Jürgen Theobaldy

Offene Räume




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Die Wörter sind nicht nur Einheit von Laut und der je eigenen Vorstellung des Sprechenden von dem, was sie bezeichnen, sie tragen auch ein Ansinnen in sich: Wir müssen sie verstehen, sonst können sie keine Geschichte erzählen, keine Erkenntnis mitteilen und kein Erlebnis gestalten. Aber die Wörter spiegeln das materielle Draußen weder im Verhältnis eins zu eins noch sind die Gegenstände maßstabsgetreu in sie eingezeichnet. Und wo sie logische Bilder liefern sollten, konnte sich all das, was nicht wissenschaftlich erfaßbar ist, Wittgensteins «Unaussprechliches», in ihnen nicht einmal «zeigen». Denn die Sprache als Ganze verzerrt. Von Anfang an war sie Deutungsversuch, ein Lesen aus den Sternen und Eingeweiden, ein Auslesen als das Treffen einer Wahl aus den lautlichen und bald auch semantischen Möglichkeiten, entwickelt gegen die lockende Feindseligkeit der Welt, um deren Geheimnisse zu beschwören und zu erklären, um sich in ihr zu verständigen, um sie in Besitz zu nehmen, zu beherrschen. Was dabei magische Übereinstimmung war, blieb aufgehoben in der Mehrdeutigkeit der Wörter, gezähmt in der Übereinkunft, wie ein Wort zu gebrauchen sei, aber nicht entschärft, weil dessen Bedeutung im verschleifenden Gebrauch neue Nuancen gewinnt, an alten verliert, bis es selbst veraltet.
In keinem anderen als dem poetischen Sprachgebrauch jedoch werden die Wörter in allen ihren Bedeutungsmöglichkeiten gesetzt, den aktuellen und vergessenen, den eben sich abzeichnenden und den erst noch zu gewinnenden. Nirgends sonst, weder im Roman noch im Drama, die beide von fiktiven Personen und Geschehnissen handeln, können die Wörter, gerade weil sie in keinem Dienst stehen und nicht eine bestimmte, möglichst scharf umrissene Funktion haben müssen, alles bedeuten, ohne dies je zu tun. Dieses Paradox ist als Verheißung im poetischen Sprechen anwesend und hat die Erwartung der Leser schon geweckt, wenn sie einen Gedichtband öffnen. Widersinn und Verheißung, sie stiften den Kontext Lyrik. Nichts anderes hatte Rilke vor Augen, als er 1922 in einem Brief aus Muzot festhielt: «Kein Wort im Gedicht (ich meine hier jedes 'und' oder 'der', 'die', 'das') ist identisch mit dem gleichlautenden Gebrauchs- und Konversations-Worte».
In der Lyrik kommt so dem Gebrauch des Wortes eine grundsätzlich zweite Bedeutung zu; das Wort verdoppelt sich gleichsam, und zwar gerade deshalb, weil es seine andere, Verstehen erheischende Wirkung, Rilkes Konversationswert, im Gedicht nie restlos aufgibt. Wie ein schreibendes, historisch vermitteltes Ich diese Spannung erfüllt, macht das Poetische aus. Die Lyriker ziehen daraus verschiedene Konsequenzen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf das Einzelwort, um es derart mit Bedeutung aufzuladen, daß ein großes Gefälle zwischen ihm und seinem Gebrauch im Alltag entsteht. Oder sie trennen die lautliche von der inhaltlichen, auf die außersprachliche Wirklichkeit bezogene Seite (und halbieren damit freilich, wenngleich oft virtuos, das poetische Sprechen, statt es zu befreien). Andere ebnen im Gegensatz dazu die Grenze zum eingreifenden, politisch engagierten Sprechen ein (um nicht selten die spitze Feder mit dem Meißel zu vertauschen und monumental zu werden). Ich will von einer vierten Möglichkeit reden.

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Das Salz ist im Gedicht, und das Gedicht geht ins Handgemenge: Vor zwanzig Jahren habe ich auf den Gestus des Spontanen abgehoben, nicht im Sinne von Brechts verfremdendem Sprechprobendeutsch, sondern als dem persönlichen, von Traditionen nicht eingeschüchterten Ton. Obwohl scheinbar natürlich, macht dieser Ton nicht das, was Befürworter und Verächter des Authentischen meinen. Er stellt sich nicht von selbst ein. Ich muß mich Vers um Vers auf ihn zubewegen, denn das Eigene, von dem Hölderlin sagt, es müsse «so gut gelernt sein wie das Fremde», ist Ziel und nicht Aufbruchspunkt. Es ist mein Entwurf von mir selbst als einem, der Lyrik schreibt, während westliche, auf Zivilität bedachte Diplomaten vor den Kameras mit serbischen Menschheitsverbrechern charmieren, meine Kinder mehr von Jim Knopf hören wollen, Lasagne zum Mittagessen wünschen, und gegen Abend füllt sich der Monitor des Kabelfernsehens mit Blutlachen. All das drängt mich nicht zum Gedicht. Aber es ist mir gegenwärtig, wenn ich neue Bilder einsammle, und zwar aus der Sprache, die ich täglich verwende: Der Kontext Lyrik setzt keine besondere, vom gesprochenen Deutsch abgewandte Sprache voraus.
Im Ansturm auf das landläufige Verständnis zeitgenössischer Lyrik anfangs der siebziger Jahre haben viele nur die Anmaßung gesehen, hier solle die Poesie selbst zugunsten eines rüden antipoetischen Schreibens abgeschafft werden. Andere nahmen diesen Umbruch als Garantie dafür, daß der Schreibende von der Tradition nichts zu wissen brauche und daß von jetzt an mehr oder weniger jeder Text in Flattersatz als Gedicht durchgehe. Beim heutigen Genuß- und Abfertigungstempo war der rasche Durchbruch dieses bald als Neue Subjektivität bezeichneten lyrischen Sprechens dessen eigentliche Gefährdung. Die Vielzahl der Gedichte wollten etliche Kritiker aus mangelndem Unterscheidungsvermögen zwischen ästhetischen und sprachlogischen Kriterien gar nicht erst als Lyrik gelten lassen und gingen so lange dagegen an, bis sie in den achtziger Jahren mit einigen Lautprozessoren wieder unter sich waren.
An der Neuen Subjektivität hat man das Individuelle vermißt, ihr wurde ein Anspruch vorgehalten, um den es ihr als «Neuer» gerade nicht gegangen ist. Ihre lyrischen Ichs erfuhren sich weder als allseitig ausgebildete, meinetwegen sozialistische Persönlichkeiten noch als spätbürgerliche Originalgenies. Sie spürten in sich selbst das manipulierbare, in sachlichen Zusammenhängen und unsachlichen Zwängen steckende Subjekt auf und erhoben mit ihm, ungebärdig oder mit sachtem Nachdruck, polemisch oder redlich, den Anspruch des Einzelnen auf Glück. Sie taten es dort, wo vierzig Jahre zuvor der massenhafte Selbstverlust die Basis für eine beispiellos mörderische Diktatur abgegeben hatte. Und sie taten es, als sich kaum abzuzeichnen begann, was heute zum Hauptproblem der Epoche geworden ist: Daß weltweit mehr und mehr Menschen in einem Ausmaß überflüssig werden, in dem sich nicht einmal lohnt, ihre Arbeitskraft auszubeuten.
Die Gedichte der Neuen Subjektivität breiteten als lyrische Formen von Selbstbehauptung keine exotischen Innenleben aus, so effektvoll mancher Lyriker ans Mikrofon trat. Mit ihrem Aufkommen war das Kabel zur Nachkriegsliteratur durchschnitten. Auch wenn sie von einer Generation gelesen wurden, die nicht zuletzt durch jene Literatur gegen alles Militärische mißtrauisch geworden war, wurzelten sie doch in eigenen Lebenszusammenhängen, geprägt von der Rebellion der elektrisch verzerrten Gitarren, der engen Jeans auf nackten Hüften, der kreisenden Joints und der roten Fahnen in den volleren Hörsälen. Zudem tat die Avantgarde damals fast alles dafür, die Kluft zwischen Kunst und Leben zu schließen, was freilich oft quälend war, auch für die Unbeteiligten, und selten Ansporn, der eigenen Schüchternheit zu trotzen. Das Etikett Alltagslyrik, das den Gedichten der Neuen Subjektivität gelegentlich angeklebt wird, reicht trotzdem nicht aus, um ihren Aufbruchsort zu beschreiben, ihren Impuls, alltägliches Lebensgefühl, Daseins- und Formulierungslust unbedingt zu steigern. Es enthält zudem wenig vom Ziel der Gedichte, in den Alltag einzudringen, statt die Leser aus ihm zu entführen, den Glanz des klaren Ausdrucks zu gewinnen, weil Dichtung eine sprachliche Gestalt von Glück ist - oder die dem Leiden abgerungene Schönheit.

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Die Manifeste betonen die Veränderung, der Blick zurück erfaßt, was bleibt: das Eigene, keiner Schule und keiner Bewegung Geschuldete. Mit dem Parlando ist eine freie lyrische Form geschaffen, die letzte vielleicht in diesem Jahrtausend, eine Art und Weise, auch dann nicht in hochmütige Sprachspiele und ausgrenzende Lebensstile abzudrehen, wenn es den Anschein hat, daß ausgesungen sei. Die unbekümmerte Tongebung war Ergebnis einer Reflexion dessen, was nach der Lyrik in und neben der «Gruppe 47» machbar sei. Wer aus den neuen Tönen nichts weiter heraushörte als ein saloppes Verhältnis ihrer Urheber zur Sprache, war taub für die Verschiedenheit von Stimmlagen. Niemand geht lässig mit seinen Möglichkeiten um, wenn ihm gelingt, den Gestus des Lässigen in das Gedicht einzuführen. Die freie Form des Parlando ist grundsätzlich offen und vermag Slang genauso aufzunehmen wie lakonisch herabgestimmte, mit Witz und Motoren durchsetzte Elegien. Wer der Prosodie genügen will, kann von jambo-trochäischen Versen mit daktylischen Auflockerungen sprechen und sich dem entspannten, doch nicht spannungslosen Rhythmus überlassen.
Der Reim, einst Begriff für den ganzen Vers, ist nach «Aprèslude» trotz bemerkenswerter Auffrischungen aus Hamburg ein eher auf- als eindringliches, das Artistische zum Kabarettistischen hinbiegendes Element. Denn weniges erscheint ästhetisch fragwürdiger als eine Form, die sich beim Lesen nicht vergessen läßt, weil sie das Gedicht beherrscht, ohne damit zu bezaubern. Das gilt auch für neuere, formal ausgeklügelte Verfahren, mit denen Gedichte zu Vorführmodellen einer Könnerschaft werden, die ihre Vorgaben ausbeutet und bald als erschöpft wegwirft. Die Lyrik läuft dabei Gefahr, zum Instrument eines höheren Juxes zu werden, zum defizitären Ertrag linguistischer Studien, und was an ihr spielerisch ist, kippt in ein systematisches Tüfteln und Schematisieren um.
Wie jedes poetische Sprechen erzeugt das Parlando sein eigenes Risiko. Es kann in der Falle der Prosa verenden, es kann aber auch ein lyrisches Ich frei- und aussetzen, das dem empirisch greifbaren Dichter-zum-Anfassen der Kulturfestivals durchaus nahekommt, ohne jemals eins mit ihm zu werden. Dieser Abstand gleichsam zum Ich des Ichs wird nie zu überbrücken sein. Er war auch nicht von jener Lyrik eingezogen worden, die um 1800 den Erlebenden zu ihrem Gegenstand machte und die als scheinbar authentisches Schreiben bis auf diesen Tag Nachahmer findet. Das lyrische Ich heute hingegen ist nicht am Gegenstand und wenig an sich selbst, es ist am Erlebnis des Gegenstands interessiert. Wo dieses Erlebnis gestaltet wird, verwandelt es sich zum sprachlichen Abenteuer, es hebt sich aus dem Alltag heraus und bleibt doch ein Teil von ihm: als Gedicht, das ich aus meinem Bewußtseinsstrom heraufwinde, eine verdichtete Einheit von Bedeutungen, im nachhinein geschaffen, weshalb der Eindruck von Unmittelbarkeit immer das Ergebnis eines Vorgehens ist, das den Abstand zwischen Anlaß und Gedicht bedenkenlos zusammenkürzt. Der Augenblick findet seine Dauer, und umgekehrt erscheint im spontanen Zugriff etwas Andauerndes als Moment: flüchtige Regung, Spitze im Diagramm eines Tagesablaufs voller Unebenheiten.
Denn obwohl ein Gedicht vom täglichen Material ausgeht, kehrt es nicht dorthin zurück. Es läßt das Andere aufscheinen, ob sich darin eine soziale Perspektive zeigt, ein eher Metaphysisches oder der Andere als meinem mir fremden, immer von mir verschiedenen Ebenbild. Wie unfaßlich groß war in den utopischen Wünschen und Entwürfen erschienen, was sich seit 1989 trivial und kaltschnäuzig vorangetrieben vollzieht! Einmal mehr zeigt sich, daß Poesie und Politik zweierlei sind, daß beide manchmal aufeinanderzuwollen, sich manchmal voneinander abstoßen, manchmal einander zu umarmen suchen - und dann ins Leere greifen, zumal es allen nur nützt, wenn das Mittelmaß an Leidenschaften die Entschlüsse einer Regierung bestimmt, statt daß Habgier und Herrschsucht ihre programmatisch verbrämten Sadismen verwirklichen. Die Poesie, die ihren Reichtum in ihrer Machtlosigkeit entfaltet, dient auch hier zu nichts. Das bleibt ihr unversöhnliches Zugeständnis. Was an ihr Alltag ist, weist über diesen Alltag und über den Schrecken hinaus, der auch Alltag ist. Gedichte, so einfach, «wie eine Tür aufzumachen», hat Rolf Dieter Brinkmann verlangt, und dann wird in der offenen Tür des Gedichts etwas sichtbar, was so nicht da war, eine zärtlichere Art zu leben, mit der sich zwei Liebende nicht hartnäckig zu vermissen und nicht unentwegt aneinander zu klammern brauchen: «Du bist eine / von Millionen, aber auch ich / bin einer von Millionen.»

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Wer Gedichte schreibt, ist kein Kolonisator, der auf Rufweite mit anderen und in den Fußstapfen früherer Dichter immer größere Bereiche des Unaussprechlichen verfügbar macht. Denn das Unaussprechliche ist kein begrenztes Gelände, das eines Tages, sobald die Entwicklung der Dichtkunst an ihrem Ziel sei, für die Sprache restlos erschlossen wäre. Nach der Logik des Fortschrittsdenkens hätte mit den dadaistischen Lautgedichten das Ende abendländischer Lyrik erreicht sein müssen. Man war auf dem Grund der Wörter angekommen, und dort war nichts als ein inhaltsloses, freilich nicht sinnloses Trommeln und Skandieren. Tatsächlich aber ist der Dadaismus eins der vieldeutigen, historisch vermittelten Gleichnisse des Unaussprechlichen, eine Antwort hier auf das Grauen im Ersten Weltkrieg.
Solche Gleichnisse enthalten das Unsagbare nie ganz in sich. Vor ihnen bleibt es stets Teilstück, und die Idee vom Fortschritt des poetischen Materials hält auch deshalb nicht stand, weil keine Dichtung Totalität abbildet. Nie hebt das jeweils neueste Werk die dann scheinbar überholten Totalitäten vorheriger Werke in sich auf. Und schließlich stellt der Fortschritt, wo jede Epoche gleich nah der Barbarei ist, keinen Wert an sich dar. Die Lyrik Gottfried Benns zum Beispiel löscht die von Georg Trakl nicht aus. Innovationen sind meistens älter, als Geschichtsstürmer und bestbestallte Meinungsmacher wahrhaben wollen. Syntaktischen Auflösungen begegnet man schon in Gedichten von Goethe und Eichendorff, sie lassen sich nicht dem Erfindungsgeist der Avantgarde im 20. Jahrhundert zuschanzen. Deshalb kann ich mich innerhalb der Syntax bewegen und ihre Größe bezeugen, indem ich den Satz zum Schwingen bringe. Eigene Regeln erfinden, um sie dann zu überwinden oder auf das Vollkommenste einzuhalten: Ich wüßte nicht, was damit bewiesen wäre.
Das Aussprechliche, Sagbare hat das Unaussprechliche an sich, es konstituiert dieses. Daher wird niemals alles gesagt sein. Die Lyrik führt die Wörter in ihrer ganzen Bedeutungsvielfalt herauf, um etwas Wortloses zu schaffen: den offenen, das einzelne Gedicht umgebenden und ergänzenden, von jedem Leser neu zu durchstreifenden Raum dessen, was ungesagt bleiben muß, während das Gedicht spricht und seine inneren Zusammenhänge spielen: In solchem Spiel erst rundet sich die Stimme seines Autors zum unverwechselbaren Ton. Ich habe einige Namen genannt, als ich unter der Sonne des Einsamen ging und Dichter des Südens und der Verlassenheit mit auf meine «Sommertour» nahm: Camus mit seinem frühen poetischen Prosazauber, Pavese, Ritsos und Kavafis, auch Born auf seiner Rückkehr zum Handschriftlichen. Es sind allesamt Dichter, die nicht singen und die doch, auf meist nüchterne, profan erleuchtete Weisen zu verherrlichen suchen - das Meer, einen Morgen, Steine, die Toten, ein Körperversprechen. Ich lernte von ihnen, daß die Sprache der Lyrik weder ganz vom Gesang loskommen wird noch soll, eine Art Lied klingt immer mit, weil jedes Gedicht aus einem Schweigen inmitten des Geredes heraus startet, hinein in einen grenzenlosen Raum voll lyrischer Stimmen. Das Gedicht hebt an, auch wo es nicht abhebt, die gewöhnlichen Bedeutungen seiner Wörter ziehen mit und klingen noch dort nach, wo es sich gegen außen verschließt, um gegen innen desto vertraulicher zu reden und auf das Gespräch mit den Nachkommenden zu setzen.

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Aber ich will mein Gedicht offen halten, das Unverständnis bei den Zeitgenossen wählt man ohnehin so wenig selbst wie die tragische Biografie. Beim Erkunden antiker Formen wie Catulls Elfsilber und der sapphischen Ode sollte mein Straßen- und Kneipendeutsch sich bewähren, ein unmöglicher Weg vielleicht, doch geht die Lyrik meistens unmögliche Wege, und das müssen nicht immer kurze sein, auch wenn sie manchmal dem Lebensabschnitt Jugend zugeordnet wird. Die Knappheit der kleinen, die Fabel aushebelnden Tiergedichte im «Aufwind» war mir nur so lange nahe, wie ich ihren Reduktionismus nicht als brutal empfand. Daß sich Autoren geradlinig entwickeln, ist eine Erfindung sonst bequemer Literaturhistoriker und erfüllt das Diktum, wonach Tradition vor allem Faulheit sei. Jemand schwärmt aus, übertritt diese und jene Grenze, bricht irgendwo ab und setzt woanders neu ein und hat auf einmal den alten Ton wieder; aber er selbst ist an einer anderen Stelle seines Lebens und weiß jetzt: «es kehret umsonst nicht / Unser Bogen, woher er kommt.» Meine längsten Gedichte begann ich, als ich nach dem Scheitern eines erzählerischen Projekts nichts mehr in Händen hatte. Ich fand mich auf einmal inmitten eines Desasters wieder, über Nacht ein Dasein ohne den Beistand des Schreibens vor Augen, durchbebt von der Gewißheit, daß ich ohne die Poesie ein wandelnder Toter wäre, unwert der Liebe und der Vertrautheiten. Ein Abgetaner war ich, aber ohne das Pathos der Legenden, ein Überflüssiger, mit dem ich nicht mehr solidarisch sein konnte, wenn ich mir selber überflüssig vorkam. Ich erfuhr, daß ich die Welt verliere, wenn ich darin keine eigene Welt errichten kann, daß ich allenfalls jene verstehend und mir verzeihend hätte weiterleben können.
Und so schreibe ich Gedichte, um sie dabei zu durchwandern, mich dem Strom der Wörter überlassend, neugierig darauf, wohin sie mich führen und ob das eine ansehnliche Gegend ist. Zum ersten Mal vielleicht bin ich meinem Schreiben ausgeliefert, empfange von ihm und verlasse mich gerade deshalb nur auf mich, bin ohne Rückhalt und Rückversicherbarkeit und deshalb rücksichtslos, kein Netz eines festen Versmaßes unter mir, keine Methode an der Hand und ohne den Panzer eines Hermetismus, der mich unangreifbar machen könnte. Ich versuche alles dafür zu geben, daß mein Gedicht an den entscheidenden Stellen, wie Adorno sagt, Glück hat. So beteiligt es mich an diesem Glück durch die bald flackernde Ahnung, bald aufflammende Gewißheit, ich könne nun sagen, was ich sagen will, seit ich am Küchentisch die ersten Verse schrieb, während meine Mutter neben mir ihre Heftromane las, für die sie eine Wäscheklammer als Lesezeichen nahm.
Schreibend suche ich die Balance zwischen Freiheit und Bindung, während ich mit dem Gedicht in Übereinstimmung kommen will, fern vom empirisch wahrzunehmenden Gegenstand im eigenen, mit Wörtern ausgelegten Erlebnisraum. Der Weg führt nach innen, aber er führt auch wieder heraus. Denn im tiefsten Innern herrscht Sprachlosigkeit. Funde lenken meine Entscheidungen, Funde, die ich dort einfüge, wo sie scheinbar zufällig hineinpassen und doch zeigen, daß nur so die Teile zusammenstimmen. Es ist der Zustand, der mir selber Überraschungen bringt und der mein Schreiben vorantreibt, das sonst auf jeden Fall vergeblich wäre. Die dichterische Sprache zwingt das, worauf ich abziele, desto mächtiger herauf, wenn ich davon ausgehe, daß es keinen Namen hat und daß sie ihm keinen gibt. Was sie sagt, sagt sie immer zum ersten Mal. Mit jedem Gedicht fange ich neu an, alte Erfahrungen nützen nichts, alte Metaphern, keine Metaphern, neue Metaphern: die Entscheidung fällt jedes Mal neu. Der Raum des Sagbaren ist ein offener, von niemandem zu überblickender Raum. Er ist nicht Bruchstück in dem Sinn, daß er ein Ganzes voraussetzt. Einst war er freies Feld, bis seine Furchen mit den ehemals engen Kehren, von woher der Vers kommt, auseinanderliefen und die Verse nicht mehr die feuchte, dunkle Erde ihrer Zeit freilegten - um im Bild zu bleiben, solange noch nicht vergessen ist, was mit Hesiods «Werken und Tagen» begann.
Je länger sich ein Gedicht fortschreibt, desto schwächer wird die Versuchung, es in einem Sinnspruch zu gipfeln. Gedankenlyrik langweilt mich, aber ich mag gedankenreiche Sentenzen, mag die Konsequenz, mit der diese Abfolgen so unverfroren wie unerbittlich an neuen Weisheiten vorbeizielen, während sie aufeinander zutreiben, sich ineinander schieben: innere Kontinente, Paradoxien, die aus einander hervorgehen, Kataloge von Beobachtungen, die ich auf den Punkt bringe, ansatzlos, ohne aufzutrumpfen, eher gelassen als in schroffem, den Vers aufbrechendem Rhythmus. Solche Gedichte kreiseln um immer andere Zentren und tauchen ein in die Vielheit von Bezügen; statt nach hierarchischen Verschachtelungen tasten sie nach Erweiterungen, biegen noch einmal um eine Ecke, lassen Nachbarschaften aufklingen und kehren doch noch nicht bei ihnen ein.

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Weil Sprache Lebensform ist, ist meine Dichtung Lebensmöglichkeitsform. Ob sie einer verborgenen, im Außersinnlichen auf Einlösung harrenden, vom Sein schließlich ins Geschick geschickten Wahrheit entspricht, bekümmert mich wenig. In solchen Entsprechungen, deren Genußpotential den schaudernden Betrachtern historischer Großräume und Zwielichtzonen schon einen tausendjährigen Rausch versprach, hat das Zufällige, das spontan Entstehende keinen Platz. Und doch ist es treibender Teil einer Subjektivität, die an den Brennpunkten der Geschichte die Welt immer wieder in unvorhersehbare, die Experten verwirrende Richtungen lenkt. Inzwischen stellt man das Wachsen ganzer Bergmassive mathematisch dar, berechnet künftige Verschiebungen und Verwerfungen voraus und beweist, daß selbst die Gebirge in Fluß sind. Trotzdem kann man die Bewegungen eines Einzelnen, seine Lebensbahn im Gewimmel einer Gesellschaft, nicht präzise er-fassen, auch wo sich biografische Grundmuster wiederholen und als Teilhabe an größeren, einst mythischen Zusammenhängen erscheinen.
Ich erfahre Lebensmöglichkeitsformen und meine damit mehr als die Hinnahme dessen, was mir widerfährt, ich suche keine Abenteuer, nur damit sie sich mir bieten. Woran ich denke ist ein Erleben, das einem Erobern verwandt ist, ohne dessen kriegerischen Zugriff, aber mit der Vorsilbe er in der gleichen, auf Aktivität, Aufmerksamkeit, Bereitschaft zielenden Bedeutung. Selbst wenn ich von mir schreibe, kommt es mir nicht auf mich an. Ob es Engel an und für sich gibt und ob sie aus ihren unzugänglichen Bereichen wenigstens sonntags zu uns kommen, ist nicht wichtig; genau genommen lassen sich diese Fragen nicht beantworten und also nicht verneinen. Die Engel in meinen Gedichten sind Projektionswesen, was noch gar nicht viel besagen soll. Mir ist nur, als hätten sie die Leiter gehalten, hinauf in meine Nachtbilderschau. Falls ich mich täusche, war ich trotzdem oben. Denn jeder hat seine und jede hat ihre Engel in sich, jene Boten, die mich mit dem Anderen meiner selbst vor allem Nachdenken über mich vertraut machen.
Die Lebensmöglichkeitsformen in meiner Dichtung sind nicht nur erhoffte, es sind auch mir erspart gebliebene oder mir noch nicht zugestoßene Formen: Erinnerung, Maske, Erprobung, Vorwegnahme. Ich bin erst durch die Dichtung ganz zur Welt gekommen. Deshalb wird sie mir immer mehr sein als ein kunstvoll Gemachtes, so wie ein Fest immer mehr ist als die durchdachtesten Vorbereitungen dazu - wenn auch ohne diese nichts. Natürlich macht man ein Gedicht aus Wörtern, das haben die Dichter immer gewußt; nicht zufällig erging dieser Hinweis zuerst an einen Maler. Und niemand schreibt ein Gedicht, ohne mindestens zu ahnen, daß es sich bei den Wörtern, die er dabei aufbietet, gleichsam um Wortwörter handelt. Selbst wenn es nicht immer Jahrtausende sind, die ihrem Flug entfallen: Sie öffnen ihre Schwingen. Ich komme von unten her, ich intoniere von unten. Dennoch trägt meine Dichtung nicht nur das, woher ich bin und wie ich lebe, in sich. Vor Sapphos Plejaden spüre ich die nächtliche Einsamkeit einer Vereinzelten und empfinde zugleich das Glück, lesen, Verse lesen zu können. Ich fühle mich auf dem Grund der Welt und weiß doch, daß tief unter mir flüssig heiße Schichten wogen, während über mir Ströme unbekannter Materie und nie erscheinender Energien durch das Meer des Himmels ziehen und in mir Wellen und Signale antworten, rhythmisch, wortlos, ohne Ton noch.


(Zuerst veröffentlicht in ZdZ Heft 3, Januar 1994)
Jürgen Theobaldys Bio- und Bibliographie



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