Bruno Steiger

Dunkle Urszene des Lesens
Thomas Schestags poetischer Essay «Mantisrelikte»



Eine «Büsserin in mystischer Verzückung» sah Jean-Henri Fabre in dem Insekt aus der Gattung der Fangheuschrecken, Mantis (Seher) nannten es die Griechen der Antike; als Mantis religiosa hat Linné das Insekt rubrifiziert. Im Deutschen ist der Name Gottesanbeterin geläufig. Die Namensgebung des einzigen sich von seinesgleichen ernährenden Geradflüglers bezieht sich auf die Apparatur der Vorderbeine, die im Ruhezustand wie zum Gebet gefaltet sich präsentieren. Für den kannibalischen Fressakt klappen die Beine auf, das Scheinauge zeigt sich auf den Hüftkeulen, aus gleichsam andachtsvoller Starre heraus schlagen die Mordwerkzeuge in den Nacken der die Mantis an Körpergrösse häufig weit übertreffenden, Beute – oder köpfen, bei Gelegenheit, den männlichen Artgenossen noch im Liebesvollzug.
Einer sichtlich faszinierten Lektüre von Jean-Henri Fabres um 1900 erschienenen «Souvenirs entomologiques» verdankt sich Thomas Schestags zentrale Metapher, mit der er das Bild der lauernd-bebenden, der «betenden und beutenden» Mantis in die Lesesituation, in den Echoraum einer Wissenschaft vom Bedeuten transponiert.
Die Ausführungen des erzählerisch hoch begabten Entomologen zur Mantis religiosa – 1987 unter dem Titel «Das offenbare Geheimnis» auch auf deutsch erschienen – sind Schestag gerade da Anlass, sich Einsichten in mantische und semantische, weissagende und deutende Aspekte des Austauschs zwischen Buchstabe und Blick zu verschaffen, wo Fabre selber den «Scheinaugen-Blick» der zur Todesdrohung entfalteten Fangbeine des Insekts mit einem aufgeschlagenen Buch vergleicht. «Klarheit über die Undurchsichtigkeit des Lesens» zu gewinnen ist das Ziel des 1956 geborenen, in Amerika und Deutschland lehrenden Dichter-Essayisten.
Indem jeder Leser als in sein Vorwissen Verhängter, zum gelesenen Seher wird; indem das «Verschlingen» des Buches stets auch wechselseitiges Einverleiben bedeutet, sind es immer Mantisrelikte, die der Akt des Lesens (nicht zuletzt auch derjenige des Lesers Schestag) ausschneidet. Entziffern, Auslegen, Deuten und Gedeutetwerden: Es ist alles Insektion, und was «Verstehen» fasst, sind Opferreste einer fatalen Streuung.
Im Anblick des drohend sich auffaltenden Gespensts, Buch oder Insekt, erinnert der Autor den Ursprung von sema, im Griechischen «Grab» wie auch «Zeichen». Darin zeigt er die Aporie der Grundannahme jeder Lehre von «Bedeutung»: dass «Inhalt» kleiner sein müsse als sein Gefäss. Mit der Metapher der blind sich übernehmenden, buchstäblich fassungslosen Mantis scheint er gleichzeitig den heute kaum mehr befragbaren Generalmythos der Selbstreferentialität um eine verstörende Dimension zu erweitern, wenn nicht am Fundament auszuhebeln.
In dem nicht einzuholenden Verlust des letztevidenten, noch und gerade von den Göttern vergessenen Ersten Worts sieht sich ein Lesender gestellt; in diesem «Milieu des Grauens» wird er verzehrt von der eignen Deutung. Es ist das Milieu der Literatur. In weiträumigen Exkursen zu Maurice Blanchot und Paul Celan findet der Autor seine Beispiele. Sowohl Blanchots «Thomas l'Obscur» wie auch etliche Gedichte aus Celans «Lichtzwang» nehmen explizit Bezug auf die Mantis – im Bann «der Unheimlichkeit, die darin liegt, von einem Wort als von einem Lebendigen gemustert zu werden» (Blanchot).
«Schlecht sichtbar und schlecht nichtsichtbar» sind die Wörter, auch dem lesenden Dichter. In Thomas Schestags luzider, bis in den Einzelbuchstaben assoziationsbereiter Prosa – sie scheint gleichwohl weniger an Derrida denn an einem Manganelli geschult – erweist sich poetisches Lesen als Schreibpraxis; als Zurückdrohen: «Von Zähnen im Nacken des Worts her, den Weg zur Kehle zu bahnen, ein unerhörtes, unhörbares Sprechen, den Sprachab- im -anbruch, einer jeden Silbe, zur Sprache zu bringen, Sprache zu verwerfen. Dem Entsetzen der Sprache, im Ursprung der Sprache, dem Entsetzen im Blick – im Augenblick des Lesens – zu entsprechen.»


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