Michael Stauffer

Gartenproletarier





1
Hilflos steht einer da. Ganz geschwind geht ein Zweiter vorbei. Der Erste steht immer noch da. Später redet der Erste eindrücklich und ausführlich von dieser Begegnung. Bereits an dieser Stelle wird klar, dass er ein ausgefülltes, interessantes Leben führt. Das wird hier ohne Zweifel klar. Ich kann das auch wirklich bestätigen. Dass das so ist.

2
Der Umfang des Buches hält mich nicht davon ab, vorne zu beginnen. Meine Hände breiten sich aus und wollen mir den Weg weisen. Die Hände lesen sich schnell durch das ganze Buch hindurch. Lesehände. Ich folge, komme später an. Alles begriffen, verstanden, eingesehen.

3
Für sich genommen reicht für ihn ein Stück Abfallholz, aus welchem er immer wieder etwas herstellen kann. Mal mehr, mal weniger. Im Grunde genommen reicht es, wenn er mit seinem stumpfen Messer an diesem Holzscheit rumschneiden kann.

4
Ich gegen die Welt. Das ist das Beste, wenn man sich gegen etwas wirklich Mächtiges auflehnt. Es bringt ja nichts, sich gegen den schlechten Geschmack der Serviertochter aufzulehnen. Es bringt auch nichts, sich gegen die Betreiberin des Büchertisches der lokalen Buchhandlung aufzulehnen, nur weil sie gerade nicht am Büchertisch steht, sondern an einem Wohltätigkeitslauf durch die Innenstadt teilnimmt, als ich ein Buch kaufen will.

5
Er weiss viel. Dann steht er vor dem Bild und sieht nichts. Er macht es zu seiner Aufgabe, darüber zu reden.

6
Er blickt kaum über den Tellerrand hinaus. Er schlürft gierig seine Suppe. Er verdaut schlecht. Er trägt immer einen lustigen Hut. Ein Arzt sieht in ihm einen Philosophen und überlässt ihm deshalb gratis eine Wohnung. Er sagt immer, der Arzt überlässt sie mir günstig. Aber ich weiss, dass der nichts dafür bezahlt. Er hat einen starken Juckreiz, den er nicht in den Griff bekommt. Er hat sich stundenlang am Kopf gekratzt. Ein Fernheiler hat ihm den Ratschlag gegeben, sich nicht mehr zu kratzen. Er solle seiner Hand sagen, sie solle sonstwohin gehen. Er hat wegen der Kratzerei viele Haare verloren. Das neu entstandene Erscheinungsbild, der wundgekratzte, nackte Kopf, ermutigt ihn. Er kommentiert jeden Schritt, den er macht. Das Provinzielle begleitet ihn, vor allem auch auf die Toilette. Der Arzt hat eingesehen, dass die philosophischen Qualitäten des Provinzgelehrten zu klein sind. Der Provinzgelehrte ist mittlerweile 40 Jahre alt und kriegt nur noch bei magersüchtigen Gymnasiastinnen mit Vaterkomplex eine Erektion. Er hat sich zur Attraktivitätssteigerung bei H&M einen bordeauxroten Rollkragenpullover gekauft. Er arbeitet in einer Bar, die von vielen Schülerinnen besucht wird. Beim Gespräch mit den Schülerinnen furcht er aufmerksam die Stirn und küsst die Schülerinnen zum Abschied auf die Lippen. Wenn eine aus Neugierde mit ihm nach Hause geht, muss sie sich zuerst die unglaublich schlechten Acrylbilder, welche er malt, anschauen. In der Proportion völlig verfehlte weibliche Ausserirdische, alle mit dem Gesichtlein von Sigourney Weaver. Malen kann er nicht. Wenn eine dann aus Neugierde noch länger bleibt, wird sie aufs Ausführlichste bekocht. Isst bei ihm, fühlt sich ein bisschen schuldig, legt sich deshalb sofort und ohne Widerstand in sein Bett und lässt sich durchvögeln. Wenn eine dann, immer noch aus Neugierde, ihn noch ein paar Mal besucht, wiederholt sich alles. Und wenn sich die Neugierde legt, ziehen die schnell wieder bei ihm aus. Ein paar Kleider behält er immer zurück. An diesen Kleidern riecht er sich durch die frauenlose Zeit. Wenn die Nächste bei ihm zu Hause landet, packt er die zurückbehaltenen Kleider in einen Karton und schickt diesen als PostPac Economy für 5.80 CHF bis 2 kg zurück. Return to sender.

7
Er ist in einer einfachen Umgebung aufgewachsen. Er hat eine Lehre gemacht, ein Handwerk erlernt. Er musste lange zu Hause wohnen. Mit 25 Jahren ist er ausgezogen, wollte die Welt sehen. In Indien, Neuseeland und Australien sieht man die Welt am besten, hat er gedacht.

8
Er will ein stummer Held sein. Er setzt den richtigen Blick auf und verstummt dann für immer.

9
Die Niedergeschlagenheit der Menschen fasziniert mich. Es gibt eine Region in meinem Gesicht, wo es auch bei mir deutlich abzulesen ist. Diese Region ist schlecht beleuchtet, ein fahles Licht liegt dort auf.

10
Das Herumsitzen lohnt sich. Was mich in der Zeit, in der ich herumsitze, nicht erreicht, ist nicht für mich gedacht.


aus: Gartenproletarier



Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor