Milo Rau

Frei von Schein

Rimbauds «Illuminationen» in einer neuen Übersetzung



Neue Zürcher Zeitung, 5. März 2005

Wer ist eigentlich schuld an der Moderne? Flauberts Hyperrealismus? Baudelaires eisgekühlte Sonette? Mallarmé und sein Würfelwurf? Der Detektivroman? Nietzsche? Oder doch das Wein- und Weihrauch-Geplapper der Décadents?

Der Lieblingskrimi der Literaturtheorie sind die «Vormoderne» genannten fünfzig Jahre vor Joyce. Das 19. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, die Romantik pfeift auf dem letzten Loch, und ihr Widersacher, der psychologische Milieuroman, ist auch nicht mehr ganz frisch. Nun sind Neuerer gefragt, Physiker der Sprache, die mit dem Autor-Ich wie mit der Mimesis aufräumen, diesen beiden Mysterien der klassischen Literatur. Vorbei das Verdikt der Realität! Viel ist abzuschaffen – entsprechend lang die Liste der Schuldigen.

Einer der üblichen Verdächtigen ist ein sehr junger Autor aus dem nordfranzösischen Charleville, der «blödesten aller Provinzstädte»: Arthur Rimbaud, geboren im Jahr 1854. Mit 15 beginnt er unvermittelt zu schreiben, nach fünf Jahren Wanderleben gibt er es ebenso plötzlich wieder auf und verdient fortan sein Geld als Sprachlehrer und Legionär sowie im Handel. Bereits mit 37 stirbt er, ohne von seinem bereits beträchtlichen Ruhm zu wissen. Sein Werk ist schmal, der Ton zugleich programmatisch und hermetisch. Aus biografischen Konfessionen, Untergangsrhetorik und bizarrer Revolutionsästhetik ragen gleissende, in sich kreisende Metaphern – Rimbauds Dichtung, eine perfekte Ruinenstadt aus Wörtern, ist umso beunruhigender, als der Dichter sie für ein neues, ein anderes Verständnis errichtet. Denn nicht bei der eigenen Existenz oder gar der Gesellschaft soll seine Sprache ankommen, sondern, wie er in einem seiner berühmten «Seher- Briefe» schreibt, «im Unbekannten».

Dass Rimbaud bis heute eine Kapitalschuld an der Moderne zugesprochen wird und seine wenigen Gedichte tausendfach kommentiert worden sind: nicht verwunderlich bei dem Stil und der Biografie. Kaum ein Autor hat es sich nehmen lassen, über den Einfluss des «Sehers» auf sein eigenes kleines Leben oder das grössere der Literatur nachzudenken. Zahlreich sind auch die Übersetzungen ins Deutsche. George und Celan haben sich an den widerborstigen Gesängen versucht, und rechtzeitig zum 150. Geburtstag erscheinen nun Rimbauds «Illuminationen» – sein letzter, in mehreren Anläufen geschriebener Zyklus – in einer betont schlichten zweisprachigen Ausgabe bei Urs Engler Editor.

Rainer G. Schmidt, der bereits vor 25 Jahren an der deutschen Gesamtausgabe der Werke Rimbauds beteiligt war, zeichnet verantwortlich für die mit einem kleinen Apparat versehene Neuübersetzung. Kein einfaches Unterfangen. Mehr noch als in Rimbauds anderen Dichtungen sieht sich der Interpret in den «Illuminationen» einer mäandrierenden poetischen Masse gegenüber. Vom Auge, vom Gedächtnis und vom Ohr her operiert der Dichter; Assoziationen geben sich als Kausalzusammenhänge aus und umgekehrt; die Rimbaud eigene, ins Utopische gewendete Melancholie vermischt Vergangenheit, konkrete Beobachtung und poetische Zukunft. Schwierig, da einen gangbaren Weg zu finden, auch nur einen Bruchteil der Fülle zu retten. «Sprach-Batterien» nennt Schmidt die Gedichte im Nachwort, «überreich an Präsenzen.» Was tun?

Schmidts Rezept heisst Gelassenheit. Beinahe alles ist wörtlich und ohne Umstellungen übersetzt, prosaisch. Neologismen und exotisches Vokabular werden nur dort verwendet, wo es nicht zu vermeiden ist; fast vergisst man den geschraubten Ton, den die Expressionisten an Rimbaud so schätzten. Auch der Apparat arbeitet der Sakralisierung entgegen. Wo das verschmierte und korrigierte Manuskript doppeldeutig bleibt, macht Schmidt keine grossen Geschichten, sondern rät: «An geraden Tagen ÂÐoÂð, an ungeraden ÂÐaÂð lesen.»

Etwas Seltsames geschieht hier mit Rimbaud. Schmidts Übersetzung holt ihn, ohne ihn mit viel Getöse zu stürzen, vom Podest belehrend raunender Sprachalchemie, auf das ihn ganze Generationen von Interpreten haben stellen wollen. Dass George und Celan wussten, worum es Rimbaud eigentlich geht – keine Frage. Aber dem Durchschnittsleser, der Rimbaud gern begegnen will, bringt das nicht viel. Ja, und nun fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Plötzlich begreift man, was dieser gerade mal 20-Jährige wirklich getan hat, damals, als Hunderte von Dichtern klassizistische, symbolistische oder sozialkritische Welterklärungspoesie schrieben. Wie konkret, wie witzig er schreibt, und was für ein monströses Durcheinander er auch anrichtet. Welcher Abgrund zwischen der dahintänzelnden, ironischen, kristallinen Traurigkeit der «Illuminationen» und dem dumpfen Verkünder-Pathos mancher bisheriger Übersetzer liegt. Welches, um es so zu sagen, die Situation war, in der Rimbaud lebte und schrieb: die Romantik eine verunglückte «Versuchung», ein Wühltisch verbrauchter Metaphern, die Zukunft bis in die Theorie hinein «verkauft», die Sprache neu zu erfinden. Schmidt lässt sich von Rimbauds exquisitem Personal, all den Sonnenuntergängen, Wahrsprüchen und chinesischen Königinnen nicht täuschen; das sind Experimente, an deren Ende keine Rhetorik, sondern (vielleicht) eine neue Klarheit steht. «Was wird aus der Welt geworden sein, wenn du abtrittst?», fragt Rimbaud in «Jugend» sich selber und antwortet vorgreifend: «Jedenfalls ist sie frei von heutigem Schein.»

Nie war Rimbaud im Deutschen so «frei», so wenig aufgeplustert, so auf sich gestellt (und nicht auf postume Hilfeleistungen) wie in Schmidts Neuübersetzung. Die heillos mehrdeutigen Prosagedichte werden einfach vor die Leserschaft hingestellt, verstehe, wer will. Eben so, wie Rimbaud das Neue, das noch Unbekannte in seiner zerzausten, exaltierten Sprache aufgehoben wusste. Man muss Rimbaud keinen Georgeschen Ordenswimpel aufdrängen, um ihn ins Stammbuch der Moderne zu setzen. Es ist sogar falsch – auch die Moderne war mal jung. Zu viel Erklärung verbaut das Verständnis. Zu hoffen aber ist, dass ähnliche Neuübersetzungen folgen.


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