Peter Waterhouse

Selbstauskunft




(Juli 1986, Leibniz schweigt)

Die Augen sind beinah unterbrechungslos offen, aber über das Sehen ist schwer sich einigen. Man liegt sehr oft zwischen Blumen undsofort einer Wiese und weiß viel. Am Ende des Nachdenkens hat vielleicht alles falsche Namen. Ein Glas Wasser getrunken macht den Menschen innen nach großer Heiterkeit rufen. Das flache Gesicht kennt sich selbst hinter diesem Gesicht. Das Sehen geht weiter.
Nachmittags entstehen Worte wie: Ohrensausen, Rollschuh und andere, und es ist mit diesen Worten fast ein Umgang mit dem Abgrund gefunden. Unterschätzt ist immer das eigene, und das ist gut, und dann ist es nicht gut. Konstruktion, ja, und diese wieder ins Gespräch gebracht mit etwas anderem, das weiter geht, wie das Sehen. Eine Einberechnung der Nacht, ein eigener Atmender die Verzweiflung, die Bewegungen in ihrer unbenennbaren Entstehung, der Himmel als Wahnsinn und als das, welches wieder nebensächlich werden kann. Hier gibt es kaum das Beginnen oder das Schreiben, die Situation kommt derjenigen nahe, in der man sehr leicht wird. Nach einem geglückten Satz ist man fast nichts.
Ende der Steuerung, das ist manchmal ein froher Gedanke und bald schon nicht froh. Auch was man als das beste will, unterliegt einem Verrat. Etwas kommt und ist sogleich weitergegangen. In sehr unsicheren Augenblicken, von denen es ansonsten wenig zu berichten gibt, sind Nacht und Licht dasselbe.
Das Wort Rettung wird vorgebracht, man verläßt in einer mißverständlichen Stimmung den Raum. Das Schwerste, das Festeste, das Hausartigste verhält sich auch fliegend. In einem solchen Haus lebt man, und es steht ohne Bewegung auf einem Keller der Stadt.
Eine Poetik, ja, eine, die das Nichtgeschriebene betrifft. Sozusagen Leibniz schweigt.

zu: MENZ

ICH: KIRSCHE wurde im Sommer 1983 im Erstaunen darüber geschrieben, wie unerreichbar und beinahe als pures Gegenteil die Realität selbst vor einem unbeschwerten Spaziergänger am Stadtrand herumliegt. Über dem Skandal, daß die Kirschen, so nahe wir sie vor uns bringen, tief geheimnisvoll und fremd sind und in ihrer Rätselhaftigkeit schon immateriell, letztlich nur zusammengehalten durch die sprachliche Berührung, die Anrede, entstand der Wunsch, die Grenzwerte aufzuspüren und vorsichtig die betreffenden Linien zu übertreten. Realitätsanarchismus ist das wohl zu nennen.
ICH: KIRSCHE ist zweiter Teil der Gedichtsammlung MENZ. MENZ ist der Versuch, aus einer sprachlichen Verstrickung herauszutreten. Aber was ist das Gegenteil von Verstrickung?
Man könnte sagen: Menz macht einen Ozeanflug; er fliegt von Europa nach USA und später von USA nach Europa. Während der Flüge entsteht öfters der Gedanke: Ich mache auch einen inneren Ozeanflug. Aber das geht nicht, denn wer ist jetzt Menz und wer ist ich und wo ist der innere Atlantik? Keiner hat ein solches Meer und keiner ist ein innen fliegender Vogel. Nur die Vögel sind Vögel, Wasser Wasser. Es ist jetzt einer (über den Namen ist kaum mehr zu sprechen) gezwungen, seine Welt in bester Weise zusammenzuhalten. Wer ist das und wie macht er das? Man hat einen Verdacht: Menz = keiner (keiner ist ein innen fliegender Vogel)? Hin- und Rückflug ereignen sich entlang der Tropopause. Menz in der Tropopause oder Menz als solche Pause: Kann man das sagen.
O, wäre es nicht schön, etwas theoretischer zu leben? Zum Beispiel: «2.04 Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.» Oder: «2.174 Das Bild kann sich aber nicht außerhalb seiner Form der Darstellung stellen.» Aber ist nicht gerade das Menz passiert: außerhalb seiner Form der Darstellung zum Stehen zu kommen? Warum ist es dazu gekommen? Lenz «stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen.» Aus dieser Haltung hat sich wer schon bewegt?

ICH: KIRSCHE

Ludwig Paulmichl: Handeln die Gedichte in deinem Buch «Menz» nicht vom Menz-Menschen und, wie du selbst in einer Nachbemerkung zum Zyklus ICH: KIRSCHE schreibst, von Keinem, d.h. also doch zumindest von etwas, als immerhin sprachlich zu materialisierenden Keinem; das oder der «Etwas», der, in Auflösung begriffen, die Welt zusammenhält mit der Benennung von Dingen, also Objekte und Ich werden verzweifelt benannt, in der Hoffnung, das Ich abzugrenzen?

Peter Waterhouse: Ja. Die Antwort glaube ich, steckt schon drin in der Frage. Ich würde also ein kurzes «Ja» drauf sagen. Also, daß sie von Keinem handeln, das denk ich mir auch, sie handeln von dem, was man nicht hat, das ist derjenige, der als Keiner bezeichnet wird in dieser Nachbemerkung, und daß sie nicht von einem Inbegriff des Menschen ausgehen, auf den wir uns in einer Übereinstimmung berufen können, das leite ich aus dem Titel ab, daß der Titel einerseits das Wort Mensch als Erinnerung, als Assoziation anbietet, aber doch einen anderen Namen setzt.

LP: Ist dieses Ich dann als Teil der sogenannten Substanz, in der Auflösung des Ich und des Materiellen, nicht mehr erkennbar? Das sprechende Ich in den Gedichten und deines, der du schreibst, aber dieses Ich immer wieder zurücknimmst, löst sich schon in die Objekte hinein auf, weil manchmal ein Ich fragt und die Welt darauf antwortet.

PW: Ja, es löst sich in verschiedene Erscheinungen auf, sehr oft ist es kein Ich, sondern ein Wir, die erste Person ist, glaub' ich, häufig selten in den Gedichten, zumindest ist das Wir die häufigere Erscheinung und genauso häufig ist diese Identität, die spricht, nicht eine subjektive Identität, sondern gleichgesetzt mit den Dingen.

LP: Praktisch sprechen dann schon die Dinge?

PW: Ja, die Dinge sprechen, aber nicht, weil sie eine magische Bedeutung haben, sondern weil das Ich nicht sprechen kann; es geht nicht darum, eine magische Qualität aus einer Kirsche, einem Apfel oder aus einem Sessel zu ziehen und zu zeigen, daß diese Dinge etwa belebt sind, sondern sie sprechen anstatt eines Subjekts oder anstatt eines Ichs.

LP: Du schreibst «Es gibt keine Zeichen», aber dann kommt das Rätsel und das löst sich dann in dem Gedicht «Projektive Geometrie» so auf: «Wenn wir restlos beseitigen die Metaphern, restlos wir uns beseitigen». Das bedeutet, daß die Sprache doch ein Gefüge haben muß, denn dieses Uns ist ja nicht nur das menschliche Uns, sondern ebenso auch jenes der Umwelt und diese Verbindungen hält doch die Sprache, sie hält alles unseres Bewußtseins zusammen, oder siehst du das anders?

PW: Ich glaub', daß man diese Stelle schon so sehen kann. Bei mir steht aber eher der Gedanke da, der Verdacht, daß die Sprache durch und durch metaphorisch, nämlich uneigentlich ist und daß auch dieses Rebellieren gegen die Bildlichkeit und gegen die sprachlichen Übereinstimmungen doch auch wieder gefangen ist, in einem System, das beständig metaphorisch uneigentlich bleibt. Wenn man vollkommen auf die Metapher verzichten würde, auf das Metaphorische und damit auf die Sprache, dann gibts kein Medium mehr, ich würde nicht sagen, um sich selbst zu finden, weil dies überhaupt nicht der Anspruch ist, in diesem ganzen System, es geht nicht um die Suche nach einem Mittelpunkt oder einer Identität, sondern es geht eigentlich ständig um das Gegenteil der Identität und ich weiß nicht was das ist, wie man das überhaupt bezeichnen kann, was das Gegenteil des Identischen ist, aber das ist sozusagen der Ort, auf den sich die Gedichte überhaupt beziehen, oder ein archimedischer Widerspruchspunkt. (...)

LP: Meine Interpretation der Gedichte war als Frage formuliert so: Welches Sinngefüge ergibt sich, wenn der Benennende meist schon selbst der Benannte ist? Ich bin davon ausgegangen, daß das Ich und die Substanz sich vermischen und die Sprache als darüberbefindliche Ebene sich breitet, wo sowohl Ich als Teil der ganzen Substanz ist, aber nur das Ich die Sprache hat. Und diese Selbstbenennung soll den Auflösungsprozeß in der Realitätserkenntnis verhindern. Der Narziß erkennt sich selbst, sagt Ich Ich oder Wir oder Uns und spricht den Wunsch nach Subjekten aus. Gleichzeitig löst sich aber dieser Wunsch auf und geht in die Objekte hinein. Also wie weit neigt die Spiegelung von sich selbst im Umliegenden zu einem Verständnis der Realität? Aber vorhin hast du widerlegt, daß die Sprache Realität verständlich machen kann.

PW: Ich will keine Interpretation vorschreiben. Was ich da sage, ist rein aus meinem gegenwärtigen Neigungswinkel gesprochen und hat überhaupt keinen erhöhten Anspruch. Was aber diese Realitätserkenntnis betrifft, so sage ich jetzt halt, außerhalb der Gedichte, daß dieses Sprechen der Dinge für manchen Leser durchaus eine Erkenntnis bedeuten kann und ein Sinngefüge herstellen. Der Vorgang für mich ist eher der der Überraschung den Dingen gegenüber, und um diese Überraschung, daß es Dinge, die teilweise sehr sinnlich sind, überhaupt gibt, um diese Überraschung zur Sprache zu bringen, liegt für mich ein Mittel darin, überhaupt die Dinge sprechen zu lassen. Ich glaube nicht, daß es da um eine Gleichsetzung von Ich-Substanz und objektiver Substanz geht, oder um eine Harmonisierung zwischen Innenwelt und Außenwelt, da sehe ich eher im Gegenteil, daß dieser Bruch zwischen Innenwelt und Außenwelt eine Verwunderung auslöst und für mich gerade die konkreten Dinge, die in den Gedichten angesprochen sind, einen belustigenden Wert haben. Ich staune darüber, daß es Obst gibt, das ist vielleicht ein ganz dummes Staunen, aber gerade das Staunen über die Dinge läßt dann die Dinge vielleicht sprechen.
Aber es geht nicht um die Spiegelung, daß ich mich in den Kirschen quasi spiegele und mich selbst darin identifizieren kann, sondern gerade die Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Subjektivität verführt einen dazu, sich als Kirsche zu sehen. Man ist aber tatsächlich keine Kirsche, aber in dieser großen Hilflosigkeit sich selber nicht zu fassen zu bekommen, nennt man sich, in seiner Verlegenheit, Apfel und läßt einen solchen sprechen, wie man selber spricht.

LP: Aber ist es nicht so, indem du Kirsche siehst und sie benennst, daß du versuchst, der Kirsche näherzukommen?

PW: Der Kirsche als Ich?

LP: Dem Ich der Kirsche oder deinem Kirschen-Ich!

PW: Welches Ich das ist, das entgeht mir eher. Es ist schon ein Näherkommen damit verbunden, aber wer wem näher kommt in diesem Vorgang, das sagen die Gedichte eben nicht.

LP: Aber an und für sich müßte man schon sagen können, daß die Sprache ein vermittelndes Drittes ist.

PW: In dieser Hinsicht trau' ich mich über die Sprache keine Theorie aufzustellen.

LP: Nach Roland Barthes ist jeder Diskurs schon ein Machtanspruch oder eine Machtausübung durch den Sinn. Wie ist es dir dann möglich, dieser Macht in den Metaphern keine Bedeutung zuzumessen? Der Leser wird immer nach Sinnverknüpfungen suchen und das bedeutet, daß du voraus bist in deinem Sinne oder Nicht-Sinn.

PW: Letztlich wird der Leser den Sinn aufsuchen oder finden darin. Und in dem Moment, wo Sinn angesprochen ist, ist auch wieder Macht angesprochen, das glaube ich auch. Aber von mir aus gesehen versuche ich, Strategien zuzuspitzen, um den Sinn möglichst lang hinauszuzögem, daß er dann immer noch vorhanden ist und im Dialog mit einem Leser wiederhergestellt wird, das kann ich derzeit nicht verhindern und daß Identitäten wieder gesucht werden, d. h. das Flüchtige wieder fixiert wird und damit Macht über die Welt und die Dinge gewonnen wird. Aber was die Herstellung der Gedichte betrifft, so ist der Vorgang für mich der, dem Sinn mit möglichst vielen Tricks zu widersprechen und in eine möglichst große Ferne hinauszuzögern. Daß diese anti-ideologische Haltung selber wieder als Ideologie bezeichnet werden kann, das ist mir schon bewußt, aber zumindest ist die Intention da, das Gespräch, das vom Identischen ausgeht, zu zerstören, und das heißt auch die Macht zerstören. (...)

LP: Der Wiener Kreis hat die Kunst unsinnig genannt, deshalb dürfe sie alles tun. Er behauptete für die Wissenschaft die Verifizierbarkeit von Daten und Fakten, aber Kunst und andere nicht- wissenschaftliche Dinge fielen aus der Verpflichtung heraus, weil sie schlichtweg, nicht sinnlos, sondern eben unsinnig schien.

PW: Ja, da kann ich nur ja sagen.

LP: Ist das dann für dich nicht erschreckend, wenn Fluchtversuche für dich von vorneherein schon abgeschnitten sind, in einem definitorischen, zumal bürgerlichen, Umfeld?

PW: Das liegt jetzt nur an der Begrifflichkeit. Wenn man von Fluchtversuch redet, dann beginnt man sich bereits zu freuen, also die meisten sind ja durchaus interessiert am Unsinn, also je nachdem wie man das jetzt bezeichnen will, daß das schon eine von einer bestimmten Wissenschaftsrichtung vorgezeichnete Flucht ist, wer das so sieht, gegen den werd' ich nicht streiten, aber der bringt sich um das Vergnügen des Unsinns.

LP: Nach mir ist der Unsinn ja auch schon gesellschaftlich festlegbar, nämlich enthoben in den Bereich des Unproduktiven.

PW: Du meinst, er sollte in den Bereich der Produktivität eingefügt sein?

LP: Nein, ich meine es so, daß die unproduktiven Möglichkeiten für den Menschen größer werden sollten, aber momentan wird ja alles nur nach Produktivität bemessen und genauso hat dieser Unsinn seinen Freizeit und Erholungsbereich innerhalb der Produktivität.

PW: Ja, das sehe ich auch, aber die Frage, wie man diesem Scheinsinn, der der Produktion zugrunde liegt, wie man gegen den arbeiten kann, welches überhaupt die beste Rhetorik gegen den Scheinsinn ist, diese Frage stellt sich mir, aber ich kann sie nicht beantworten, mir ist klar, daß die sogenannte Unsinnsproduktion sich in einem Privatbereich abspielt, zumindest in einem politisch ganz unbedeutenden Bereich. Zwar könnten die Gedichte, z.B. wie der Oskar Pastior sie schreibt, das gesamte scheinsinnvolle Denken des Parteiwesens auf den Kopf stellen, tatsächlich sind es aber in geringen Auflagen versteckte Kostbarkeiten, sozusagen, die diesen gesellschaftlich vorgegebenen Identitäten nicht zu Leibe rücken können. Das Vorgegebene ist übermächtig. Wenn man dem Unsinn nicht traut, dann frage ich mich, welche anderen Techniken es gibt, um dem Vorgegebenen wirklich beizukommen und ich denke auch, daß das revolutionäre Denken sich in unserer gesellschaftlichen Lage genauso privatisiert hat. Was ich damit sagen will ist, daß die realistische Literatur, die auf der inhaltlichen Ebene ihre Widersetzlichkeit zeigt, genauso hilflos ist; ich will sie damit in keiner Weise schlecht machen, sie interessiert mich genausosehr wie eine sprachlich experimentell ausgerichtete Literatur. Ich kann nicht sagen, daß ich eine der beiden Richtungen als Leser bevorzuge, aber ich sehe auf seiten der realistischschreibenden Autoren keine Techniken, die dem Unsinn überlegen wären.

In den Menz-Gedichten scheint es, daß die Subjektivität und der Unsinn fast gleichzusetzen sind.

LP: Du setzt Subjektivität und Unsinn gleich. Welche Möglichkeit oder welche Hinwendung zu einer Erkenntnismöglichkeit intendierst du überhaupt, oder wenn du willst, Weltschau?

PW: Weltschau nicht; zu einer zögernden Erkenntnis, ich glaube, die kann man nur an den einzelnen Stellen immer wieder finden, aber generell glaube ich, liegt die Erkenntnis darin, daß die Erkenntnis, die den Erkenntnisgegenstand instrumentalisierbar macht, daß die den Gegenstand nicht findet, und hinter einer solchen Erkenntnis steht der Versuch, etwas festzuhalten, wie ein Instrument, etwas in die Hand zu nehmen, in der Beobachtung der Dinge, während die Erkenntnis, die hier angeboten wird, wenn es überhaupt eine Erkenntnis ist, eher im Loslassen liegt, den Gegenstand wieder aus der Hand zu legen. (...)


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