Carsten Schwedes

Der Schatten der Scham
In einem deutsch-amerikanischen E-Mail-Wechsel leuchten Birgit Kempker und Robert Kelly die schamverschatteten Winkel ihrer Gedanken und Gefühle aus. Kein Röntgenbild, vielmehr ein Kaleidoskop des Schamgefühls ist dabei entstanden.


www.titelforum.de, Februar 2005

«Bücher sind dickere Briefe an Freunde.» (Jean Paul) Doch statt an Herbsttagen zu wachen, zu lesen, lange Briefe zu schreiben und endlos zu monologisieren, kann man ja auch mal mit jemandem reden, zu dem man nur per E-Mail Kontakt hat. Ein Gespräch über ein Thema, bei dem man sich zwangsläufig näher kommt. Ein Gespräch, bei dem man sich vorsichtig einander nähert. Ein Gespräch, bei dem es darum geht, den anderen und sich selbst kennen zu lernen, einzelne Punkte aufzunehmen, weiterzuspinnen, statt den Gegenüber gleich mit Fragen festzunageln. Auf ein solches Gespräch in Form eines E-Mail-Austauschs haben sich die deutsche Autorin Birgit Kempker und der amerikanische Autor Robert Kelly eingelassen.

Was ist Scham?

Was ist Scham und wofür schäme ich mich? Um diese Fragen kreist das literarische Zwiegespräch, in dem sich die beiden Autoren zunächst vorsichtig an diesen empfindlichen Bereich herantasten. Die Antworten fallen zunächst – wie man es bei E-Mails durchaus erwarten konnte – relativ kurz aus, werden jedoch bald umfangreicher und lassen von Anfang an Spielraum für freie gedankliche Assoziationen. «Not the same. Knote den Samen. Notiere den Namen.» Statt eines konventionellen Gesprächs entsteht so ein Nebeneinander oder eine Überlagerung von Motiven, die immer wieder aufgenommen und variiert werden, so dass viele unterschiedliche und unerwartete Aspekte der Scham aufscheinen. Erlebnisse werden erzählt, die allgemein gehaltene Aussagen anschaulicher werden lassen und Intimität vermitteln. Realität? Fiktion? Eine eher unwichtige Frage. Literarische Voyeure kommen bei Kempker und Kelly nicht auf ihre Kosten. Wohl aber diejenigen, die sich auf ein Wechselspiel von Gedankenexperiment und Wortkunst einlassen.

Ein Wort, einmal ins Spiel gebracht, löst hier zuweilen eine Lawine von Erinnerungen, Anklängen und Assoziationen aus. Sprache als Wecker der unter der persona schlummernden Empfindungen. Einerseits. Andererseits aber auch die Möglichkeit, sich selbst und den anderen als Figur in einem Schauspiel zu erschaffen. Mal entsteht so ein – im Hinblick auf die Redeanteile – eher sokratischer Dialog, mal wird daraus ein Dreigespräch. Positionen werden konstruiert, bezogen und wieder verlassen. Der Spielcharakter, den dieses Gespräch trotz seiner zuweilen existenziellen Eindringlichkeit auch gelegentlich annimmt, wird auch von «Promised Pop-Songs» unterstrichen, lyrischen Inseln in diesem Gedanken- und Erinnerungsstrom.

Scham markiert Unterschiede

«Die Scham ist ein Riss»: sie markiert Unterschiede zwischen den Menschen. Die verschiedenen Muttersprachen der Autoren sind nur einer der Unterschiede, die dieser Kollaboration Brisanz verleihen. Eine – manchmal kommentierte – Übersetzung durch die Autoren ist der Originalfassung gegenübergestellt. Meinungsunterscheide werden auch durch die Übersetzung ausgetragen: aus Kempkers «O Rilke I hate you» wird in Kellys Übertragung «Ach Rilke liebe ich sehr». Allerdings verringert sich die Sprachdifferenz zwischen Kempker und Kelly teilweise dadurch, dass beide auch Textpassagen in der Sprache des anderen schreiben. Anglizismen und auch offensichtliche Fehler in der Fremdsprache werden nicht kaschiert und lassen erkennen, wie sich die Gesprächspartner auch sprachlich einander nähern. Der Eindruck spontanen, ungeschminkten Schreibens entsteht, unterstützt durch häufig fragmentarische Abschnitte und kurze Sätze. Eben kein klassischer Briefstil, wie bei vielen Autorenbriefwechseln, sondern eine Folge rasch skizzierter Gedanken.

Zwischen Zeigen und Verbergen

Zusätzliche Intensität erhält diese Kollaboration durch die Geschlechterdifferenz. Natürlich ist die männliche oder weibliche Perspektive den Texten eingeschrieben. Aber versetzt sich nicht vielleicht hier und da jemand in die entgegengesetzte Rolle und schaut, was dabei herauskommt? Scham hat natürlich auch etwas mit ihrem Gegenteil, der Entblößung, zu tun; besonders dann, wenn die Schatten des Schamgefühls ausgeleuchtet werden sollen. Bei Kempker und Kelly ist kein literarischer Exhibitionismus herausgekommen, sondern die Texte oszillieren zwischen Zeigen und Verbergen, zwischen dem Überwinden und dem Aufrechterhalten mit der Scham. Natürlich spielt Sexualität eine Rolle, jedoch geht es weniger um Verklemmtheit im Umgang miteinander, sondern um das Problem der Körperlichkeit allgemein. «Seele im Fleischrock.» Die Sprache wirkt dabei wie ein Kaleidoskop, das keine einfache Abbildung liefert, sondern ein vielfältiges Spiel der Facetten des Schamgefühls entstehen lässt, wobei auch drastische Ausdrucksweisen mit dazugehören: «Frauen sterben am Hals, werden durch die Kehle getötet, wenn es ihnen die Gebärmutter nicht von unten brutal von selbst besorgt…» Birgit Kempker und Robert Kelly versuchen in ihrer sehr interessanten Kollaboration nicht, die bestehenden Unterschiede in ein einheitliches Bild aufzulösen, sondern lassen ausdrücklich Differenzen zwischen den verschiedenen Ansichten zu.



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