Peter Waterhouse

Staubstürme




Es ist gut, wenn der, der übersetzen wird, die Sprache nicht versteht. «Ich habe aus dem Italienischen übersetzt, das ich nicht verstehe.» - Es ist gut, wenn der Übersetzer die Sprache versteht. Und so kann der Nichtverstehende dem Verstehenden immer wieder ins Ohr flüstern: Dein Verstehen ist eine Art und Weise des Vergessens. Zum Beispiel: «Auch du, verständig und italienisch und vielleicht sogar dekoriert mit Sprache, kannst nur übersetzen, um zu erinnern.» Die Verstehensmenge beiseite geben, im Namen des Erinnerns.
Der wirkliche Übersetzer findet etwas, das 'jener Fremdsprache' voraus liegt. Ein: Ich weiß es nicht; ein unvorstellbarer Zusammenhang; ersucht 'jene Fremdsprache' zu verlernen, zu vergessen, damit das Erinnern zurückkommen kann. Übersetzen ist dann nicht: übersetzen aus 'jener Fremdsprache', sondern übersetzen in eine fremde, fremdere Sprache. Usf.
Der Übersetzer, die Übersetzer werden also wählerisch sein. Nicht alle Literatur, nicht jede Dichtung erfüllt ihren Anspruch. Wer etwa Herrn Enzensbergers Gedichte übersetzt oder Herrn Rühmkorfs oder Herrn Büchnerbiermanns (= die Lage der deutschen Dichtung), der wird gerade ein: achso; ach ja, zu hören bekommen; und: das ist so gut übersetzt/übertragen/nachgedichtet/usf., das klingt ja wie..., und es klingt auch so europäisch (euronal), und es ist so einleuchtend und unkreolisch, vorgestern zuletzt gehört.
Ich habe mir immer gewünscht, daß im Buch nicht etwa stehen darf: Aus dem Italienischen von ... ; Ins Deutsche übertragen von ..., - sondern: keine Bezeichnung der Sprache, nur: Übersetzung von ... ; In einer Übersetzung von ... ; besser noch: Übersetzung.
Übersetzung; wie wenn da auch stehen könnte: Erinnerung. 'Andrea Zanzotto. Lichtbrechung. Ausgewählte Gedichte. Erinnerung.'
Es trifft sich, daß dem wählerischen Übersetzer die Dichtung Andrea Zanzottos Antwort gibt. Wie kommt aus dem Staubsturm die Gestalt? Wie kann das Brausen zugelassen werden? Wie kann es in der Sprache, dem Vergessenssystem, erhalten werden? Es gibt also in der Dichtung Andrea Zanzottos die Pfingstlichkeiten, Sprache als die unmögliche Fülle, Sprache als Dotter.

Infra und super Strukturen, und Strukturen,
so weit die Sicht reicht das Tasten die Spuren,
und unsereiner dreht sich dorthin und löscht,
es ist ein Lächeln
das ich erfuhr eines Morgens in der Jugend
gleichgültig ob Mai war oder Schnee.

Das Gedicht, aus dem diese Verse genommen sind, das Gedicht «In einer blöden Vampiergeschichte» beginnt mit dem Satz(?): «Wo das von Gaze verhüllte Objektiv / und die und die gestaltlosen Bilder...». Eine Unbegrenztheit ist sogleich im Spiel (wie das Superflimmern im Gedicht «Frost», die Wirklichkeit der unzählbaren Schwestern): wo das Objektiv..., der Nebensatz endet ohne Ende, oder er wird von einer sogleich ausgelösten Fülle überboten/weitergeführt: und die; aberdieses 'und die' endet ebenso unendlich - jedes plurale Substantiv könnte dem Artikel angefügt werden. Warum diese Endlosigkeit? Weil die Erinnerung geweckt worden ist und sie sich anders bewegt als die Linie der Sprache. Die Sprache macht Linien, aber die Erinnerung hängt wie Haselnüsse im Strauch.
Die Erinnerung weiß von einer anderen Konsistenz, anderen Identität. Das ist eine Identität der Angrenzungen. «Wo das von Gaze verhüllte Objektiv», diesem Satzteil folgen lauter Angrenzungen, in solcher Fülle, daß die Sprache still wird, stille Mischung aller Wörter. Es möchte so weiter gehen: und die und die und die. Manche dieser Gedichte könnte man nahezu übersetzen in Und Und Und -
Und die Erzählung «Geheimnisse» des Regens mischt vier Schauplätze: die regnerische Stadt, durch die der Erzählende geht; das Zimmer, darin Karten gespielt werden; das zum Sonnenuntergang gewendete Zimmer mit den grünen Halbschatten; das Abteil eines in die Berge fahrenden Zuges. Das Erinnern ist ein 'weiches Denken', plasmatisch; darin sind eine regnerische Stadt und das Innere eines Eisenbahnabteils nahe beisammen, verlieren ihre Individualität, ihre Spaltung, zugunsten von Verlernung, Auflösung der Festigkeit, Regen. Es regnet in der Erzählung; man mag auch sagen: es herrscht Erinnerung.
Brüche in den Gedichten. Sind es wirklich Brüche? Oder Öffnungen für eine andere Strömung, jenseits des Idioms kommende und fließende Sprache? (Sprache als Erinnerung an Sprache?) Zum Beispiel gibt es die Strömung der Dämmerung und der Nacht. Im Gedicht «Sitze und Stätten» stehen die umherverstreuten Vitalben, Waldreben, Gesträuch aller Art. Das zunächst in den vereinzelten Sträuchern (oder Stätten) gedämpfte Zwielicht kommt dann - 'Flug' - am Abend vergrößerter, allgemeiner Bewegung und legt sich über alle Dinge in der Landschaft und erzeugt eine dunkle (a-dingliche) andere Konsistenz; (Gestalt aus Stellen); am Ende des Gedichts schließlich der neue Strauch, die eine dunkle größere Vitalbe, die Nachtrebe (Schlaf, Grauzone, Ungestalt).
Oder der Nußstrauch, der zu St. Rochus reif werdende, hält an Ästen ausgestreckt einen 'Teilchenhandel' - wieder eine besondere Art von 'Regen' (oder 'Reigen'), Nüsse gebettet in einem grünen Kreis.
Wie halten die Gedichte zusammen, festigen sich? Ist es jetzt richtig? Weißt du etwas? Vielleicht ein Staubsturm hält sie zusammen, und im Winter Schneegestöber (ZONNYMIXOHNYMI). Zuletzt eine Bewegung des Zusichkommens, durch die Vergessenheit hindurch, eine plötzliche Fassung, am Ende des Gedichts «Im kleinen Tal Richtung Dolle» ein 'Segen', am Ende des langen Gedichts «Nix Olympica» eine 'Heimat', Wirbel-Heimat, Heimat als Fülle von Heimaten. So ist die Leseerfahrung bei diesen Gedichten immer neu die Unsicherheit und die Gefaßtheit, reiche Unsicherheit und einfache Gewißheit.
Damals wußte ich wie nie sonst zuvor und sah daß dort meine Heimat zwischen den vielen, als Überschneidung, geschah und nahm es nicht hin, daß diese Heimat dieses Idion mich vergessen und vergessen hatte und daß ich in Frage gestellt und abgelehnt wurde, zu essen bekam und hungrig war ............................................................

So lang wie jener Abend-jetzt-Sturm
solus ad solam

'Mio comporre compitare/mein Zusammensetzen Buchstabensetzen'. - Draußen läuft vor dem Fenster vorbei ein Kind und ruft herein: «Ich kann schon das E-B-C-D!» - Buchstabenwerk, Strauchwerk, (und ein Strömen in den leichten Ästen) (und Vögel): / so daß ich an Gitter aus leichtem Gezweig und Vögeln / und reinem // totem Holz der Zäune / den Kopf lehne als hielte ich Rast.
Hier also, in den Schriften von Andrea Zanzotto, ist der Weg der Dichtung wieder eröffnet: Umkehrung der Sprache in Erinnerung.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor