Peter Waterhouse

Offenbarer Ort




Rede anläßlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur an Inger Christensen

Inger Christensen hat das Langgedicht »alphabet« geschrieben, das ganz viele Sachen der Welt in alphabetischer Reihenfolge aufzählt, von den Aprikosenbäumen und dem Brom und den Zikaden und dem Eis und dem Flüstern bis zu den Namen und Nächten, Nachtkerzen und Nelken. Es gibt in dem Gedicht, wie es aufzählt und aufzählt - alles was jeder kennt aufzählt -, eine große Schönheit da, und wiewohl kaum überraschende Sachen genannt werden, ist alles überraschend. Schon die erste Zeile des Gedichts, die nichts Überraschendes sagt, ist eine Überraschung. Sie nennt das Gegebensein der Aprikosenbäume, und ich glaube, es ist auf einmal überraschend, daß es die Aprikosenbäume gibt. Schönheit und Überraschung der ersten Gedichtzeile kommen zum Teil daher, daß gar kein Aprikosenbaum da ist, aber die Gedichtzeile ihn in die Erinnerung ruft, dabei aufweckt, verlebendigt. Fast auch ist er ein Freund, den man zu lange vergessen hat, eine Güte, die man vergessen hat, eine gute Nahrung, sogar eine vergessene Rettung. Und sogar ein Teil von einem selbst, vielleicht sogar die eigene Seele - ach, die Aprikosenbäume, ja, meine Augen und meine Berührungen mit der Hand.
Ich lese Ihnen diesen Anfang des Alphabet-Gedichts vor -

die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es

die farne gibt es; und brombeeren, brombeeren
und brom gibt es; und den wasserstoff, den wasserstoff

die zikaden gibt es; wegwarte, chrom
und zitronenbäume gibt es; die zikaden gibt es;
die zikaden, zeder, zypresse, cerebellum

die tauben gibt es; die träumer, die puppen
die töter gibt es; die tauben, die tauben;
dunst, dioxin und die tage; die tage
gibt es; die tage den tod; und die gedichte
gibt es; die gedichte, die tage, den tod

Eine weitere Überraschung in diesem selbstverständlichen Feld: Das Gedicht geht alphabetisch voran - in der deutschen Übersetzung nicht ebenso streng wie im dänischen Original -, doch innerhalb des alphabetischen Progresses erscheinen die Wiederholungen. Die Zikaden, unter dem Buchstaben oder Laut C, sind nicht bloß einmal aufgezählt, sondern dreimal. Oder daß es die Aprikosenbäume gibt, wird am Gedichtanfang nicht nur einmal gesagt, sondern gleich darauf wiederholt. Wenn man dieses Wiederholen in unser Schulalphabet übersetzte, dann lautete es wie: AA BB BB C C C DA DD EE E BF FE Warum lernen wir als Kinder ein so karg- chronometrisches Alphabet? Das zweifache A, die zweifachen Aprikosen, obgleich sie scheinbar alphabetisch dastehen, sind doch a-alphabetisch, nämlich eine Gegenpartitur zur Ordnung der Chronologie. Daß die Zikaden schon bald nach ihrer ersten Nennung wiedergenannt sind, eröffnet eine andere Ordnung als die des Fortschritts. In den Wiederholungen schlägt das Gedicht vor, daß es etwas anderes gibt als den zeitlichen Verlauf, nämlich daß unterhalb oder hinter oder in diesem Verlauf eine Musik gemacht wird, ein musikalischer oder musischer Raum, ein Raum der Muße und Erlaubnis, ein Intervall, fast eine Art Nichts, und dieser Raum aus Gegenwärtigkeit gemacht ist. Es ist, glaube ich, die Lust an diesem anderen Raum, die schon aus der ersten Zeile des Gedichts ausstrahlt - als Schönheit - auf den, der liest. »die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es«, da ist Gespür für das Vergehen des Satzes und ein Wissen, daß er doch nicht vergeht, sondern - wie in der Wiederholung - in eine musikalische Gegenwart eintritt. Oder das Gedicht teilt überhaupt das Wissen mit, daß nichts abläuft, sondern in einen Raum zusammenfließt.

Dieser Raum des Zusammenflusses, oder Raum der Vereinigung, wird immer dann wahrnehmbar, wenn die Dinge fort sind. Er wird also beispielsweise im Sprechen immer spürbar, weil das Sprechen ein bißchen getrennt ist von den Dingen. Der musikalische Raum wird wahrnehmbar oder öffnet sich, wenn der Satz von den Aprikosen ausgesprochen ist und beendet und irgendwie weg ist, und seine Wiederholung tritt den Beweis des Raums an. Wenn der Zikadensatz fort ist, beginnt ein Gespür für sein Fortsein und die Lust an der Wiederholung. Aber es gibt auch größere Verluste, fernere und mehr angstmachende. Das Damals des August 1945 in den Städten Hiroshima und Nagasaki ist ein solcher Korpus aus Abwesenheit und Vernichtung, der sich bemerkbar macht und ein Aufwiegen verlangt und eine Musik der Verlebendigung auslösen kann. »die atombombe gibt es« sagt das Gedicht an dieser furchtbaren Stelle. Was kann das Gedicht aber wiederholen? Welchen Raum kann es aufspüren? Es sucht wieder nach dem Indiz, daß das Vergangene nicht vergangen ist, sondern sich bezeugt. Wie bezeugt sich dieses Vergangene oder mit welchem Alphabet macht es sich bemerkbar? Es macht sich bemerkbar mit fünf verschiedenen Alphabeten: zunächst mit dem Alphabet des rauschenden Wassers, das aus dem Wasserhahn in einer Küche fließt - in diesem Rauschen sind draußen im Hof die Kinder hörbar, welche rufen; wie wenn das Alphabet des Wasserrauschens erzählte von dem Rufen der Kinder; im Alphabet der Kinderrufe draußen sind hörbar die zwitschernden Vögel - wie fast wenn diese Rufe den Vögeln gelten würden; im Alphabet dann der zwitschernden und singenden Vögel bleibt oder wird hörbar das leisere Flüstern der Blätter im Wind; und im Flüsteralphabet der Blätter ist hörbar das leise Alphabet des Himmels, und dieser Himmel mit seinem Leuchten buchstabiert und erzählt, daß er ganz hell ist und so hell wie das Licht jener furchtbaren Feuer am 6. und 9. August.

Noch einmal die Aprikosenbäume: Der Satz von diesen Obstbäumen erinnert wie an einen zu lange vergessenen Freund. Aber da ist noch etwas: die Frage nach dem Alphabet, nach dem der Gedichtband seinen Titel hat. Welches Alphabet wird buchstabiert? Das lateinische literarische Alphabet ABCDE steht nirgendwo im Gedicht. Welches Alphabet also? Mögliche Antwort: Die Aprikosenbäume sind ein Alphabet, die Brombeeren sind ein Alphabet, die Erinnerungen, die Einzelheiten, die Luft, die Leidenschaften, der Lotus. Das Buch also ein Verzeichnis von Alphabeten; ein Alphabet der Alphabete. »die aprikosenbäume gibt es«, das ist auch soviel wie: die Buchstaben, die Schriften der Aprikosenbäume gibt es - wie es im Wort Aprikosenbäume A und I und O und E und U gibt und einen Wald von Konsonanten. Hier am Beginn des Gedichts sind unter der Ordnung des A, wie in einem Lexikon, die Aprikosenbäume verzeichnet, aber schon sieht man, daß hinter diesem Anfangs-A alle anderen Vokale und die Konsonanten Platz haben, ihren Platz haben im A-Alphabet. Die Schönheit des Gedichts liegt auch in der Zurückholung der vergessenen Alphabete der Welt und darin, daß diese Alphabete lesbar sind. Lauter Alphabete, sie sprechen durcheinander, sie verwirren, das heißt auch, sie entchronologisieren dich, das ist das Beste, was dir passieren kann. Denn verwirren heißt: immerfort kehren die Buchstaben wieder, mit Lust. Verwirren heißt: wir sprechen eine Vielzahl von Alphabeten. Wir beginnen ein Wort mit A, und in dieses schießen Konsonanten und Vokale ein, wie um die Gleichzeitigkeit zu beweisen und die Zurückholbarkeit. Jeder spricht so, wie um an einen Raum anderer Ordnung zu erinnern; die Sprache ist geradezu dieser Raum anderer Ordnung, ein musikalischer Raum, Raum der Musen, die ja die Einflüsterer der Gleichzeitigkeit sind. Wer spricht, spricht immer mit den Musen. So wird klar, daß das Sprechen und die Sprache ein Glück sind.

eigentlich war es erst
im hafen von Berlevåg
wo die möwen in der kälte
im juni wüten

daß die abwesenheit der tauben
ihr ausgebliebenes
grundloses plaudern
mich in etwas versetzte

das nicht verwunderung war
sondern ganz gewöhnliche
alltägliche offenheit
fast frömmigkeit

als läge in der welt
ein großartiges sonnenklares feld
aus zentimeterkleinen schritten
auf weinroten füßen

ein ständig verliebtes
und kompliziertes aufspüren
von nahrung und verlangen
in der höhle des tageslichts

ein gemurmel von lust darauf
sekunde um sekunde
seinem tode zu entgehn
und anwesenheit mitzuteilen

mir ging auf daß das bedichten
von tauben im regen
in einem ei anfangen muß
in einem schwindelerregenden tropfen

mit daunen anfangen muß
mit dem sammeln der tropfen
mit feder um feder
in einer gesuchten zeichnung

mit gräulichen bräunlichen
weißlichen bläulichen
unberührten farben
und wasserschichten in der luft

mit einem herzen irgendwo
mit lungen so fein
wie farne aus sauerstoff
und mit dem gespinst der wolken

mit einer abwesenheit und sofort
mit einem gleichzeitigen durst
nach dem glück von menschen
mit sämtlichen möglichen/wörtern

Die Rekonstruktion der Taube, vielleicht ist das auch die Rekonstruktion und Realphabetisierung des Friedens, der nicht der Vater aller Dinge ist, ein zum Zusammenschuß-Bringen des Friedens: das ist eine aus Farben gefiederte Figur, eine vielleicht im Hals-Schilch der Taube zeichengebende zittrige paradiesisch-parataktische mögliche Sache, sein Herz heißt Irgendwo, die Feinheit seiner Lungen braucht als Vergleichsmöglichkeit die Feinheit der Farne und das Chlorophyll der Farne für das Schöpfen der Atemluft, er hält sich auf in einem anderen Raum voll Lust auf Glück.

Das ist der Augenblick, über Inger Christensens Erzählung »Das gemalte Zimmer« zu sprechen. Auch die Erzählung gibt Nachricht von dem Raum der anderen Ordnung, dem nicht-chronischen Raum. Derjenige, der das beste Wissen von diesem Raum hat, ist der italienische Maler Andrea Mantegna. Der Fürst von Mantua, Lodovico Gonzaga, lädt den Maler Mantegna ein, mit seiner Familie am Hof Wohnung zu nehmen und zu arbeiten. Er bezahlt ihn fürstlich oder staatspreislich dafür, bezahlt ihn eigentlich grenzenlos, wie um den Maler zu bestätigen in seinem Durchbrechen der Diachronie. Vor allem soll Mantegna das »gemalte Zimmer« schaffen, das fürstliche Ehegemach im Palast ausschmücken mit Fresken.
Der andere Raum bekundet sich auch darin, daß die Grenzen einer Person undeutlich werden. Die Erzählung ist voller Personen und Namen, aber im Lesen entsteht von Anfang an eine Aufmerksamkeit dafür, daß sie zwar da-existent sind, sie jenseits aber in eins zusammengefaßt werden könnten, in etwas Dort-Sistentes oder Re-Sistentes, wie unter einem einzigen Namen versammelt, wie unter dem Namen Bleiben oder Dauer oder Bewahrheiten oder mantenere oder Mantegna oder Mantua.
Die Erzählung beginnt in der Tagebuchform, es ist das Tagebuch des fürstlichen Sekretärs, der Marsilio Andreasi heißt. Bald nachdem man diesen Namen des Sekretärs gelesen hat, entwickelt sich in dieser Buchstabenfolge eine Virulenz. Der Name ist wie eine unvollkommene Wiederholung des Namens Andrea Mantegna. Gut, aber der fürstliche Sekretär ist kein Freund Mantegnas, vielmehr schildert der Tagebuchschreiber den Maler als seinen Feind, als den, den er wirklich haßt, er beschreibt ihn als hochmütig, brutal, als einen Populisten in der Kunst, als Krawallmacher. Zudem heiratet Mantegna jene Frau, in die der Sekretär Andreasi verliebt ist. Das ist die Ordnung des Konflikts oder der Aktualität. Der Staatsmann Gonzaga aber hat Mantegna eingeladen im, glaube ich, Wissen darum, daß die Kunst in oder hinter der Ordnung des Konflikts und der Helden und der Apotheosen eine Lösung errät. Er fördert den Künstler, der eine Möglichkeit des Friedens enträtseln kann.
Der Sekretär, in Haß und aktueller Verzweiflung, tötet die geliebte Frau. Zwei Monate nach diesem Tod eine Bitte Mantegnas, die der Sekretär in seinem Tagebuch vermerkt -

Etwas Unerklärliches ist heute geschehen.
Mantegna lud mich ein, seine Bilder zu sehen, und, mir selbst unerwartet, sagte ich zu.
Machte ich mir etwas aus ihm, so würde ich sagen, daß es ein gelungener Besuch war. Eine ruhige Unverständlichkeit ist um ihn, die sehr herausfordernd wirkt. Die Eingebung ließ mich denn auch, ganz ausnahmsweise, Höflichkeit und Wahrheit auf eine lebhaft fördernde Weise kombinieren. Aber dieses ganze physische Spiel wird mir nie verhehlen können, daß ich seine Bilder äußerst fremdartig finde. Bei näherem Nachdenken eher widerlich. Obwohl Ekel normalerweise nichts ist, was Nachdenken erfordert.
Seine Besessenheit, seine Effekte, seine Transpositionen sind fundamental anti-klassisch, und er dehnt die Logik so weit, daß die logische Konstruktion zusammenbricht und wegbröckelt wie Illusionen. »In der Erzählung des Bildes darf keine Einsamkeit sein«, sagte er etliche Male.

Während eines anderen Besuchs bewegen sich Maler und Sekretär auf eine Zone zu, die in der Erzählung einmal als »psychologische Raumforschung« bestimmt wird und einmal als »Staat«. Beides, die Raumforschung und der Staat, sind Phänomene der Undeutlichkeit oder Defokussierung, wie wenn man eine Sache nicht ganz gut identifizieren kann, sich über ihren Namen oder ihre Bezeichnung im Unklaren ist, alles überhaupt den Namen verliert und man, vielleicht wie im Gedicht vom Alphabet, ein bißchen gleich wird den Aprikosen und Dingen und gleich wird mit einer Sache, die gar nicht da ist. Andrea Mantegna und Marsilio Andreasi sitzen, jetzt schon in Vertrauen, beisammen und spekulieren darüber »wie der einzelne sich in den anderen findet (sich mit den anderen abfindet) und die anderen in sich wiederfindet und diese ständige künstlerische Bewegung den Staat nennt.« »Wenn der Staat ein Kunstwerk sein kann«, sagt Mantegna, »dann kann das Kunstwerk wohl auch ein Staat sein.« »Und der Staat brauchte kein Unglück mehr zu sein, wenn nur alle seine Mitglieder all seinen Mitgliedern unterworfen wären - nicht so, daß der einzelne dem Urteil der Mehrheit unterworfen wäre, sondern so, daß alle, jeder für sich als Einzelperson, das einzelne Verbrechen auf sich nehmen müßte, ganz gleich, in welcher Person dieses Verbrechen zum Ausdruck gekommen wäre.« Was Mantegna hier anspricht in der Erzählung, ist die Vorstellung eines moralischen Kontinuums, das ganz anders als das Gebietende im kategorischen Imperativ - der zu einer Art Imperium der Kategorien gehört - ein akategorielles Empfangen und Gleichsein aufleuchten läßt. Subjekt/Unterwerfung anstelle von Imperium, heißt das. Am Ende seines Tagebuchs tritt für den Sekretär Marsilio Andreasi das Erlebnis der Gleichung ein, und er schreibt -

1506 13. September Andrea Mantegna ist gestorben. Ich sitze neben dem Bett und verstehe nichts. Nie, auch als Kind nicht, habe ich eine so fröhliche und freie Liebe empfunden.
Als ich ihm vor einer Weile erzählte, daß ich Nicolosia umgebracht hätte, antwortete er nur, das habe er die ganze Zeit gewußt. Er habe gemeint, das Beste, was er in seiner Trauer tun könne, sei, sich direkt an mich zu wenden und mich in seiner Nähe zu behalten, weil der Zufall mich mit seiner Person verbunden habe.

Mit dieser Tagebucheintragung endet der erste Teil der Erzählung vom gemalten Zimmer. Was folgt, ist fast wie der doppelte Beginn von »alphabet«: »die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es«. Im zweiten Teil der Erzählung vom gemalten Zimmer erscheint derselbe Zeitraum wieder, den schon das Tagebuch des Staatssekretärs umfaßt hat. Es wird dann klar, daß die Bewegung der Erzählung nicht Progress ist, sondern eine einwärts drehende Spirale, ein Wirbelsturm, der nicht zu einem Ende führt, sondern zu einem Mittelpunkt oder genauer: zu einer Art von Anfangspunkt oder zur innersten Zelle des Tempels: zur Anfangszeit (oder ich weiß nicht, wie die Sache heißt). Weil vielleicht die Anfangszeit der Ort des Friedens ist.
Die Erzählung ist erfüllt von Anfangsaugenblicken, und es scheint vor allem Mantegnas Wunsch zu sein, in der Bemalung des Zimmers für die Eheleute, für also die in Liebe Verbundenen, die Anfangszeit festhalten zu können. Anfangszeit. Zu Beginn der Erzählung notiert der Staatssekretär in seinem Tagebuch, wie es mit seinen Gefühlen steht, wenige Wochen nach der Hochzeit zwischen Mantegna und der von beiden Männern umworbenen Frau. Da steht im Tagebuch das selbstbeschreibende Wort vom »Engel im Feuer der irdischen Gefühle«. Sechs Jahre später steht im Tagebuch dieselbe Selbstbeschreibung, nach einem Blick auf die geliebte Frau: »... ich fror. Ein Engel im Feuer der irdischen Gefühle.« Im zweiten Teil der Erzählung findet eine junge Frau in einem Buch mit dem Titel »De duobus amantibus historia« »ein knappes Dutzend zusammengefalteter Manuskripte von Gedichten» Es ist ein Buch, welches ihr geschenkt wurde zu ihrer Hochzeit, von einer Unbekannten. Geschrieben hat das Buch der Vater des Ehemanns, der, wie sich in der noch anfänglicheren Anfangszeit herausstellen wird, auch ihr eigener Vater ist. »Eines dieser Gedichte handelte von dem Engel im Feuer der irdischen Gefühle; von einem "Engel, der mit so weißem Licht brennt, daß aus dem Brand kaum Asche entsteht und deshalb auch keine eigentliche Fruchtbarkeit für Felder und Mitmenschen, vielleicht aber für die unsichtbaren Gewächse im Himmelsgarten, die, wie vermutet werden muß, eine Ewigkeit auf eine endliche Klärung der Frage nach ihrer Bildwirkung gewartet haben.« Die anfänglichen Gefühle des Tagebuchschreibers sind hier plötzlich im Wortlaut wiederholt und in eine anfängliche Textur gewebt. Die Erzählung durchschlägt hier ihren zeitlichen Körper und wirft Licht auf Anfängliches hinunter; und tut solches wieder und wieder. Aber der Engel wird dann ebenso wiederholt, das heißt mit seinem Anfang konfrontiert. Der Tagebuchschreiber notierte am 23. Mai 1468: »Die Pfauen sind gekommen.« Der zweite Teil der Erzählung notiert: »Gerade als Nana [die junge Frau] geschmückt wurde [für die Hochzeit], kamen die Pfauen.« Und notiert dann weiter: daß dieser Tag der Ankunft der Pfauen der Tag der Engel wurde. Es ist deutlich: Die Erzählung geht nicht vorwärts, sondern einwärts, doch nicht einwärts im Sinne von seelischer oder dramatischer oder traumatischer Vertiefung, nicht einwärts im Sinn von Gedankentiefe und Sittenbild und tragischer oder erzählerischer Meisterschaft, sondern sie geht zeiteinwärts. Tut vielleicht nur eine einzige Sache: zeigt die Anfangszeit - die Zeit »ohne daß tag und nacht bestimmt / plaziert sind, ohne daß nadir und zenit senkrecht / darunter oder darüber sind« und wo »weder siege noch / niederlagen da sind, nur von nichts der trost«.

So kann man sagen, daß diese Erzählung nichts verkündigt, aber offenbart. Das ist ein großer Unterschied. Offenbaren heißt: einen Pfeil schicken gegen die Zeitrechnung und Realisierung zum Anfang und alles mit dem Anfang deckungsgleich oder zeitgleich machen können. »die aprikosenbäume gibt es, die aprikösenbäume gibt es«, der zweite Satz ist deckungsgleich mit dem ersten; der zweite leuchtet aus der Anfänglichkeit des ersten; er bestätigt die Kindlichkeit und Fülle des ersten. Im Essaybuch »Teil des Labyrinths« schreibt Inger Christensen über diese Anfangszeit: »wir werden mit einem Wissen von der Welt geboren, einem ganzen und unteilbaren Wiedererkennen, einer Disposition für die Welt. Im selben Augenblick, da wir die Augen aufschlagen, ist die Welt in ihrer ganzen Realität anwesend. Hier beginne ich, mich zu entrealisieren. Mit meiner besonderen Disposition (meinen Anlagen, die das sind, womit ich mich an andere wende) erkenne ich die Welt auf einmal wieder, wie sie ist und unaufhörlich stattfindet und wie sie nicht stattgefunden hat. Nicht vorher. Diese Nicht-Statt ist es, die sooft ein Mensch geboren wird, zurecht eine Utopie genannt werden kann.
Wenn diese Utopie verbraucht ist an dem Tage, da das Kind in das eintritt, was wir die Reihen der Erwachsenen nennen, beginnt das Kind, sich zu realisieren, damit doch etwas anwesend sein wird, statt sich zu entrealisieren, weil alles bereits anwesend ist.«

Ich freue mich, daß diese Dichtung so gelobt und gefeiert wird, indem für sie der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur heute vergeben wird.


Für Quereinsteiger: Zur Hauptseite von Urs Engeler Editor