Peter Waterhouse

Ural




Zum Gedicht Ingeborg Bachmanns


Man wird immer wieder zu der Einsicht kommen müssen, daß es Gedichte nicht gibt, daß sie nicht im Raum der Aktualität sind, daß sie zwischen uns Sprechenden und Nachdenkenden eine unausgesprochene Sache sind oder eine Nichtsache oder ein Hintergrund. (Nicht Utopie, sondern Hypotopie.) Wenn einer schweigt, so ist das eher ein Gedicht oder ein Stadium eines Gedichts. Sonnenschein ist eher ein Gedicht, als wenn einer versucht, ein vordergründiges Gedicht zu schreiben. Die Sonne tut etwas, viel, das genügt. Dichtung: vielleicht ein Anerkennen von Sonnenschein, der Anerkennungshintergrund. Dichtung: das Geschehen anerkennen. Welches Geschehen?

Starkes Sonnenlicht
Mein Hinterkopf, mein Nacken
leuchten

Also die andere Seite der Welt leuchtet. Dichten: ach mich wärmender Planet.
«Das Zimmer ist leer. Ohne Mobiliar.» «Ja, aber der Boden, leere Boden, ist eine Fülle an Boden, an Holz, an Licht. Aus dem Boden leuchtet Hintergrund. Er hebt eine honiggelbe leichte Sache in die Höhe. Die Höhe glüht. Das Zimmer schwebt.»
Das Geschehen heißt: Es glüht. Es klingt. Es läutet. Dieses volle dichterische Geschehen habe ich in den Gedichten von Ingeborg Bachmann an wenigen Stellen gefunden.

Seit jener Nacht
gehe und spreche ich wieder,
böhmisch klingt es,
als wär ich wieder zuhause

Endlich an der endlichen Bachmannschen Tragik vorbei und in ein Geschehen, von dem man kein Gedicht schreiben kann, sondern nur eine leichte Sache, leicht: das heißt: fast außerhalb der eigenen Sprache, «böhmisch klingt es». Dieses Leichte, Fremde ist: das Zuhause.
Ein fremdes, leichtes, untragisches Wort steht am Ende dieses Gedichts (wie außerhalb von Aktualität): «Zu hören bis zum Ural.» Ural ist sowohl Fremdsprache als ins Leichtere übersetztes Deutsch: überall übersetzt in ural; uralt übersetzt in ural; vielleicht auch der Erzeugungsraum der Sprache, der Mund, oral.

Über den Hradschin
haben um sechs Uhr morgens
die Schneeschaufler aus der Tatra
mit ihren riesigen Pranken
die Scherben dieser Eisdecke gekehrt.

Unter den berstenden Blöcken
meines, auch meines Flusses
kam das befreite Wasser hervor.

Zu hören bis zum Ural.

Dieses Wort Ural kommt aus einem wirklichen Gedicht (ganz unwirklich dagegen die dramatische Wiederholung «auch meines»). Der Raum, aus dem Wörter wie Ural kommen, soll immer wieder nachgewiesen, vertieft werden. Es ist kein Raum der Identität, Nationalität und Nationalsprache. In diesem Raum gilt auch nicht die Tragik.
Ich glaube, daß Gedichte eine klangliche Sache zwischen uns auffangen, die in Deutungen eingesperrten Klänge; daß wir im Sprechen und Denken kaum erkannt und kaum anerkannt an einem großen Gesang teilhaben, in einem großen Zeitraum. Das wirkliche Sprechen ist ein Ausland, ein ausländischer Gesang. Ich bin nicht mein Inländer, könnte man Ingeborg Bachmanns «Ich bin nicht mein Assistent» verwandeln. Ich bin mein Nichthelfer. Ich helfe mir nicht. Ich weiß mir nicht mit den Worten zu helfen.
Seltsamerweise endet mit solchen Gedanken das lyrische Werk von Ingeborg Bachmann. Das ist aber, glaube ich, der Anfang von Gedichten. So ist mir nicht genügend dichterische Ungewißheit bei Ingeborg Bachmann begegnet. Anstelle der Ungewißheit immer wieder die Tragik.
Daß es eine Musik in einem großen Maßstab gibt, ein Sprechen mit enormen Intervallen und eine außerordentlich langsam sich entfaltende Glückseligkeit, suche ich. So eine Musik wie im Anfang von Inger Christensens langem Gedicht «alphabet»: «die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es». Die Wiederholung läßt die Möglichkeit offen, daß zwischen den beiden gleichen Sätzen große Zwischenräume liegen, ein sehr langsames Taktmaß gespielt wird. Aber daß es hier eine musikalische Gewißheit gibt, zeigt sich im Wiederholen. Der einfache Satz wäre ohne Musik. Die Wiederholung bekundet vielleicht ein leibnizisches Vertrauen: die Welt macht eine lange, langsame Musik.
Die Musik aus dem Außerhalb hat Ingeborg Bachmann in zwei schönen, Österreich liebenden Sätzen begründet, in einer kleinen biographischen Skizze aus dem Sommer 1952: «Ich habe meine Jugend in Kärnten verbracht, im Süden, an der Grenze, in einem Tal, das zwei Namen hat - einen deutschen und einen slowenischen. (...) Im Grunde aber beherrscht mich noch immer die mythenreiche Vorstellungswelt meiner Heimat, die ein Stück wenig realisiertes Österreich ist, eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen.» Ein Tal, das zwei Namen hat: in mancher Politik eine Legitimation für Krieg; in der Dichtung ein Grund für Frieden. Wenn eine Sache zwei Namen hat, ist das, als ob sie zwei voneinander entfernte Zeiten vereinigt. Das Tal macht sozusagen Musik, widersetzt sich dem zeitlichen Verlauf und schüttelt seine aktuelle Identität ab.
Dann wieder dieser Erinnerungssplitter Ingeborg Bachmanns in einer anderen Skizze aus dem Jahr 1955, in Beantwortung der Frage «Wozu Gedichte?» Sie erinnert sich an das Auswendiglernen von Gedichten in der Schule, und ihr kommt die eine Zeile in den Sinn: «Ich stand an meines Landes Grenzen.»
Vorzeichen eines Gedichts findet man auch in der Erzählung «Simultan», in deren Hintergrund eine Klang-Erleuchtung geschieht, aber vielleicht ist Erleuchtung ein zu großes Wort für die Unscheinbarkeit des Ereignisses. Die Sache, die sich im Hintergrund der Erzählung, hinter der Geschichte zuträgt, lautet, wenn man sie nacherzählen möchte, etwa so: Boze moj - Maratea - Mareada - S menja étogo dovol'no - menthe - menta - mentuccia - A dor ni A dor ni - A dor ni A dor ni.
Es ist nicht zu vergessen. Das Gedicht ist das Unvergeßbare. Das Gedicht ist die reine Erinnerung. Es läutet, ein oder aus. Die Gedichte läuten, wie die Türme in den Dörfern.
«es ist nie wieder gutzumachen» - aber ich finde in den Gedichten fast gar nicht das Klangmemorium, das diesen Satz aus der Büchner-Preisrede begründete. «Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt.» Daß der Krieg nicht mehr erklärt wird, ist den Worten nicht eingelagert. Diese Erkenntnis, die aus dem Wort 'Nachkriegszeit' gewonnen sein könnte, läßt sich vielleicht gar nicht speichern, das heißt im Klang bewahrheiten. Vielleicht nicht wichtig genug. Vielleicht nicht mit ausreichend Friedenswidersprüchlichkeit gemischt. Die Einsicht ist finster, aber doch so ohne Zögern - und so wohlgesetzt, das 'sondern' an Ort und Stelle - so formulierbar. Zwar gibt es dann in dem Gedicht eine andere Tapferkeit, die «Tapferkeit vor dem Freund», ein Gewinn und Widerspruch aus dem dauernd Kriegerischen, aber es klingt doch wie Problemlösung und Rhetorik und bessere Ordnung. Die Klänge aus den jauntaler Türmen sind zungenhaftiger, der Pfiff der Bahn auf der Bleiburger Strecke atemhaltiger. Das Körpergedächtnis, der Körperspeicher reichert sich an mit dem Pfiff wie mit einem eigenen Luftstoß - die Bahn pfeift wie Luft in mich, pfeift Klang in meinen Luftraum, rauht mich auf. Die Luftröhrenstrecke ist plötzlich Teil des Gedächtnisses. - Das Gedächtnis ist eine Sache im ganzen Körper. Und diese Ganzkörperlichkeit - «seit jener Nacht / gehe und spreche ich wieder» - ist in Ingeborg Bachmanns Gedichten beinahe ganz vergessen. (Man vergleiche Gedichte und den Gedichtvortrag von Thomas Kling - Lautstärke, aber nicht Effekt -, wo der ganze Körper zu erinnern scheint und schreit. Die Lautstärke bei Kling ist: Wucht des ganzen atmenden Körpers.)
Am Schluß der Frankfurter Vorlesungen: «Aber eine Nachahmung eben dieser von uns erahnten Sprache, die wir nicht ganz in unseren Besitz bringen können. Wir besitzen sie als Fragment in der Dichtung, konkretisiert in einer Zeile oder einer Szene, und begreifen uns aufatmend darin als zur Sprache gekommen.» Aber der Klang ginge über das Geahnte hinaus. Gedichte sind physischer als Ahnungen. (Gedichte: Körper; vielleicht unsere Ahnen, nicht unsere Ahnungen.)


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