Peter Waterhouse

Ich sah die Schwierigkeiten, einen Plan zu machen




Auf einer Reise nach N. fühlte ich mich wohl und kräftig und unberedt, den ganzen Tag schon die vielen Gesichter zu sehen, und noch ein Gesicht, noch eines: was treibt dich an? Ein Nichts, eine Nichtspflanze wuchs, nährte mich, ein Keine-Wagen, Keine-Flugzeuge, Keine-Bankinstitute, ein Nicht-Wissen, eine Sache da nicht und da nicht, eine Sache mit Gesicht ohne Aspekte, ohne Bekanntheit, eine einsam unbeseelte Tankstelle, ein Rest um ein Haus, ein Wort auf einem Plakat, ein Ruf über die Straße hin, eine menschenleere Autobahn, eine Polizei, aber das Grün jener Polizei, ein Nichtsgrün, Grün am Traumeingang, ich war genährt von einem Stoff, rauschig gemacht von einem Stoff, träumte so hin, und träumte dabei eine merkwürdige Ordnung, eine neue Schönheit. Wie ich unter der Brücke vor der Stadt lag und zuhörte der Trommel, wenn ein Wagen über die Brücke fuhr und dabei auch über eine Dehnungsfuge, fand ich neue Schönheit. Getrommel, ja, aber die ganze Brücke klang mit und nach, und der Raum unter der Brücke erklang. Aber drüben der Baum, das Gesträuch, trockene, beinahe weiße Gräser, waren sie nicht auch Klang oder ein Trommeln. Eine zittrige Stelle, dort wo das Gras zitterte, dort setzte ich mich, Stelle, so eine besondere, nein unbesondere Stelle, wo eine Blume Ichweißesnicht, so eine leise Unruhe, so eine leise Sache, so eine leise Brücke, so eine leise Blume ist. Das Gehöft dann drüben leise und etwas und schön und von Gras und Garten umwachsen und der Himmel eine Blume und etwas und schön und leise und wieder leise und wieder leise und wieder schön. Und er tönte, war ein mächtiges Behältnis, und ich sprang auf, lief über andere Stellen, es waren Grasstellen, es war einen Zaun entlang, und es war in einem Gebüsch, in einem dahinrauschenden Dornengebüsch ganz viel, ganz viel Fernes, viel Leises, fast hätte sich das Gesträuch entwickelt, wäre aufgestanden und gekommen, hätte mich umarmt, ein kleines Mädchen im Pullover der Ästchen.
Der mir entgegenkommende Mann: nirgendwoher gekommen, sondern soeben erhellt, erschaffen, ein deutsches Männlein ohne Zeit, und Gesträuch soeben entstanden, Gras, Himmel, Wasser, einige Gehöfte, alles frisch: der Anzug des Mannes, der Anzug, grau und beweglich und schön, unruhig und schön. Das Anzug-Bild: was war das? Der Anzug entwickelte sich, lebte, es war eine Wucht von Frühlingen. Der Mann ging, der Gang war voller Frühlinge, Gehen wie Frühling. Gehen wie Grünwerden, Eierlegen, Flügelöffnen, Blätteröffnen, der graue Anzug war grünes Blatt, oder Märzwald unruhig grau und schon zart grün schön. Grüner Mund, und eine unstete Sache in den Augen, Regen vielleicht. Wir gingen aneinander vorüber, es fuhren viele Wagen, die Straße war ein schönes Bild der Natur, Aktivität und Leben, Bild der Erfrischung, Schönheit, Poesie, wie ein Bächlein, die Straße war wie ein Bächlein. Tun, tun, tun, nein. Nein, sondern wachsen, wachsen, werden. Tun, nein, blühen. Tun: mit einem Ziel - nein, sondern dahinfließen. Der Straßenverkehr fließt, ist wie absichtslos, schnellt Bilder dahin, Bilder und Bilder, die Bilder leben, wie sie vergehen. Die Bilder sterben, ich sehe sie sterben. Ein Stoff wurde erzeugt, der Stoff war Leben und Bächlein. Ich war in Leben und Bächlein, aufregender Augenblick in meinem vierzigsten Jahr - aber soll man Denkmäler aufstellen für Leben und Bächlein? So eine Fröhlichkeit in mir, im vierzigsten Jahr, so ein Flüßchen in mir, welches mir viel bedeutete, ich wenig verstand, so eine Fröhlichkeit und Keine-Ziele-Haben, ich konnte mich zu nichts entschließen, weil ich hier war, auf dichter grüner Wiese, in schwarzem Wald, lauter Straßen, so angesungen von Vogel, so gewärmt von Sonne und eisigem riesigem Wind. Kein Haus gehörte mir, kein Mensch gehörte mir, kein Zaun und Garten, kein Brunnen, ich war in einem dichten Stoff, in einem Brei. Der Bus fährt dort in der Ebene, mitten im dichten Stoff, in dichten Bildern, dichter Sprache, fährt in der Poesie und in der Welt. Ist die Poesie die Welt? - Ja. - Ich hätte hier gerne in einem düsteren Hotelzimmerlein, an der weglosen Straßenkreuzung einer einsamen Vorstadt übernachtet, in der Durch-nichts-Abgelenktheit, nein, nein, mir war ein anderes Zimmer angeboten, alles ist gut, es gibt nur die Sprache der Poesie. Die Welt ist eine Magnolie. Die Welt wächst absichtslos, von alleine, ziellos, nur das, nur diese Leichtigkeit, Ungewißheit erkannte ich als heilig. Keine Kunst. Kunst ist das Furchtbarste. Künste und Besonderheit, künstlerische furchtbare Gedanken und Formen.
Absicht, komische Sache. Etwas mitzuteilen, nein, nein. Der Natur konnte ich vertrauen, sie war ohne Mitteilung, nur Sprache, nur Anwesenheit, da. Baum, enormes Wort ohne Mitteilung. Er sagte nichts, war etwas. Leben: war etwas. So wert und zart jede Stelle. Die nackte kleine Böschungslinie: so daß ich fragte: was neigst du dich, und wer bist du, kleine Neigerin, wer bist du, Sache, wer bist du, Unterschwellige, was tust du, Unterschwellige in meinen Gedanken, Erinnerungen, in meiner Sprache, kleine Anwesenheitliche? Nicht ein Männchen, sondern ein München; ein Berlinlein? Wenn ich mich da hinlege, auf was wohl? Welche Zone ist das, welche Zeit ist es? Und die Antwort: Anfang, der ohne Mitteilung ist, nur Sprache, ungestört.
Sprache; sie erinnerte an etwas, sie war wie ein schönes Tal, wie ein Teich in einem leisen Wald, sie war wie Wälder oder Himmel oder die Nacht, Sterne, Mond, sie war wie Düfte des Feldes, Lichter des Feldes, Schattenwurf unter Bäumen, und plötzlich die gelben Narzissen, die braunen Äste, ein dunkler Vogel flog, nicht ganz anders als ein schöner gesprochener Satz oder die Zeile in einer Schrift. Woran erinnernd? Erinnernd an die Natur? Sprach ich wie ein Stern? Sterner, Heinrich Sterner, das wäre etwas für mich.


Sterne
das wäre etwas für mich
als Name

Deutschlandlein -
ein Deutschlandlied
voller Gesang

Die Häuser singen
die Türen sind Sänger
ich höre

Die Bäume singen
der Himmel singt
Gasthaus ist ein Glückston

Laute Stimme
eines einfachen
Hotelzimmers

Ich bin
Rose
und Rosenwälder hab ich

Ein Steine-Paar im Wäldchen
wenig geformt
wie Sonne

Man kann
die Sonne hoch heben
nicht formen

Eine Gestalt
aus Sprache -
gibt es das?

(Ein Steine-Paar im Wäldchen
in der Grafschaft B. -
eine Gestalt aus Sprache)

(Wollte
diese Reise
einen Zufall sein lassen)


Es war eine Melodie, die ich, an einer Grasstelle stehend, dann auffaßte, da war das grüne Gras, es begann zu tönen. Was war das? Ich stand in einer Musik - ich stand im Schönsten dieses Tages, in einer Musik. Da waren Dinge, ein Gehöft, Bäume, Brücke, Steine, Zaunstangen, Masten einer Stromleitung. Da lag K. P.s Kreuzweg, der sang, Stein um Stein. Dann sang drüben die Straße, dann sangen ein paar Häuser, dann sang der Himmel, dann eine Reihe Dörfer, Dorf hinter Dorf, dann sangen U. R.s zwei Steine, ein Gasthaus sang und im Wäldchen Vögel. Ein Kind fuhr auf seinem Fahrrad, blieb stehen nahebei, klingelte mit der Fahrradglocke. Dann leise wieder, wieder klangen die Felder, Feld, Feld, Feld, die Felder wie ein Fluß, sangen und waren wie ein Fluß. Das Flüßchen Vechte floß mitten durch den Felderfluß, floß durch eine Melodie. Meine Hand begann zu tönen, aber was war das? Singender Körper?


LIED VOM BLINDSEIN IN DER LANDSCHAFT

Träumt das Feldlein
Geherlein schaut und schaut
sei wie ein Stein
träum, sei blind.

Die Gräser flüstern ins Ohr
der Baum kleidet dich ein
sei wie ein Stein
voller Träume, Wiesen.

Ein Stein
das sind so viele Blumen
mehr als du siehst
Geherlein

Du siehst nicht -
es sind.


So war es: man hatte in der Stadt N. einen tönenden Weg sich erträumt, Weg der Erinnerung, daß die Ebene tönt, die Wiesen tönen, die Welt eine Melodie ist. Hier in N. hatte jemand gut geträumt, die frühen Träume und Lichter und Lieder gut bewahrt, hatte Gehöfte, Straßen, Bäume, Wäldchen, Fluß gut bewahrt, in einen haltbaren Stoff verwandelt, Stoff für eine Spaziermelodie. Ich ging auf dem tönenden Weglein dahin, oben klangen die Wolken, zwölf Uhr mittags erklang, Wind rauschte, ich verspürte da keine Freiheit, sondern Andrang von Zwängen, Traumzwängen, Baumzwängen, Düftezwängen, ich war auf dem Weg gefesselt von Natur, gefesselt von unerwarteter Melodie, ein gefesseltes Kind. Sonne, du legst mir Fesseln an, ohne Gedanken bin ich, mit Fesseln bin ich. Gefesselt wurde ich geboren; ich gehe gefesselt, was für ein Weglein, was für eine süße Folge.
Also jemand war so entbrannt, früh, jetzt dieses Weglein! Nicht wir sind - sondern die Welt ist - das war diese Melodie. Keine Absichten, nur die Welt singt und träumt vor sich hin. Man kann einen Stein aus ihr herausschneiden und aufstellen, da singt und träumt er vor sich hin. - Spazierengehen, im Singen der Welt sein. (Spazierend wußte ich, daß die Welt nur schön ist, und betrat ihre merkwürdige Ordnung.)


Ich gehe spazieren
durch den Wald
und durch den Stein

durch die Stadt
die Straßen
durch den Stein

ich träume
träume
im Stein

ich erinnere mich
ich erinnere mich
im Stein

keine Gedanken
sondern
die Steine

ich gehe
durch die Wiesen
die weichen Steine

der Stein fließt
der Stein scheint und wärmt
der Stein hat Kinder

der Stein schaut mich an
der Stein erzählt
der Stein singt

der Stein ist sehr jung
spielt mit mir
lacht mit mir

der Stein schmeckt mir
der Stein ist milchig
schäumt

der Stein hat Arme
der Stein wohnt in Häusern
der Stein zwischen Kindern

der Stein kommt entgegen spaziert
oder nachts im Himmel
ist er ein Stern

der Stein singt mir Lieder
merkwürdig
wie tröstlich sie sind

die scheidende Sonne
vergrößert
die Steinchen

mich brennen die Steine
denn welches Maß
ist in Steinen?

Ich beginne
zu lächeln


In der Stadt; ich erkannte dort manchen Kunstwillen und war zur Abkehr gezwungen. Etwas mit der Kunst sagen wollen, sich wirklich anstrengen. Umgekehrt: das Leben flüstert dahin, ich wollte hören: Melodien, in welchen die Stadt lag. Kunst und Urteile und Meinungen; aber wirklich spricht ein Stein; und die Sonne spricht; und die Pflanzen sagen; und in mir höre ich etwas, so eine ungewollte, merkwürdige Sache ist in mir, und ich sehe dieselbe in den anderen, ich sehe in den anderen das Ungewollte, Merkwürdige, kunstlose Regungen, die sprechen und erzählen unsicher dahin, träumen ständig - alles, was lebt, ist eine Kinderzeichnung, eine riesige Kinderzeichnung liegt in der Stadt; die Hände einer vor mir Gehenden waren Sonnen, und die Finger strahlten. Welche schöne Ordnung diese Sonnen zeichneten. Die Wagen, wenn das Licht auf sie fiel, waren nicht zu erkennen. Eine Frau fragte ich etwas, sie antwortete mir so hell, so hell. Eine Frau sah mich an, ich war Blicke lang fehlendes Teilchen für ihre Sache, war ihre Mittagserscheinung, ich paßte gut in dieses Frauenleben, sie war schwarz gekleidet, ging über die Brücke in der Stadtmitte, zu den Fenstern hin. Ich war gekräftigt vom Spazieren und dafür vorbereitet, die mir Begegnenden träumen zu sehen, die wüsten Träume bei offenen Augen. Die Frau wendete den Blick von mir fort, sah hinauf in die Baumkronen und träumte mit diesen, dann hin zum Fenster eines Verkaufsladens, rätselhafter Schwung. Zwei Männer im Gespräch: einer träumte den anderen, wenn man vom einen zum anderen sah, leuchtete der eine und dann der andere, sie blinkten, aber ich meinte nur: sie träumen, sind unverantwortlich, passiv, sind fast versteinertes, blindes träumendes Leben. Das Leben war schöpferisch, eine wunderbare Blindheit und Traum. Das Städtchen sprudelte ja. Die Häuser standen zusammen wie diese zwei Steinmänner, blinde schöpferisch-nüchterne Planung der Häuschen war mir so lieb, man mußte froh sein für jede Bude hinten im Hof, all das Zusammengeflickte aus dicker nasser Pappe, Holz, Wellblech und Plastik, davon strahlte liebes Licht aus, weil es unerkennbare Engel waren. Ich schaute: ein dunkler Instinkt trieb die da Gehenden, sich zu retten, aber galt nichts, vom Leben sprach keiner, man hätte sich leicht täuschen können, aber doch: der dunkle Instinkt träumte, die Gesichter geisterten, eine Erblindungsmacht schuf Gestalten, die Straßen waren voll von Anflügen und Schatten, aber nicht majestätisch, sondern noch vertraut, man wurde von diesen Straßen und Plätzen angefaßt, von dem Elementarischen oder der blinden Natur. Im Hof eines Hauses schrien zwei Frauen aufeinander ein, es war roh, die Ältere drehte dabei mit den Händen und Armen, die Jüngere duckte sich, aber drohte mit Dunkelheit von unten herauf, mit einer Kraft ging es voran, aus der Atemluft machten sie einen Schrei, die Natur schrie die Natur an, die Vorgeschichte der Schreierinnen war ganz gelöscht, jetzt war da nur Leben, ich dachte, keine der beiden könne noch wissen, was sie tat, aber doch war es für mich ein Plan. Etwas Klares, und eine unveränderliche Melodie, fast hörte ich aus der Szene Tröstungen kommen, und das Haar fiel mit einfacher Schönheit über das Gesicht der Duckenden, und die Bäume im Hof beugten sich über die zwei und drohten ganz anders, und die Arme der zwei Streitenden gefielen mir so, man hätte sie in Museen nicht ausstellen können, es war da so viel Zerfallendes und Entstehendes und so viel gewonnene Musik. Ich sah eine merkwürdige Ausgeglichenheit, so viel Träumerei in beiden Frauen; so daß auch wirklich die Szene auf einmal zu Ende war, die Frauen voneinander fortgedreht waren, jetzt sah ich die Tagtraumaugen beider. Das schöne Material der Stadt. Seltsame Sache um die Schönheit: sie läßt sich nicht bauen, läßt sich nicht machen, schreiben. Man kann eine schöne Stadt nicht bauen.


Ein Kunstwerk
Wer hat es geplant?
Ein Männlein

Denkmal
Wer hat das geplant?
Das Krieglein

Mal
Denkmal
Melodie

Hund
Katze
kleine Animale

In der Stadt
bin ich: der
pfadverlierende Wanderer

Es war
nein: es wird -
so ein Denkmal

Das Denkmal
soll träumen -
mich träumt!

Meine Gastgeber -
in ihren Zimmern
leben Kinder

Haus
ich betrachte es
das Haus lebt

Das sind
die Hände des Gärtners
in einem Gesträuch

Das ist
Venus am Himmel
und lebt


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor