Astrid Schleinitz

Über Gedichte




Gedichte sind konzentrierte Einheiten. Ihre Besonderheit liegt darin, daß sie gestalten, ohne auf Reflexivstrukturen angewiesen zu sein. Sie verwandeln alles in Klarheit. Sie sind durchlässig, können wie Töne in der Musik ein Thema klingen lassen, ohne es durch dazwischengeschaltete Referenzen oder Zitatbewußtmachungskennzeichnungen zu erschlagen. Sie können sich unabhängig zeigen, bestimmen ihr eigenes Tempo.
Gedichte sind gleichzeitig persönlich und allgemein. Das ist ihre Struktur. Sie sind einer Genauigkeit verpflichtet, die weder ausschließlich in der Sprache noch ausschließlich in einer Situation, einem Thema liegt. Sie zielt auf etwas, das auf besondere Weise ausserhalb der persönlichen Erfahrung und Geschichte liegt und trotzdem nur durch sie sichtbar wird. Ohne eine Verankerung im Leben können sie nicht entstehen. Wie der fast unhörbare Moment der Verweigerung der Materie, wenn die Hand sie berühren will, klingt in ihnen die Durchlässigkeit dessen, was trotz allem besteht, sei es ein Blatt oder ein Gedankengebäude. Diese Durchläßigkeit kann wie Schönheit aussehen, sie erscheint als Schönheit, offenbart sich dem, der es gelernt hat, etwas nicht als Spiegel zu verwenden, sondern von sich selbst abzusehen im Moment der Wahrnehmung. Sie hängt in der Luft, ist von Leichtigkeit umgeben, von Unmenschlichem, Unbewohnbarem. Sie zeigt die Notwendigkeit dieser Leichtigkeit auf. Sie gibt den Dingen ihre Aura zurück, das Lebendige, das Nichtverfügbare. Gedichte erscheinen unbrauchbarer als andere Texte: so führen sie vor, wie alles sich entzieht, wie es nach einer Haltung verlangt, die mit keinem Schlagwort wiedergegeben werden und keiner Richtung eindeutig zugeordnet werden kann. Vielleicht könnte man es Respekt vor dem Vergänglichen nennen oder den aufmerksamen richtigen Blick oder das richtige Verhältnis von Wissen, Wissenwollen und Nichtwissen.
Der Aufmerksamkeit öffnet sich das Gedicht und mit ihm ein Stück der Welt und ein Stück des je eigenen Lebens. Das Instrument der Öffnung ist die Sprache. Gedichte bewegen sich am Rand der Sprache, zeigen das Problem und das Wunder des Verstehens, weisen immer wieder darauf hin. In diesem Sinne hören sie nicht auf, Provokation zu sein. Sie verweigern sich der Umrißlinie, dem Design, ziehen bekannte und in vertrauten Kontexten gebundene Worte ins Ungewisse, geben ihnen einen neuen Raum, in dem sie schweben müssen, weil dort die Schwerkraft des Altbekannten aufgehoben ist.
Wozu das ganze? Um im Metaphernwald etwas zu befreien, ohne das all das Glänzende und Sichere einfach hoffnungslos tot ist? Um den Dingen ihre Würde zurückzugeben, und sei es auch nur innerhalb der Sprache? Gedichte sind etwas Hinzugewonnenes, Zusätzliches; sie haken an der Stelle ein, wo sie zuallererst entstanden sind, sie zeichnen einen Riß nach, den sie nicht füllen können, nicht füllen wollen, sie sind ein Zeichen dafür, daß etwas nicht läuft, denn es stolpert, und manchmal fliegt es. Gedichte haben keine Antworten, sie führen eine Sichtweise vor, zeigen auf sich selbst, verbürgen sich für das Geheimnis, das vor aller Augen liegt. So anschaulich, daß die auf Klarheit zurückgehende Härte wie Eis sirrt.



(aus: Astrid Schleinitz: Gedichte, in: ZdZ Heft 5)