Biagio Marin

Luigi Reitani über «Der Wind der Ewigkeit wird stärker» von Biagio Marin




Wer sich ins Territorium des Übersetzens begibt, unternimmt eine Reise, bei der ihm keine Maßnahmen helfen können, welche er auch getroffen haben mag. Denn die Sprache, die er verläßt, nachdem er sie mühsam erreicht hat, wird zu schwanken beginnen, und die andere, die sogenannte «eigene», kann auch kein sicherer Hafen sein. «Die Grenzen meiner Sprache», meinte, Ludwig Wittgenstein, «bedeuten die Grenzen meiner Welt» - und der Übersetzer, dieser Reisende zwischen den Welten der Sprachen, stößt täglich daran.
Es war eine Inselsprache, die Sprache, in der Biagio Marin siebzig Jahre lang seinen Gesang vortrug. Nicht, daß seine Poesie dem Dialekt von Grado völlig entspräche. Es handelt sich auch nicht um eine Stimme aus dem Volk, und wer sich einen farbigen Lokalkolorit erwartet, der wird sehr bald enttäuscht sein. Einen «Idiolekt» nennen die Linguisten solche Erscheinungen und meinen damit die Eigentümlichkeit einer Sprache, die eher einem privaten Gebrauch als der pragmatischen Kommunikation zu genügen scheint. Eine Inselsprache, sage ich, und meine damit, daß aus einer Insel, aus einer privaten Bildkonstellation, ein lyrisches Subjekt wird. Es war der Dichter Gottfried Benn, der in einem frühen Gedicht die Absicht aussprach, «ein Ufer, ein Buch, / ein Hafen schöner Schiffe [zu] werden». Eine Insel zu sein - das heißt etwas ganz anderes als die Sehnsucht nach einer Insel, die uns alle plagt. Eine kosmische Konstruktion wird heraufbeschworen, in der sich das Ich widerspiegeln kann. Grado: eine Welt, ein ganzer Kosmos, in den das Leben und die Sprache des Dichters eingegangen sind. Und keine Grenzen sind dichter als die, die durch das Meer gezogen werden. «Sie haben recht», schrieb Biagio Marin an Pier Paolo Pasolini am 2. Januar 1953, «wenn Sie [...] behaupten, daß die räumlichen Grenzen meiner poetischen Welt auch innere Grenzen sind.»
Eine Übersetzung der Gedichte Biagio Marins soll eine Reise nach Grado sein. Es sind sonore Klänge, die auf weit offenen Vokalen aufbauen. Es ist das Melos des einfachen Vierzeilers, mit seinen immer wiederkehrenden Reimen. Es ist die kristallklare Syntax, die fast keine Nebensätze kennt, eine syntaktisch-metrische Einheit, die nicht zu durchbrechen ist. Es ist ein Vokabular, das vom Licht geprägt ist. Das Licht stellt einen Hauptbegriff dar, der immer wieder metonymisch variiert wird. Es sind kurze, knappe Formulierungen, die das Entbehrliche ganz ausschließen, denn die Wahrheit ist karg. Zwischen Reduktion und Variation steht diese Sprache und verlangt ein aufmerksames Ohr. Einer solchen Textqualität wird die deutsche Übersetzung von Riccardo Caldura, Maria Fehringer und Peter Waterhouse in höchstem Maße gerecht. Keine «Normalisierung», keine Abrundung der semantischen Ebene wird verfolgt, wie so oft bei Übersetzungen aus einem italienischen Dialekt, und sei es auch in der Nationalsprache. Vor allem ist ein Rhythmus vorhanden, der die cantabilità des Gedichtes gewährleisten soll. Leicht wird mit Reimen gespielt, deren unreine Art an die Virtuosität der Romantiker erinnert. Unbewußt schließen sich diese Nachdichtungen an eine Tradition deutscher Lieder an, die noch im lyrischen Werk Paul Celans nachklingt. Und wie oft arbeiten die Übersetzer mit dem wehmütigen, romantischen deutschen W-Klang! Doch findet in der deutschen Sprache kaum Platz, was von der Last der Rhetorik beschwert ist. Wesentlichkeit ist leicht. Und nicht selten besteht der deutsche Vers aus einem einzigen Wort, das die Prägnanz des Gradeser Ausdrucks wiedergeben muß. So wird «le rogie canta salmi» mit dem Kompositum «Wasserpsalmen» übersetzt und «le saduta di menta» mit «Minzen-Luft». Lapidar erscheinen solche elliptischen Konstruktionen, zu denen die Übersetzer immer wieder greifen. Die stilistischen Möglichkeiten der modernen deutschen Lyrik, mit ihren zusammengesetzten Wörtern, der Bruchstückhaftigkeit der Verse, der Gebrauch der infiniten Formen des Verbs, erschließen einen ästhetischen Horizont, in dem die Gedichte Biagio Marins in ihrem strahlenden Licht erscheinen. Es sind «Statische Gedichte», um wieder auf eine Definition von, Gottfried Benn zurückzugreifen, die zur reinen Aufzählung der Naturelemente tendieren: «alles nur Duft / selbst die Steine: / und die leise, leise, verführende Luft».
Freilich war auch diese Arbeit ein Umweg, wie es gute Übersetzungen sein müssen. Denn nichts ist naiver als die Vorstellung einer Nachdichtung, die sich auf die rein semantische Dimension der einzelnen Wörter beschränkt, als bestünde der Sinn des ganzen Gedichtes nicht in der Beziehung der Worte zur metrisch-rhythmischen Form. Ich finde eine Übertragung höchst gelungen, die den Mut hat, «al mondo a fin de zugno» mit «ins Juniland» wiederzugeben und «me infuturo» mit «ich werde neue Welt». Erstaunt war ich, als ich merkte, daß sich das wunderschöne Spiel der Alliterationen in dem Schlußvers «la vita va via» in den nicht minder faszinierenden Satz «das Lebendige lichtet» verwandelt hatte, wobei der Kreuzreim noch beibehalten wurde.
Eine genauere Untersuchung könnte zeigen, daß Marins Grundbegriffe auf Deutsch genauso ein sprachliches System bilden, wie sie es auf Gradesisch tun, wenn auch «im svolo» - also «im Flieg» - verblüffenderweise dem «Leichten» gleichgestellt ist. Manchen Kritikern mag diese Kunst der Verwandlung - worin auch die Kunst der Über-Setzung besteht - zu kühn erscheinen. Aber es ist schön, daß nun auch deutschsprachige Leser die Insel von Biagio Marin besuchen können.

Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor