Raoul Schrott

Die Mitte zurückgewinnen




Raoul Schrott im Gespräch mit Urs Engeler

Das Bretonische gehört zum Stamm der gälischen Sprachen wie das Irische, das Schottische, das Walisische, das Cornische, und wie das Slawische, das Vedische und das Griechische ist das Gälische eine Sprache, die auf indoeuropäische Wurzeln zurückgeht. Es ist von allen diesen Sprachen diejenige, die die indoeuropäischen Wurzeln am längsten bewahrt hat. Deshalb findet man dort das älteste Paradigma von Worten. Das läßt sich zurückbeziehen auf die Lyrik, so daß sich dort ein Grundparadigma finden läßt, das die Dinge angibt, die im Zusammenhang mit Poesie stehen.
In Irland gab es eine Kaste von Dichtern, die gleichzeitig auch Rechtsgelehrte, Doktoren, Auguren, Schriftgelehrte, Historiker undsoweiter waren, die die filid hießen. Das bedeutet «die Seher», weil sich die Kunst der Musik und der Dichtung ableitet von fil, «da ist, schau». Gleichzeitig waren die filid integriert in eine Schule, die Dichtung, Gesetzgebung und Geschichte mit einschloß, und die hieß filidecht. So daß man sagen kann, wenn jemand heute von poeta doctus redet, dann redet er von der doxa, von der Lehre, die die Dichtung als die zu erinnernde Form immer schon tradiert hat. Was das Mnemotechnische betrifft, war Dichtung ja hauptsächlich dazu da, Geschichte, Stammeskunde, soziale Herkünfte und Siege weiter zu tradieren, weil sie die einzige Kunst war, diese Dinge so zu formulieren, daß man sie auch im Gedächtnis behalten konnte.
Das Wort creth, was «Dichtung» heißt, ist eng verwandt mit dem altirischen cruth, was «Form» bedeutet und mit den indoeuropäischen Worten für Magie, Verzauberung und jede Art von Transformation verbunden ist. Etwas in eine Form bringen, ist eine Transformation, die etwas mit Magie und eben mit Dichtung zu tun hat.
Fil heißt «da ist, schau», aber fel heißt die poetische Kunst, die mit der musikalischen verwandt ist: fel und fil, die Musik und das Bild. Das Ganze aber hat noch eine andere etymologische Wurzel, indem es zurückgeht auf das altgriechische fath, was soviel heißt wie «Prophezeiung, prophetische Weisheit», und fil ist auch verwandt mit dem Wort faith, was auf Altirisch «Prophet, Seher» bedeutet. Das geht dann wieder prinzipiell zurück auf die Inspiration, auf den Atem und auf den Wind.
Dann gibt es noch das altirische Wort für die Kunst der Poesie, also nicht die Poesie selber, welches zurückgeht auf das Wort ai, Genitiv uath (woher der lateinische vates kommt), was etymologisch in Verbindung steht mit séis, «die musikalische Kunst», clúas, «Ohr, das Hören», guth, «Stimme» und anál, «Atem».
Die drei traditionellen Künste in der irischen Kunst, die damals ein Dichter zu leisten hatte, waren erstens teinm laeda, das prophetische Kauen des Baummarkes, zweitens imus for-osna, die Divination, die erleuchtet, und drittens dichetal di chennaib, die Inkantation vor den abgeschlagenen Köpfen. Die Kelten schlugen die Köpfe ab, weil die für sie heilig waren.
Alles zusammengenommen, diese Konstanten und Koordinaten der Poesie, merkt man, daß die Dichtung aus dem Ritual und vom Orakel kommt und sich nur langsam über Jahrhunderte von der religiösen Funktion ablöst, ohne daß sie jedoch ihren sakralen Ursprung jemals verleugnen könnte.

Den Zug, den das Gedicht nicht loswerden kann, ist die doxa, also daß es in irgendeiner Art eine Lehre weiterträgt, und wenn es nur ist, daß es sich an einem Fachvokabular abarbeitet, wie etwa die Perspektive in Kirchstetten oder Hestia und Hermes in den Hotels; das Vokabular als ein Rückgrat des Gedichtes.
Das zweite ist das, was schon allein im Mechanismus der Metapher begründet ist: In der Metapher werden zwei Dinge gegeneinander gestellt und damit zwei mentale images übereinander gelegt. Damit erzielt man etwas, was der Operation entspricht, die der Mythos in einem kursiven Text leistet. Die Metapher ist ein verkürzter Mythos. Die Funktion des Mythos ebenso wie der Metapher ist, die Welt auf menschliche Proportionen zu reduzieren, sie in ein menschliches Paradigma einzugliedern, also eine Art von Transformation. Das ist die Operation, die der Mythos in Prosa nachvollzieht, indem er die Geschichte erzählt, die die Metapher einfach aufstellt, und je nachdem, wie weit sie hergeholt ist, hat er eine ziemlich große erzählerische Arbeit zu liefern. Eine gute Metapher liegt immer etwas weiter weg, und bei einer gewagten Metapher liegen die beiden Begriffe sehr weit auseinander, aber die Metapher beschreibt von vornherein ein Spannungsverhältnis. In diesem Spannungsverhältnis steht das Gedicht. Was ein gutes Gedicht leisten kann, ist, Emotionen und Intellekt, Rationales und Irrationales, Humanes und Inhumanes miteinander in Verbindung zu bringen, also Disparates zusammenzuzwängen und auf einen Punkt zu bringen. Und dieser Punkt ist notwendig ideell, symbolisch, irreal, metaphysisch. Er liegt jenseits der Erfahrung der Sinne und ist das, was die Dinge für uns als Idee sind.
Der Mechanismus, der das gewährleisten kann, ist das musikalische Element, weil es eine Einheit suggeriert, die logisch, rational nicht vorhanden ist. Es appelliert ans Kleinhirn. Mit dem Kleinhirn nimmt man Suggestionen viel schneller auf und überlistet damit das Großhirn. Bis es merkt, daß die Dinge, die es vorgesetzt bekommt, logisch inkompatibel sind, ist man schon wieder vier Zeilen weiter, während sich das Großhirn immer noch abarbeitet oder einfach aufgibt, weil es nicht so schnell folgen kann wie die Suggestionen, die eine Harmonie von Dingen suggerieren, die einfach nicht vorhanden ist. Jedes Gedicht lebt davon, daß es uns über die Musikalität, über Rhythmus und über Reim, über optische Signale eine Einheit suggeriert, die, wenn wir es nüchtern betrachten, gar nicht vorhanden ist. Das Gedicht denkt über die Musik, und die Musik ist das, was Logos und Mythos, was Rationales und Irrationales in Deckung bringen, synchronisieren kann. Das ist Sprachmagie. Es nützt eine Einheit der Sprache aus, die dich zwingt, im Kopf eine Einheit der Gedanken und des Denkens herzustellen.

Eigentlich sehe ich die Lyrik als eine jahrtausendealte Maschine, die einen mehr prägt, als man sie selbst prägen kann, ob man will oder nicht: es stehen nur Metaphern, Vergleiche und similes zur Verfügung, da man mit Bildern und Musik immer auf einer Ebene ist, wo Signifikate gegen Signifikanten ausgespielt werden. Das erzeugt eine Flächigkeit von Bildern und damit eine Abstraktion auf einer Metaebene, die im Grunde dieselbe Ebene ist, zu der auch die Metaphysik oder die Religion oder alles andere führt, was über die Dinge hinausgeht. Ich schaffe irreale Dinge, indem ich die Dinge durch Worte übereinanderschiebe und miteinander verbinde. «Die Liebe ist eine Rose», was dabei herauskommt, ist ein mentales Bild, das weder die Rose noch die Liebe ist, sondern etwas, das eine metaphysische Dimension in sich trägt. Schon allein einen Vergleich zu schlagen von einem Ding zu einem andern, ist bereits eine Art von Metaphysik, von Naturmagie und Metamorphose.
Der Punkt ist nun: Wenn man in diesem Paradigma weiter denkt, kommt dabei eine Art von gnostischer Lyrik heraus, eine Privatmythologie und Privatreligion. Sag mir ein Gedicht, das ohne Natur auskommt. Selbst wenn du von der Industriestadt redest, bringst du sie irgendwann in Verbindung mit etwas, was aus Naturversatzstücken aus der Vorratskammer der Poesie besteht.
Das ist also prinzipiell das Grundparadigma, die Keimzelle des Gedichts. Alles andere, etwa wie man's macht, das steht dann in Opposition, in Variation dazu, in Ablehnung und in Weiterentwicklung. Aber von creth und cruth kommt man nicht weg. Im Irischen heißt rosc «das lange Gedicht» und rusc «die Rinde». Man kann sich nie ganz von der Folie der Natur ablösen, und die Natur war der erste Part, den die Religion zu bewältigen hatte. Man kann quasi das religiöse Vokabular austauschen, indem man wie Grünbein dauernd über Neurologie oder über das Sezieren redet; doch alle diese Dinge zielen im Prinzip auf dasselbe, nämlich Natur einzuteilen, zu segmentieren und in Sinn überzuführen. Religion ist eine Art von humaner Totalität, und indem man der Neurologie diesen Status gibt, ersetzt man nur eine Totalität oder eine Sprachschublade, die für Totalität zuständig ist, durch eine andere. Die Motivation und die Intention ist dieselbe. Grünbein redet von Pi, die baskischen Dichter reden von Gott. Das ist dieselbe Funktion - das Aporetische, das Unteilbare, die ewig langen Stellen nach dem Komma, die Annäherung, die sich ergibt, wenn man 22 durch 7 teilt. Wenn ich in einem Gedicht «Pi» durch das Wort «Gott» austausche, ändert sich dabei an der Struktur und der Richtung des Gedichtes nichts.

Dabei ist das Gedicht die präziseste erkenntnistheoretische Maschine, die es überhaupt gibt. Wenn man sich die Erklärungen oder Parabeln ansieht, die die Naturwissenschaften aufstellen, von Schrödingers Katze bis zur Erklärung der schwarzen Löcher, so ist das Mythos oder Metapher pur. Die Geschichte von der schwarzen Katze in der schwarzen Box bei Schrödingers Quantentheorie ist ein Gedicht.
Ein Gedicht funktioniert aber nur - das heißt nicht nur, aber ich will hier allein von der Mitte reden und nicht von dem, was die Marginalien und die Randeffekte dazu sind -, wenn man das Gegenüber aufrecht erhalten kann, diese Spannung von Subjekt und Objekt in all ihrem Widerspruch. Das Hin und Her, das Oszillieren ist die Bewegung des Gedichts, es ist wie ein kleiner Quarz in der Uhr: wenn man ihn zusammenpreßt, gibt er einen Funken von sich, und das sind die Funken, die die Metaphern liefern.
Ansonsten funktioniert ein Gedicht nur über die Berechnung der Musik und die Genauigkeit der Bilder. Man muß die Bilder zu Ende denken. Im Englischen heißt es: do not mix metaphors. Komm mit einem Bild aus und denk mit diesem Bild weiter. Gedanke und Gestalt ist eines und dasselbe. Ein schwaches Gedicht ist immer eines, das Bilder aneinander collagiert, montiert und klittert, so daß man den Gedanken des Bildes nicht fortsetzen kann. Lyrik ist die präziseste Maschine, die's gibt, und die Präzision mißt sich daran, wie genau man innerhalb eines Bildes, und zwar mit den Bildern und nicht über sie hinweg, zu denken weiß. Die Frage ist immer: Wie weit führt dich das Bild in seiner Perspektive? Aber das weiß heute niemand mehr, obwohl es sich dabei im Grunde um einen Gemeinplatz handelt.

Mein Interesse an den kleinen Sprachen und den vergessenen Traditionen kam ja auch daher, daß mir die deutsche Gegenwartslyrik auf die Nerven ging. Ich wußte anfangs nicht genau warum und ich wußte auch nicht, was mir fehlt, aber es hat mir eine Mitte gefehlt. Mit der Moderne ist ein Bruch passiert und nach dem Zweiten Weltkrieg ein zweiter, weil die Nachkriegsgeneration in den fünfziger Jahren versucht hat, den Anschluß an die dreißiger Jahre zu
finden und an das, was in Europa sonst abgelaufen ist. Das ist gültig für die Generation von Pastior bis Artmann, von Mayröcker bis Jandl. Da ist das Anschließen an die Moderne auch durch die Biographie glaubwürdig. Nur hat eben die Moderne an einer Stelle angesetzt, wo sie zur konventionellen Lyrik, die auf eine Tradition von dreitausend Jahren zurückblicken konnte, in Opposition gegangen ist und Modelle geschaffen hat, die nur in Opposition dazu Sinn gemacht haben. Ein Lautgedicht macht nur Sinn, wenn man sich sagt, daß man nochmal von vorne anfängt, denn interessant ist ja nur sein Spannungsverhältnis zum heutigen Deutsch.
Ein Lautgedicht ist wahrscheinlich am nächsten zu den Urformen der Lyrik, zur Glossolalie und der Onomatopoesie, mit der man die Götter und die Natur einst belegte. Die Göttin Demeter zum Beispiel hieß eigentlich die Da-Mater, die Mutter Da, und das Da war ein Lallname. Man konnte sie nicht nennen, sonst wäre sie plötzlich in ihrer ganzen Schrecklichkeit aufgetaucht, und das wollte man nicht, also hat man sie Da genannt, ein abstrakter Name, der nichts bedeutet. Dada. Es ist dieselbe Wurzel. Ein visuelles Gedicht wiederum ist auch nichts anderes als zum Beispiel die tabellae defixionem, die Verwünschungstafeln des vierten und fünften Jahrhunderts vor Christus, durch die den Toten Botschaften mitgegeben wurden, die auch eine visuelle Form hatten, um eine größere magische Wirkung zu haben.
Das visuelle Gedicht, das konkrete Gedicht und das Lautgedicht sind die Grundformen von Lyrik, die Grundsemantiken und die Grundgrammatiken. Von ihnen kann man auch viel lernen. Nur denke ich, daß man das Gedicht wieder auf den Punkt führen muß, indem man eine Bandbreite hat, die die Dinge wieder auf den Punkt bringt: auf dieses Augenblickserlebnis, diese Art Epiphanie, die ein Gedicht liefern kann, indem es verschiedene disparate Dinge plötzlich so zusammenbringt, daß sie für einen Augenblick und nur im Gedicht eine Einheit ergeben und einen Sinn machen. Das ist, was ein Gedicht macht, humane Totalität für eine Sekunde schaffen, für eine Zeile, für drei Worte, für maximal ein Bild, das ein Ding im Frequenzbereich des Gedichtes plötzlich erklärt.
Seit Stramms Wortkunstwerk und seit Schwitters aber war man, zumindest im deutschen Sprachraum, verstärkt durch Jandl und Celan, nur mehr bereit wahrzunehmen, daß ein Gedicht aus Partikeln von Sätzen besteht, aus Worten, aus Substantiven, die irgendwie typographisch über die Seiten verteilt sind. Man hat rezeptionsgeschichtlich also nur noch diese Art von Lyrik oder sentimentale Anekdoten, die man eh vergessen kann, Kitsch halt. Dazwischen aber gibt es keine Mitte mehr, keine Tradition, weil man sich doppelt auf die Moderne berufen hat. Und das findet sich in den angelsächsischen Ländern nicht, wo visuelle Gedichte oder Lautgedichte absolut marginale Phänomene sind.
Das ist zwar alles interessant, und ich will auch nicht sagen, daß ich diese Dinge nicht mag. Bloß, sie definieren nicht die Mitte. In der deutschen Lyrik fehlt die Mitte. Kein Mensch weiß mehr, wie man ein Bild baut, wie man ein Bild liest, was eine gute Metapher ist, wie das Musikalische funktioniert. Darf man reimen oder nicht? Ist eine Genitivmetapher erlaubt? Das sind absolut läppische Fragen. Diese Mitte gab es, gibt es und wird es im angelsächsischen Raum weiter geben. Seamus Heaney hat Auflagenzahlen von dreissigtausend Stück. Du gehst in eine Buchhandlung und findest drei Regale mit Lyrik. Das heißt, daß sie gekauft, gelesen und verlegt wird und daß es funktioniert, und es funktioniert deswegen, weil es Dinge definiert. Diese ganze postmoderne Abarbeitung, zuerst die Avantgarde, dann die Wiener Gruppe, dann Pastior, und dann arbeitest du dich in der Postmoderne nochmal daran ab! Es gibt niemand mehr, der kursive Strukturen schaffen kann, sondern es gibt nur noch diskursive Strukturen, die auseinanderlaufen. Eine gewisse Linearität, eine gewisse Kontinuität und Kontiguität zu schaffen, das sind lauter Dinge, die sich heute keiner mehr zutraut.

Ich habe selber lange genug sogenannte postmoderne Gedichte geschrieben, und das ist ja auch ganz lustig, nur dachte ich irgendwann, das bringt nichts, weil es beliebig und austauschbar wurde und die Worte jeden Halt verloren. Daher kam das Interesse an den alten und den kleinen Sprachen, da es in diesen Sprachen noch eine lebendige Lyrik-
tradition gibt. Die haben ihre Identität in einer oralen Tradition aufbewahrt, und die Lyrik hatte einen sehr relevanten Stellenwert, weil sie das war, was das Gemeinsame weitertransportierte.
Für mich ging es einfach darum, zurückzugehen und zu wissen, was zum Teufel war Lyrik, woher kommt sie, was für eine Funktion hatte sie, was für Ausdrucksmechanismen gab es und welchen politischen und sozialen Stellenwert hatte sie mal. Für mich und für meine Gedichte ist es der Versuch, eine Mitte zurückzugewinnen, und zwar nicht im Sinne eines Mittelmaßes, sondern in dem Sinne, daß ein Gedicht eine Aussage hat und eine Definitionsbreite, die es auch für andere relevant macht.

Der erste Satz beim Gedichteschreiben ist immer das, was man geschenkt bekommt; Valery nennt es die «vers donnés» im Gegensatz zu den «vers calculés». Ohne diesen Auslöser braucht man gar nicht erst anzufangen. Bei Kirchstetten war das der Satz mit dem Flachstreichen der Hügel, und dann habe ich alles zuerst einmal als eine Art Protokoll runtergeschrieben, als Stenogramm von dem, was ich in einer Stunde Zugfahrt von Wien nach Amstetten und weiter sah und worin ich einen bestimmten Blick und eine bestimmte Atmosphäre spürte. Ich versuchte, bei der Umwandlung in Worte möglichst schnell und präzise zu sein, wobei ich stellenweise auf die alten Worte zurückgriff, die ich schon ein paarmal gebraucht hatte, um die Stimmung festhalten zu können. Und ich laße die erste Fassung hier auch gerne stehen; nach den Kriterien und Maßstäben, die man heute an Lyrik stellt, würde sie sicherlich dem üblichen Niveau genügen.
Die eigentliche Arbeit des Gedichts sehe ich jedoch woanders. Während dem Protokollieren merkte ich bald, daß es langsam eine Struktur bekam, und von dem Augenblick an war eine Richtung bereits da. Vom Repertoire her, dachte ich, könnte ich die alten Strophenformen nehmen, die Odenformen mit den Vierzeilern, wie sie auch Hölderlin gebraucht hat, weil die ja auch mit einer ganz bestimmten Atmosphäre, mit einer Konnotation auftauchen, die das Material des Gedichtes schon liefert und weiter strukturiert. Die erste Konnotation ist eine Erinnerung: ich kenne Gedichte, die so geschrieben sind, und die ein leises Echo wachrufen, daß das ungefähr die Tonlage ist, in der ich mich jetzt befinde, vom Thema des Gedichtes her wie von seinem Klang, Rhythmus und Atem. Deshalb hat sich mir die Odenstrophe aufgedrängt; man ist eben so konditioniert durch das Handwerk und dieses Besteck im Hinterkopf.
Jede Strophenform bestimmt überdies, was der Inhalt ist, und das ist bei der Ode, wie es ein Lexikon definiert, «Erhabenheit, Gedankenschwung und Gefühlstiefe». Das Gedicht setzt sich in dem Fall, wo es um Erhabenheit und Gefühlstiefe geht, mit dem Koordinatensystem des Raumes auseinander: Auf der einen Seite geht es um die Fläche und auf der andern um die senkrechte Koordinatenachse. Das ist der Raum des Gedichts, von dem die Rede ist. Es geht um die Fläche der Landschaft und um die Abgründe, die man darin festsetzt. Das ist Erhabenheit und Gefühlstiefe in einem andern, aber verwandten semantischen Paradigma. Und neben Erhabenheit und Gefühlstiefe als den klassischen inhaltlichen Motiven und Konnotationen taucht auch das Element der Musik auf: vom Bogenabstrich der Geigen bis zu Echo und Hall und all dem, was an Klang da ist.
Amstetten ist formal zumindest ein Gedicht über einen Klangraum, über die beiden Koordinaten des Raumes, die Fläche und die Tiefe, und über den Klang, der zwischen beiden vermittelt. Oder auch das: «Der Gedankenschwung... strenge, von tragisch-sehnsuchtsvoller Grundstimmung getragene Ode, Ausdruck der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit», das ist genau das Thema dieses Gedichts. Was ist Realität, was ist metaphorisches Bild, was ist der Gedankenschwung, was ist die Sehnsucht und was die Aporie, die da drin liegt, das sind alles Sachen, die man der Ode zuschreibt, und für die es hier eine neue Form zu präsentieren gilt.
In diesem Fall ist es keine metrische Präzision, die zur Odenstrophe führt, keine silbenzählende, keine quantitative Präzision, sondern eine qualitative, indem sie sich auf die Länge der Zeile bezieht. Es wäre ja nur epigonal oder reaktionär, eine metrisch exakte Odenstrophe nachzubauen, und zum andern wäre mir das auch zu euphon, viel zu wohlklingend und harmonisch, wenn ich mir bei jeder Zeile deren Maß setzen würde. Es ist deshalb nur die äußere Hülle einer Ode, aber mit allen Konnotationen von Sappho bis rauf zu Hölderlin, mit dieser Tonlage und ohne so harmonisch zu klingen.
Die optische Begrenzung des Gedichtes durch die Länge der Zeile ist also einer der Widerstände, die ich beim Gedichteschreiben habe. Innerhalb dieser optischen Barriere muß ich einen Rhythmus hinkriegen, der über die Zeilen hinuntergeht, ohne daß ein musikalischer Bruch passiert. Das sind zwei Gegenpole: die musikalische Struktur arbeitet gegen die optische Begrenzung. Sie arbeitet, im Enjambement, im Zeilen überspringenden Rhthymus, der vom Satz, von den Metaphern und den similes diktiert wird. Dabei werden die Sinnzusammenhänge durch die Zeile und ihren Bruch genauso strukturiert wie durch den Reim.
T. S. Eliot sagt, Dichtung ist nichts anderes als die in der Umgangssprache schon latent vorhandene Musik zum Klingen zu bringen. Im Gedicht sollte man, ohne die Sprache zu verspreizen, ohne Inversion und ohne seltsame semantische und syntaktische Tricks, einen umgangssprachlichen Satz sagen können, der aber Melodie hat. Das ist die Schwierigkeit: daß durch die Notwendigkeit des Musikalischen die Aussage nicht verrätselt und obskur wird. Die Aussage sollte möglichst gerade sein, aber doch musikalisch.
Mit den Reimen gehe ich ähnlich um wie mit der Metrik, indem ich sie auch nicht mehr paarweise gebrauche, sondern in freieren Abständen setze, und zwar so, daß sie sich nicht reduplizieren, sondern ein kleines bißchen voneinander abweichen, mit Assonanzen und Konsonanzen. Wenn Weinheber ein Gedicht mit dem Titel Der Daktylus schreibt und dann die Versmasse erklärt, ist das eine Reduplikation, die viel zu schön ist, viel zu harmonisch, als daß sie jetzt noch wahr wäre, weil wir diese harmonischen Gesetze nicht mehr haben. Auch die harmonischen Gesetze der Musik waren ja Analogien zu den harmonischen Gesetzen der Welt.
Da, wo es eine ganz klare Ethik gab, war meist auch die Poetik kongenial. Bei den Troubadours, bei den Minnesängern gab es eine fix geformte Ethik, die poetologisch genauso streng war, ebenso bei Goethe und Schiller; und nur da, wo die Heisenbergsche Unschärferelation, die Relativitätstheorie, die Moderne und all das auftaucht, bricht auch das Gedicht auseinander. Das geht von Rimbaud als Vorläufer bis heute.
Der Versuch, da wieder eine Form reinzubringen, vom Inhaltlichen wie Thematischen und Musikalischen, ist, was sich als Aufgabe der Lyrik skizzieren liesse: eine Form in die Unschärfe zu bringen, die letztlich zur Beliebigkeit verkommen ist. Den formalen Kriterien äußerlich gerecht zu werden und inhaltlich eine Spannung zu diesen strengen Kriterien zu haben, eine Spannung zu setzen zwischen Strenge und Auflösung, das sind im Prinzip alles Formen von Enjambements, das Setzen einer Grenze und ihr Überspringen. Man setzt ein Reimwort und löst den Reim durch die Distanz des andern wieder auf. Beides zu tun, den klassischen Anspruch von Strenge und Rigidität auf der einen Seite zu erfüllen und ihn auf der andern Seite doch immer zu transzendieren, das ist die Algebra, die Sprach- und Formerfüllung, die man von der Lyrik verlangen kann.

(Raoul Schrott in ZdZ 7/8)



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