Birgit Kempker

Es lebe Tinguely. Ein Festbericht




Götter sind unsterblich. Auch in der Schweiz. Tinguely ist ein Halbgott. Ein guter Mensch. Ein großer Schweizer. Ein Heiliger. Einer der letzten. Pünktlich zur 700-Jahr-Feier der Schweiz sterben sie aus. Max Frisch, Dürrematt und jetzt, im Alter von 66 Jahren, Jean Tinguely. Tinguely ist tot. Es lebe Tinguely.
Die Kinder im Kanton Freiburg haben am Nachmittag schulfrei. Tinguely hat sich zum Abschied ein Volksfest gewünscht, eine fröhlich makabre bunte freche anarchische und doch liebenswerte Prozession hin zur Kathedrale St. Nikolaus, wie seine Arbeiten selbst, wie und mit Klamauk.
Ja, Tinguely ist der mit den Maschinen. Wer schon einmal seine Beine zum Beispiel im Basler Fastnachtsbrunnen hat baumeln lassen, hat diese Maschinen ganz nah sich bewegen und speien sehen. Oder der in Paris: «Fontaine Igor Stravinsky» neben dem Centre Pompidou, eine Zusammenarbeit mit seiner zweiten Frau Niki de Saint Phalle. Oder eine von den Maschinen, die nicht nur Kinder endlich vom Museumsernst erlöst und wieder auf die Beine gestellt hat.
Tinguely liebte Kinder. Sie waren sein Testpublikum. Und Tinguely mochte es, wie ein Kind geliebt zu werden. Von vielen. Von allen. Und alle liebten ihn wohl. Die Bundesräte, der Bischof, die Künstler, die Freunde, die Familie, die Galeristen.
Wie traurig so was bisweilen sein kann, darin steckt vielleicht eines der Geheimnisse von Jean Tinguely und seinen Arbeiten. Das Rastlose. Die immer schnellere Beschwörung der Angst mit den Gesichtern der Angst selbst. Das Ansichziehen von immer mehr Material (Schrott, Glühbirnen, Totenschädel, Leitern, Räder... wie in seinem letzten Werk, einem 17 Meter langen, tonnenschweren Leuchter für den Basler Bahnhof). Das Besetzen und Explodieren in den Raum. Doch hier soll nicht von Tinguelys Maschinen, von seiner Kunst die Rede sein. Oder doch?
Klamauk heißt die Maschine. Sie rollte spuckend fauchend rauchend feuerspeiend, mit Getöse und Gestank den Blumenwagen und dem Sarg hinterher, gefolgt von den Kuttlebutzern, der Familie, Freunden, Autoritäten, den wirklich wichtigen Leuten, Persönlichkeiten, Künstlern, Presse, Fußballclub, Fahnen... Auf Wunsch von Jean Tinguely spielten im Festzug das Musikcorps «Landwehr» aus Freiburg und eben die «Guggemuusig» aus Basel, die Kuttlebutzer. Das heißt Kuttelputzer auf deutsch und bezeichnet genau diesen Vorgang. Tinguely selbst war Mitglied dieser Clique, hat Masken und Kostüme entworfen. Der weißbärtige Tambourmajor breitet seine schwarzen Todesengelflügel aus, von Jeannot selbst gebaut, erzählt er, nicht unbedingt für diesen Tag, oder doch?
Die Kuttlebutzer spielen Basler Festspielmärsche wie: «Whisky Soda» oder den «Dreier».
Die Landwehr sei sein Wunsch gewesen, die Clique, sogar die Kirche. Daß ausgerechnet einer wie Jeannot vom Bischof persönlich in den Schoß der Kirche heimgeholt wird, einer, der mit Attributen der Kirche, mit ihren Riten ähnlich wie mit den Gartenzwergen der Gärtler ziemlich respektlos, aber eben spielend umgegangen ist, wundert manchen und ist eben doch schön, erzählt ein Freund und Mitarbeiter.
Schön und traurig und auch sehr schön katholisch war das, was da von der Universität runter zum Place Notre Dame durch die schweigende, aber enorme Menge gerollt und gerattert und getappert ist. Begafft auch von den Leuten. Beschossen von den Fotografen. Einzig die Maschine schoß zurück. Plötzlich knallte sie los. Schoß rote, grüne Kugeln in die Luft. Kleine Fallschirme, die sich im Schuß öffneten. Da durfte zum Beispiel durchaus seufzend an die entfleuchende Seele gedacht werden, an viele Seelen in einer Brust... in einer großen Brust, über die sich buschige «Augsbrauen» schattig wölbten, dem Mann mit dem Punkt zwischen den Brauen wäre so schnell keine Beschreibung kitschig, dumm, pompös, dööflich, dramatisch und dergleichen mehr, genug.
Vielleicht.
Klaumauk, die Maschine explodierte immer wieder auf Tinguelys letztem Marsch durch Stadt und Leute und hüllte die Kuttlebutzer in Nebel ein (die sind sich das gewohnt, sagen sie und freuen sich, daß es kein schwarzer Rauch ist, weil, der ist nur in Paris zu haben). Mitten auf der Brücke blieb sie stehen und schoß den Fotoapparaten scharf in die Linsen. Da wurde es einen Moment ernst neben dieser Maschine. Ob sie, wie frühe Tinguely-Maschinen, sich jetzt vor allen Augen selbst zerstört? Und ob wir selbst mal sterben müssen?
Nein, das tut sie nicht. Sie hat schon einiges hinter sich. Zum Beispiel eine Rennstrecke anläßlich der Gedächtnisfeier für den Rennfahrer Freund Jo Siffert, erzählt ein Freund.
Und überhaupt, wer hier Anarchisches sucht, etwas gegen den guten Geschmack, einen klitzekleinen Schock, Todeskitzel, etwas zumindest sanft an der Pietät vorbei, doch, der findet auch.
Der, die hört zum Beispiel Stimmen am Rand: Wer war der Mann? Der Marsch? Nein, der Mann. Ich kannte einen, der kannte den. Ist das seine erste Frau? Und das die zweite. Ach, mit der ist er noch verheiratet. Das sind die Kinder? Da ist ja Cotti. Da ist ja Botta. Da ist ja Pierre Marmie, der Bischof. Kuck mal, wie die kucken. Traurig sehen die nicht aus. Was die wieder anhat. Ja, das ist die mit den Puppen. Doch, das ist Luginbühl. Die vielen Sonnenblumen auf dem Sarg. Warum tragen die denn blaue Overalls? Das ist Arbeit, so einen Sarg tragen. Quatsch, das ist die Arbeitskleidung. Ja, das sind die Söhne von Luginbühl und von Niki und das sind die Mitarbeiter, die den Sarg tragen. Liegt er denn wirklich drin? (Das muß man sich auf schweizerdeutsch vorstellen.)
Das Aberwitzige, wenn nicht Anarchische, blitzt grinsend einen Moment lang in den Schweizerschlippsen auf, über den Bäuchen, oder in den bunten Tüchern um Kopf und Hals einiger Damen, Verwandte, Zugewandte, vom Meister selbst bemalt natürlich. Als ob gerade in den freundlichsten und volksnächsten Gesten Sprengstoff läge. Aber nein. Tinguely liegt im Sarg. Auch wenn er wie ein Springteufelchen jederzeit herauszuspringen droht. Am Altar dreht sich die Sonne, Bestandteil einer Monumentplastik aus verkohlten Bestandteilen von Mengele-Landwirtschaftsmaschinen. Über der Sonne dreht sich in anderer Richtung ein Totenschädel im Licht, das durch die Kathedralenfenster fällt... Tinguely gehört in diese Kirche. Mit allen Widersprüchen. Mit allem Schönen. Mit Rauch. Mit Blumen. Mit Tränen. Nana. (Hier wird ein noch kleinerer Schweizer zitiert).
Vorstellbar sind die Gäste als Spielpuppen, zum letzten Mal vom Meister persönlich aufgezogen, zum letzten Tanz, zum Totentanz. (Übrigens ist das das Thema einer seiner letzten Arbeiten gemeinsam mit Eva Aeppli in der Basler Galerie Littmann.)
Die Eingangstür zur Kathedrale ist mit schwarzem Tuch drapiert. Wie durch einen Theatereingang, ein Hadestor, mündet die Prozession, hinter den Kulissen? Im Fegefeuer? In der Hölle? Im Himmel etwa? Auf einer großen Weltbühne? Oder ein Kammerspiel mit gezückten Taschentüchern?
Eine großartige Show. Ein großherziger Mann. Ein guter Schweizer. Ein begnadeter Künstler. Ein großer Liebhaber von rassigen Frauen und Autos und Militärflugzeugen. Nana.
Lauter Superlative werden einander zugeraunt und «tönen» auch von der Kanzel schwer ins Volk, das ja gar nicht da ist. Es vergnügt sich draußen bei Freibier, Nüßchen und kurzen Salzstengeln.
Die Schweiz verabschiedet einen «Kosmopoliten und Patrioten», der keine Berührungsscheu, auch nicht zur 700-Jahr-Feier kannte. Ein großes Vorbild für alle anderen untreuen und weniger treuen Wichte. Er war sich auch nicht zu schade, er fühlte sich geehrt, dies und das kostenlos für irgendeine Nationalratssitzung zu entwerfen, und und. Nana. Tinguely stört es auch nicht mehr.
Und was war nun in der Kathedrale los? Die Hostessen trugen rote Hosen und Cowboyhut, aber nur bis zum Portal. Die Ordnungsherren in der Kathedrale schwarze Binden und meist schwarz geflochtene Schuhe. Die Blumen rochen betäubend. Die Fotografen blitzten, klickten, klackten und surrten. Verschämt hielt immer wieder einer seinen Apparat und schräg zur Seite, beim Zurückspulen, beim Aufladen der Batterien, als müsse er etwas anderes, peinlicheres, menschliches, erledigen.
Fotografen faßten Ordnungshüter um die Taille, drückten sie auf die Sockel, schossen an deren Ohr vorbei ein Photo von Niki, wie die sich gerade hinter dem Schleier doch schneuzt. Wieder einer drückte einen sanft beiseite und schießt einen Alten im Rollstuhl, der heimlich zu weinen versucht.
Männer also, in langen Reihe Priester, Meßdiener, Galeristen, Poitiker aus der Schweiz und Frankreich, Freunde, Ordnungshüter, Fotografen, Radiomänner... und zwei Witwen.
Und der Bischof. Pierre Marmie. Es ist Maria, sagt der Bischof, die dich an die Hand nimmt und dir die Himmelstür öffnet. Im Paradies, sagt der Bischof, gibt es nichts als Augen, Farben, Licht und Musik... und, so eine Fürbitte: es möge im Himmel ein Künstleratelier sein, für Jeannot und seine Freunde. Einverstanden. Eine klitzekleine Frage: muß es ein Schweizer Himmel sein?



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