Andreas Puff-Trojan

Andrea Zanzotto: Beltà / Pracht



ORF 30. Dezember 2001

Fragt ein Mann: «Freust du dich, auf der Welt zu sein?» – Antwortet das «Bübchen»: «Ja, weil’s ein INTERSPAR gibt.» So lautet das Motto für eines der Gedichte von Andrea Zanzotto, der zu den wichtigsten lebenden Autoren Italiens gehört. Es ist die Welt der Werbung, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Aber diese banale Wunderwelt kann – ja, muss vielleicht sogar! – Teil der Dichtung sein. Gerade recht zu Zanzottos 80. Geburtstag starten die Verlage Urs Engeler und Folio eine neunbändige Ausgabe seiner Werke. Der erste Band ist soeben erschienen. Es sind Gedichte, versammelt unter dem Titel «La Beltà / Pracht». Das ist ein Wort, wie man es gerne hat: «Pracht», das ist das «Prachtweib» aus Film und Fernsehen, das ist der Manager, der sich immer «prächtig» fühlt, das ist auch der Militär, der nach dem Abwurf eines Bombenteppichs die Lage «ganz prächtig» findet. Und da ist Andrea Zanzotto, der dies alles seismographisch aufzeichnet. Der Gedichtband «La Beltà» wurde erstmals 1968 publiziert. Einige Gedichte daraus sind bereits ins Deutsche übersetzt worden, aber erst jetzt, wo sozusagen die «ganze Pracht» der lyrischen Sprache Zanzottos dem deutschsprachigen Leser zugänglich wird, ist man erstaunt über die Aktualität des dichterischen Wortes. Vielleicht deswegen weil in der Werbesprache und dem Vokabular der Gewalt sich die Sehnsüchte und Ängste der Menschen hartnäckiger halten als anderswo. Das Uniforme dieser Sprache betrifft auch die ganz Kleinen unter uns, diejenigen, die noch gar nicht wissen, was eine Uniform ist und die noch gar nicht sagen können, ob ihnen der tägliche Milupa-Brei schmeckt oder nicht. Über diese armen Winzlinge schreibt Zanzotto folgendes:

Schneewittchen Sonnwittchen Nivea
Und schwupp sind die Winzling-linge
Im Supersüßmarkt drinnen
– zu Füßen süßer Wälder –
wo es Milupa gibt süß und verlockend
für euch Babies Barbies breiberechtigt
und breibereit, Milupa
gnadenlos für Millionen, für euch (sniff sniff
gnam gnam yum yum slurp slurp)

Zanzotto geht es um die sprachlichen Leckerbissen, die den Unmündigen hineingewürgt werden und hinter denen die verborgenen Sehnsüchte der Erziehungsberechtigten schlummern. Egal, ob Familie oder Staat, immer dort, wo sprachliche Erziehungsarbeit vorgenommen wird, fährt das dichterische Wort dazwischen. Zanzotto verschmäht dabei weder Ausflüge in die Unsinnspoesie noch die Urlaute der Comicsliteratur. Er nimmt Hölderlin-Verse, zerschneidet sie und setzt sie wie in einem Puzzle neu zusammen. Er holt sich Sprichwörter aus fremden Sprachen und übersetzt sie wortwörtlich in sein Italienisch – sein Italienisch, das auch den Dialekt der Heimat, der Region Veneto, miteinschließt. Und das ist eben auch «Pracht» – dichterische Pracht durch sprachliche Vielfalt.
Diese prächtigen und wortmächtigen Gedichte adäquat ins Deutsche zu übertragen ist keine Kleinigkeit. Dem österreichischen Autor Peter Waterhouse, der sich seit Jahren mit Andrea Zanzotto beschäftigt, ist dies restlos gelungen. Waterhouse und drei weitere Übersetzer haben sich nämlich eine Strategie des Autors zu eigen gemacht. Zanzotto sagt es ganz offen in einem seiner Gedichte: Er sei im lyrischen Sprachspiel der «Joker». Er ist die zusätzliche Spielmarke, die eigentlich alles und jedes bedeuten kann. Nur eben nicht nichts. Denn Zanzotto präzisiert: Er sei der «Golem-Joker». Der Dichter ist nicht wie der klassische Golem aus Lehm gemacht, sondern aus Sprache. Er ist Teil seiner eigenen Sprachwelt und wandelt sich in ihr. Und wer wie Waterhouse Zanzottos Gedichte in eine andere Sprache hinüberträgt, der muss selbst sprachmächtig sein, listig und lustvoll erfinderisch – so dass mit der Übersetzung etwas Neues entsteht. Joker zu Joker lautet die Devise.
Man könnte sagen: Zanzotto, der «Golem-Joker», ist auch ein Vampir, der den Wörtern an die Gurgel geht. Und so lautet eines seiner Gedichte: «Im mulmigen Reich der Vampire». Alles verpackt der Autor genüsslich in seine Verse: «Wolken von Mull», einen «Zahn aus feinem Elfenbein», «Verführung Geld und Süßes im Tabernakel», nicht zu vergessen «Mister Kukident». Der Leser wird Zeuge «eines blutigen Handels, Hämoglobal», wie Zanzotto schreibt. Doch an dieser Stelle zuckt der Leser zusammen. Denn der Farbstoff der roten Blutkörperchen heisst doch eigentlich Hämoglobin? – Freilich, nur für Zanzotto ist das ein bereits «ausgelaugtes» Wort. «Hämoglobal» hingegen strahlt hämisch und global zugleich, hat Teil an der sprachlichen Hemisphäre – und: ist himmlisch unsinnig. Und dieser Unsinn zeigt schon seinen Sinn, wenn man einem Dichter, wie es Andrea Zanzotto ist, bis zum Schluss folgt. Denn am Ende des Vampir-Gedichts ist zu lesen:

Götter Welten und Seelen: verfehlte Ziele. Doch war

jener große enthüllte Morgen und mich bedeckt
sein himmlisches Plasma, und dauert.

[…]



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