Bruno Steiger

Das Gras an den Schuhen der Wörter

«Gänsesommer» – Gedichte und Aufzeichnungen von Elke Erb


Neue Zürcher Zeitung, 6. Juli 2005

Gedicht und Kurzprosa, Gedichtreflexion und lyrisches Notat bilden die vier Hauptpfeiler von Elke Erbs literarischem Werk. Ihr mittlerweile gegen zwanzig Bände umfassendes «Ich-Buch», das seit dem 1975 vorgelegten Erstling entstanden ist, wird von Kennern hoch geschätzt, ebenso ihre Übersetzungen und die Gemeinschaftsarbeiten mit ihr nahestehenden Autoren. Erbs immer neu formulierte grundsätzliche Frage nach der Reichweite und der Gültigkeit einer poetischen Wahrnehmung müsste eigentlich auch für eine grössere Leserschaft von Interesse sein. Zu einem «ersten Sehen» möchte Elke Erb in ihren Texten gelangen, zur Rückeroberung einer Perspektive, in welcher die Beantwortung der Frage, «worum» es sich beim jeweils Gesehenen handelt, den Zwischenresultaten unserer Alltagskommunikation anheim gestellt bleibt. Sich kreuzende Sackgassen scheinen es für Elke Erb zu sein; gegen diese setzt sie ihre Kunst.

Im Möglichkeitsraum

«Der Unterschied zwischen gewöhnlichem Reden und künstlerischem Text ist einfach benennbar: der übliche beendet, der andere beginnt.» Das Statement aus Erbs vor zwei Jahren aufgelegtem Buch «die crux» kann als Leitfaden auch für eine erhellende Lektüre ihrer neuen Sammlung von Gedichten und Tagebuchauszügen dienen. «Gänsesommer» lautet der von Emily Dickinson inspirierte Titel des Bandes, mit dem die Autorin ihr Projekt einer poetischen Welt- und Selbsterkundung fortschreibt. Wieder nehmen sprach- und dichtungstheoretische Reflexionen beträchtlichen Raum ein; die Wirkung der «täglichen Dosis Wittgenstein», die sich Elke Erb eine Zeit lang gönnte, zeigt sich freilich nur noch in dem expliziten Bestreben, «allen Sinn zu verdichten, bis er dünn genug ist für die unendliche Schönheit, die vorschwebt».
Dass «Gänsesommer» sich in keiner Zeile auf ein abgehobenes sprachliches Exerzitium reduzieren lässt, macht den Reiz des Buchs auch für den nicht spezifisch geschulten Leser aus. Dennoch muss, wer in den Genuss ihrer Vorzüge kommen möchte, sich auf die Texte einlassen. Belohnt wird man mit jenem Zugewinn an Einsichtsfähigkeit und -freude, den allein Kunst bereithält: als steter Aufbruch aus den Mythen des vermeintlich Belangvollen in den Möglichkeitsraum ästhetisch weiter gefasster Seins- und Bewusstseinsentwürfe.
Mit dem immer wieder in Anschlag gebrachten Scheinproblem einer «sich selbst genügenden» Wortkunst brauchen wir uns in «Gänsesommer» nicht zu befassen. Was Erbs Texte «beginnen» wollen, hatte seinen Ausgang immer schon im realen Leben – und damit in der Frage, wie und worin ein solches Leben sich als «real» erweist. Es ist nach wie vor die Frage nach der Generalmetapher, die uns als Individuen definiert und unkenntlich macht, «Ich» heisst bis heute das Wort dafür. Als «Grenzfall» stellt sich dieses Ich der Autorin dar, im Akt des Schreibens wird es zum Wir, zum pluralen Subjekt eines umfassenden Vergewisserungsversuchs, der sich vorab auf eine «Lust des Staunens» berufen möchte.
Darin wird jeder Anspruch auf Selbstbehauptung hinfällig. «Nenne ich mich, bin ich nichts.» In der Deckung dieses buchstäblich namenlosen Staunens wird das schreibende Ich zum Seismographen seiner auf «leibes-stereo-tiefenschärfe» eingestellten Sinne, Ziel könnte sein, die Autorschaft über sein «Gewärtigen» an das abzutreten, was «der Fall» und der «Grenzfall» zugleich ist: an einen poetisch kontrollierten, das heisst verbindlich offen gehaltenen Austausch zwischen den Wörtern und der Welt.
Auf die Position eines intermedialen Relais mag sich die Dichterin gleichwohl nicht einschränken. «Das, was mich veranlasst, bin ich, und was ich daraus mache, bin auch ich.» Schon dieser Satz aus «Kastanienallee», Erbs 1987 erschienenem Band mit kommentierten eigenen Texten, spricht von einem Ich, das sein Schreiben lebt. Es ist ein Leben ausserhalb der die Welt bewegenden grossen Ereignisse. Erbs «operative Orientierungen» gelten den kleinen Dingen alltäglichster Existenz; «dem Bedeutenden mit dem Unbedeutenden kommen!» ist ihr Credo bis heute. Den Erkenntnisanspruch ihrer frühen «prozessualen Texte» hat sie zunehmend aufgegeben zugunsten eines Begriffs fortwährender Transformation, in welcher die Phänomene nicht immer gleich benannt und gedeutet, sondern erst einmal betrachtet und bedacht sein wollen. Als «Instrument durch & durch» bezeichnet sich das Schreib-Ich von «Gänsesommer». Seine Aufgabe besteht darin, Erfahrungen, Gedanken und Empfindungen im Rahmen einer poetisch gültigen Indifferenz zu «trainieren», um so an der steten Verwandlung der Dinge wie noch mehr am «Vorschweben» ihrer Schönheit teilzuhaben.

Ein Aufbruch

Als Versuch mitzuschweben könnte man Elke Erbs literarisches Unternehmen bezeichnen. Es ist ein Mitschweben, das sich nie über das faktisch Gegebene hinausschwingen muss, um zu den gewünschten Resultaten zu gelangen. Sowohl in den zahlreichen Bezugnahmen auf ihr wichtige Autoren und Autorinnen wie auch in den kleinen Spots aus ihrem unmittelbaren Lebensalltag möchte man Erbs Spracharbeit ein Element von Naturschilderung attestieren. «Denn sie haben noch Gras an den Schuhn, / diese Wörter, die oben genannten, / wie es selbst, das gemeinte Tun.» Auch diese Zeilen sprechen von der physikalischen Dimension einer zwischen «Erschütterung und Spiel» vibrierenden Poesie, die sich als Aufbruch sieht. Es ist, die Autorin lässt keinen Zweifel daran, nicht zuletzt ein Aufbruch aus einer als «Text» verstandenen Welt. Es mag diesen Text geben; lesbar wird er allein in der poetischen Massnahme, die ihn überschreitet, vielleicht auf sein genuines Unbekanntes hin, vielleicht auf uns selbst. Dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Destinationen sich in Elke Erbs Versen nicht ausmachen lässt, ist das beunruhigend Schöne an ihnen.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor