vers dann in der deutschen Übersetzung: «dicht belaubt schlüpfend durch grüne Erscheinung».
Der Geher ist mit den Blättern ausgestattet, trägt das Laub. Vielleicht ist es ein Vorgang der Assimilierung. Wenige Zeilen später in diesem Gedicht sagt dieser Spaziergänger, nein, dieser Zappelnde und Atemlose, fast Neugeborene: «ei die Anhöhen, Weiches an die Nase zu halten beschnuppern / assimilieren», die kleinen Höhen des Veneto sind hier wie süße Pfirsiche vielleicht oder wie ein Spielzeug, das die kleinsten Kinder in den Mund nehmen. «ei die Anhöhen, Weiches an die Nase zu halten beschnuppern / assimilieren wie es tat jenes Alte: das Ich, / das Ich das schon immer zwischen Wäldern und Hirten» - und am Schluß dieses Verses fehlt das Verbum, also nicht das Ich, das zwischen den Wäldern und Hirten ging oder wohnte oder lebte. Sondern es ist eigentlich gebildet aus dem Stoff der Wälder und der Hirten, es ist dort «intra», inmitten, es ist aus diesem Waldstoff und Weltstoff, es ist mehr eine Substanz als ein Subjekt. Und die Sprache, wie sie in den Gedichten von Andrea Zanzotto zu hören oder zu lesen ist, ist wohl eine Art, jenes nicht subjektive Ich zu erlernen, eine Assimilierung an jenes Ich, ein Gleichwerden, ein Erlernen der Sprache des Planeten, ein Zuhören dem Planeten und dann Zugehören. Nicht das Ich-Ich spricht, sondern ein anderes Ich aus Wald, Hügeln, Licht, Gärten, Blüten, Wein, Knospen, Mandeln, Schneeflocken, Bächen, Kalligrammen, venezianischen Kanälen und Atollen, Kindern, Meer und Sand und süßen Pfirsichbergen. Und was sagt dieses landschaftliche, landschriftliche Ich? Darauf gibt vielleicht Andrea Zanzottos sehr berühmter Gedichtband «La Beltà» Antworten, der Gedichtband «Pracht». Die Welt scheint nämlich eine Pracht-Sprache (fast so etwas wie eine «Spracht») zu kennen und zu sprechen, überhaupt an eine paradiesische Ordnung zu erinnern, an besondere Reichtümer und Potentiale. In einem der Gedichte in «La Beltà» wird dieses andere Ich als ein unscheinbares Werk angesprochen, als eine andere Geschichte, und der Sprecher des Gedichts sagt von diesem Werk: «mir schien es wie ein begründetes System, / wie ein Weg, ein Dickicht oder mehr. / Eine nährende Speise».
Sprache-Speise. Aber es gibt auch einen Hinweis auf Jacques Lacans Begriff des «Spiegelstadiums», das einen Abschnitt im Leben des etwa dreijährigen Kindes darstellt, wenn das Kind in einem Spiegel an der Wand die visuelle Einheit seines Leibes entdeckt und erfindet, die Einheit seiner ganzen Artikulationen. Ich glaube allerdings, daß in Andrea Zanzottos Gedichten ein anderer Spiegel ist und eine ganz andere Einheit entworfen wird, die lang wie das Leben ist. Es ist nicht der silberne Spiegel im Haus, sondern das Spieglein Spieglein der Landschaft, welches ein Gesamtbild der Pracht entwirft.
Im Gedichtband «La Beltà» wird das Spiegelstadium auf die folgende Weise angesprochen: «Das in der Psychologie sogenannte "Spiegelstadium" / in seiner Bedeutung für die Funktion des Ich. / Mit Unterthänigkeit.» Mit dieser Formel von der Untertänigkeit und mit dem Namen Scardanelli hat Friedrich Hölderlin viele seiner späten Gedichte gezeichnet, genauer gesagt unterschrieben. Es sind die Gedichte aus den Jahren 1812 - 1843, als Hölderlin von dem Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer und seiner Frau Elisabeth Zimmer beherbergt und in Pflege genommen wurde. Ein paar Zellen später übersetzt Zanzotto diese Untertänigkeit ins Italienische als soggezione, und in dem italienischen Wort erkennt man das Subjekt/soggetto, welches kein Ich ist, sondern ein unter dem Einfluß der Welt stehendes Etwas ist, etwas in die Welt Eingekapseltes ist. Es ist kein tuendes Ich, sondern ein unter einem Tun stehendes, ein untertuendes oder untertanes Ich. Welches Tun ist das, in welchem das Ich befangen und aufgehoben ist? Vielleicht: das Natur-Tun, die Herrlichkeit, die Pracht, das Paradies. Und daraus die Folge: menschliches Tun, es sei denn, es ist georgisches Tun wie in Vergils «Georgica», ein Tun also, das die euphorischen Stoffe stärkt und die Endorphine, menschliches Tun ist anderenfalls das Gegenteil von Schönheit. Scardanell ist in diesem Sinne ein Euphoriker, die Gedichte sind erfüllt von - wörtlich - Pracht, Glanz, Schmuck, Vollkommenheit, Verschönerung, ungemessener Weite, Herrlichkeiten, «und prächtig ist das Meiste, / Das grüne Feld ist herrlich ausgebreitet / Da glänzend schön der Bach hinuntergleitet. // Die Berge stehn bedeket mit den Bäumen, / Und herrlich ist die Luft in offnen Räumen». Diese Herrlichkeitsgedichte schrieb Hölderlin aber, als - wie sein Freund Sinclair in einem Brief schrieb - sein «Wahnsinn eine sehr hohe Stufe erreicht hat», oder anders gesagt, Hölderlins, Scardanellis Ich die untere, die untertänige Stufe erreichte.
Manchmal ist der große Spiegel der Landschaft schneeweiß im Veneto, und zu diesem Ereignis hat Andrea Zanzotto vor einigen Jahren einen kleinen Januar-Essay geschrieben, in welchem er das Ich als eine andere Ordnung zu charakterisieren versucht: «Der Januar, sieht man von seiner Anfangsphase ab, die von Festen ganz verstopft ist - auch in der Vergangenheit schon - und jetzt noch verroht wird durch das Schneegewerbe (welches meine Gegenden nicht berührt, aber doch ein Gefühl der Unruhe vermittelt, als ob der ganze Gebirgshorizont von Würmern zerfressen und von Ameisen durchwühlt würde angesichts der Massen, die sich in der einen oder anderen Art dort tummeln), ist immer noch einer der angenehmsten und ausgeglichensten Monate. Höchste Spannungen bauen sich auf in den Lichtern und Farben - blau, violett, rosa, indigo in allen unausdenkbarsten Varianten -, setzen sich dann und nisten sich ein in jeden Winkel der Landschaft; und daraus entspringt eine Ordnung, die fortwährend umgestaltet wird, dabei aber immer etwas Definitives in sich trägt, in beruhigenden Ewigkeitsformen. Es ist kein Geheimnis, daß der Winter eben nicht die Zeit des Todes der Dinge, ihres Untergangs ist, sondern im Gegenteil ein mächtiger Verweis auf eine Zeit darüber hinaus. Und im Januar bekommt man ein Gespür dafür, daß jener immer wieder in sich selbst mündende Ring, das Jahr (im Italienischen sind die beiden Wörter etymologisch verwandt), entzweibricht, sich unterbricht und zurücktritt vor dem großen Gesetz unendlicher Stabilität, die jedoch eine Leere, ein Auseinanderklaffen in sich birgt. Und es scheint, daß sich darin die letztendlichen Gründe offenbaren, die, von einem Anderswo her, gewiß nicht gegen das Leben sprechen, sondern 'für' eine andere Form von Leben, in der ersteres, jenes eingekerkerte, auf immer bewahrt würde, blendend vor Wahrheit und Licht, die unter einem Zauber 'erstarrt' sind, dabei stets bereit, wenn es so weit sein wird, sich zu lösen in der Wärme und Feuchte eines neuerlichen Keimungsprozesses.»
Andrea Zanzotto ist im Veneto zur Welt gekommen, auf der terra ferma nördlich von Venedig in einem Dorf, das vielleicht genau in der Mitte zwischen dem adriatischen Meer und den Gebirgsstöcken der Dolomiten liegt. Er hat diese Landschaft und das Dorf selten und nicht gern verlassen, er lebt auch heute im Dorf seiner Kindheit. Man wird ihn nicht zu den Mobilen zählen. Es hält ihn ein Nichtentfernenkönnen vom Prächtigen in diesem Gesichtskreis fest. Man kann sich an den englischen Dichter John Clare erinnert fühlen, der 1793 in Helpstone zur Welt kam und als Neununddreißigjähriger das Dorf verließ und ins drei Meilen entfernte Nachbardorf Northborough übersiedelte und durch diese geringe Veränderung eine große Veränderung erfuhr und große Desorientierung und krank wurde für den Rest seines Lebens. Spricht man von Nähe, Verknüpfung und Spiegelung, so muß man auf Zanzottos Schreiben im Dialekt hinweisen und auf seine Zellen in Petèl, der Ammensprache, die ihre Bedeutung nur im Lallen und in den Lauten und im Melodischen hat. Im Dialekt spricht das Ich regional, örtlich, privat, zugleich aber geht dieses Sprechen ins Überindividuelle, Anonyme über, nicht mehr das Ich spricht, sondern die Klänge und Tönungen des Landstrichs. Ebenso in der Ammensprache: da spricht nicht das Ich - weil es von dem Kind vermutlich noch gar nicht gebildet ist - sondern das Klingende, Unintentionale, fast Bedeutungsfreie, das aber in seinen Bedeutungen vom Kind, vom Nicht-Ich des Kindes vielleicht, sofort verstanden oder vernommen wird als Medium der Verbundenheit und als Herrlichkeit und als Grenzenlosigkeit, auch als vollkommene Rede ohne Klage, wie sie auch ertönt im Hölderlin-Scardanelli-Nicht-Ich Vers: «Und die Vollkommenheit ist ohne Klage», oder: Die Vollkommenheit ist voller Klänge.
Die Dialektgedichte Andrea Zanzottos befassen sich mit Freunden, die irgendwo in der Ferne sind, Montale zum Beispiel, mit Verstorbenen, Pier Paolo Pasolini zum Beispiel, oder mit den ausgestorbenen Formen des Handwerks im Dorf, mit der 1975 verstorbenen Opernsängerin Toti dal Monte. Der Dialekt stiftet in diesen Gedichten Kohäsion, und es ist beinahe so, als könnte er die Entrissenen festhalten und eine andere Zeit gewinnen. Beim Begräbnis der Sängerin ist die Szene auf einmal wie ein Kinderspiel, wie ein «funeralino, / fatto da alcuni bambini», fast wie ein Begräbnisspiel einiger Kinder. Das ist wie die Umkehrung der Zeit in Scardanellis extremen Rückdatierungen seiner Gedichte, im 19. Jahrhundert geschrieben, aber rückdatiert in einem Fall sogar bis in den Januar 1676, als es dieses schreibende Ich noch gar nicht gab.
Andrea Zanzottos Werk besteht aus Gedichten, Essays, Erzählungen und ist in Italien in zahlreichen Ausgaben erschienen, zuletzt 1999 in einem mehr als 1800 Seiten umfassenden Überblick in der Reihe «I Meridiani» unter dem Titel «Le Poesie e Prose Scelte», herausgegeben, ausführlich kommentiert und bibliographiert von Stefano Dal Bianco und Gian Mario Villalta. Diese Ausgabe erkundet auch Zanzottos sehr großes Nebenwerk, nämlich die nicht wenigen faszinierenden Interviews, die Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen, vor allem Corriere della Sera, und ermöglicht einen Einblick in das reiche Archiv des Dichters, das von Liedern über Hegel und Freud als Kinder, fast universalistisch, bis zu einer «Archeoligia vinaria», einer Studie über die verschwundenen Weinreben reicht.

Wien, im April 2000


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