Birgit Kempker

Mattmüller




Meine Damen und Herren, dieses Geburtstagskind hier ist ein ganz und gar unmöglicher Herr. Dies ist ein wirklich unmöglicher Kerl. Stellen Sie sich vor, dieser Mensch ist 75 Jahre und ist so wie er ist, das ist ganz unmöglich. Wenn Sie sich eine Vorstellung von der Unmöglichkeit dieses Menschen machen wollen, dann erinnern Sie sich bitte, wie er lacht. Hören Sie sich dieses ganz und gar unmögliche Lachen an. Dieses lauthalse, heftige, haltlose Lachen. Diese Eruptionen, als explodiere ein ferner Stern, diese plötzliche Heiterkeit in der Halsstarrigkeit. Diese rasante kugelrunde Leichtigkeit hinter den Hosenträgern. Und dann wieder knurrt und faucht und keift er Sie an, dass Ihnen Hören und Sehen vergehen kann, denn dieses hier ist ein ganz und gar unmöglicher Mann.

Ist er vielleicht ein Kugelblitz? Ein Dampfkochtopf? Oder ist es ein Vulkan? Ist er vielleicht ein Tiefseefisch? Ein Paradiesvogel? Ein Chamäleon?

Für vieles spräche vieles. Nun aus dem Leben.

Paradox ist, wenn ein Goethedenkmal durch die Büsche schillert. Wer sprachs? Dieser Mann. Wann? Bei der letzten Diplomabnahme. Wo? Rote Fabrik. Warum? Weil ich vorher einen Satz mit: schielen sagte. Er sah mich nicht an. Er schielte zu diesem Satz mit dem: schielen rüber und sagte das mit dem Schillern. Ein Streifzug. So ist Mattmüller.

Mattmüller ist, wenn Farbe und Form schillernde Parallelen sind und Abflugpisten und Einflugschneisen und Umschlaglinien und transformatorische Rillen und Schienen nach nirgendwo, wo Niemande sind, wo Nichtse hausen, tosen, Rosen: nämlich Kunst.

Mattmüller ist, wenn Sie von einem U-Boot die Höcker sehen, vielleicht in Ägypten, wenn es Zürich ist, weil es durch die Wüste reitet und Sie aber das Kamel sind, auf dem Sie reiten, während das U-Boot unterwegs seelenruhig Kunst setzt, indem es sie sieht, und sei es in Ihrer Sphäre und aussetzt ins Meer: in die Kunst, und sei es, dass er vor ihren Augen verschwindet und Sie sich mit ihm dahin verschwinden sehen, wo Rosen hausen, tosen, Sie wissen schon.

Mattmüller ist, wenn Sie an der mattmüllerschen Angel hängen und das Hängen lieben, weil Sie in der Luft hängen und nach Luft schnappen und es ist gut: nämlich Kunst.

Mattmüller ist, wenn mein Geburtstagsständchen sich wie fliegende Unterteller trällernd vergaloppiert und doch den Mann peilt, mit Heidelbeeren, der ganz und gar unmöglich ist, unmöglich zu treffen ist, das ist die Kunst den Mattmüller zu sehen: ihn nicht zu sehen und abseits hier und da, wo Rosen hausen, tosen, und Glanz matt und opal und osmotisch ist zu stehen, wo alle diese Worte den Mattmüller nicht treffen, aber schielen und schimmern und schillern im schlummernden Mattmüllerbusch.

Mattmüller ist, wenn unmögliche unheimliche komische Ordnung ist im Mattmüllerkosmos, wenn Brillianzen spuken und Farben glucksen, wenn so eine glitzernde Heiterkeit durch die Gegend irrlichtert, tirilliert, Mattmülleriche, kompakt, unberechenbar und abgrundheiter und jäh aus dem Tiefschlaf gerissen, dann Schlaf, denn mattmüllern ist Dachwandertum.

Mattmüller ist, wenn Glanz ist in der mattmüllerschen Mühle und Schmiede, wenn Mehl Funken sprüht und Weizen wiehert?

Mattmüller ist, wenn aus Studshirnen Rosinen fallen, die aufgelesen und gelesen und wahrgenommen werden und aufgehen wie im Stuten im Ofen, aber nicht identifiziert werden, nein, nicht, nicht benannt werden, sondern ins Freie sofort entlassen sind, ja, in die Luft, in die Luft geschissen, denken Sie ruhig an Beckett, also in die Kunst.

Mattmüller ist, wenn aus Studentinnen und Studenten wegen flugsem Feminismus und Sprachlösismus kurz Studs werden, Stuten und Stuteriche aus dem Gestüt des Geistercatchers, die er ruft.

Mattmüller ist, wenn die Ratten aus den Löchern die Härchen gegen die Sonne strecken, gegen Licht und trappeln und scharren und sich wieder verstecken und doch nicht mehr ganz allein Ratten sind, ohne Flöten und Pfeifen und Hameln sind sie gerufen, und verwandeln sich, wenn es Kunst ist und die Ratten Studs.

Mattmüller ist, wenn der Stuten also aufgeht im Ofen, wenn die Brut schön blüht.

Mattmüller ist, wenn er Sie aus dem Busch klopft.

Mattmüller ist, wenn er Sie aus dem Sack lässt, dem Personensack.

Wenn Sie diesen ganz unmöglichen Herrn kennen, kennen Sie ganz unmöglich sein Lachen nicht. Wir haben aber, obwohl das ganz unnötig ist, ein Beweisstück in den Flur gestellt. Wir danken Jo für das Video. Wir wundern uns, dass es für eine Kamera überhaupt möglich ist, einen so ganz und gar unmöglichen Mensch einzufangen wie er leibt und lebt. Und erst recht sein Lachen. Und es ist auch nicht. Genausowenig ist sein Alter einzufangen. Wie alt ist er denn? Wenn Sie wissen wollen, wie alt dieser Mann ist, dann erinnern Sie sich an ihn, wie er lacht, oder: bilden Sie die Quersumme, oder erinnern sie sich an das Video im Flur, dieses ungezügelte, in den Raum platzende und gleichzeitig ausserhalb vom Raum im besten pferdischen Sinne, nämlich im engelhaften, wiehernde, nämlich posaunende tricksterhaften Lachen. Ist es denn ein Pferd? Ist es ein Engel? Ein Trickster? Oder ist es ein Kunstwerk? Ja.

Etwas aus dem Leben

Als ich vor so 20 Jahren ins Kunsthaus kam, sagte mir jemand: geh in die F und F. Als ich in die F und F kam, wäre ich sonst nirgends hingekommen. Ich war eine von denen, die Raum brauchten und Luft und Liebe. Ich war so eine Art Pflanze. In meiner Vorstellmappe lag ein Kinderbuch, eine Raupe frass sich darin durch die grünen Seiten. Wahrscheinlich schleppte ich auch geschmirgelte Specksteine, gegossene Silberfiguren, Amulette, Kritzeleien und Zeichnungen von meinem Kopf wie ich meinen Kopf zeichne ins Atelier des Direktors Matisse, so nannte ich ihn für mich und ernannte ihn sofort zu einem meiner Paralleltäter in meinem ersten Buch: Der Paralleltäter, ohne zu ahnen, dass ich hier vermutlich der Paralleltäter bin. Direktor Matisse hatte und hat viele Paralleltäter, die ausschwärmen und Kunst hinlegen und das ist auch seine Kunst.

Als der Direktor meine Mappe mit den Habseligkeiten auf dem Tisch liegen sah, sagte er nicht viel, nahm die Raupe in die Hand und ich sah: das es gut war. Eine biblische Situation. Die des Erkanntwerdens. Ein Reading. Eine Lesung. Mattmüller liest die Kunst da auf, wo sie sein könnte und da kann sie dann sein. Biblisch, nicht paradiesisch.
Und so war es in der Schule wie im Garten. Ich sehe mich mit den Lehrern Peter Trachsel und Peter Bosshard in experimentellen Situationen. Es waren im guten alten besten, nämlich frischen Sinn experimentelle Situationen, genaue Versuchsanordnungen in genauen Laboren, so genau, wie Kunst eben sein kann, vielfach genau, grün und auch grau. Räume wurden abgeschritten, Linien gezogen, Ecken genützt, energetische Verhältnisse gemessen, gewogen und ausprobiert: performance. Filme wurden geschnitten, rote Fäden gepannt, Zigarren geraucht- Sie wissen schon. Mit Mattmüller gings in die Kunstgeschichte, ich sehe Speere von Reitern in Italien und das ganze Bild voll Richtungen, Anziehungen, Abstossungen, eine tänzerische Pferd und Reiter Kampfchoreographie, und wir gingen mit den Stift und Blatt ins Ballett. Das Tanzen auf dem Papier, das Tanzendürfen auf dem Papier, das war für mich Mattmüller, wie er mit uns im Ballettsaal sass, das war sehr schöne Erlaubnis. Erlaubnis, dass Schreiben Tanzen ist. Das Leben Luft ist und Farbe. Das es ist, wie es ist. Oder Erlebnis?

Mattmüller ist, wenn Erlaubnis Erlebnis ist.
Mattmüller ist, wenn Erlebnis Ergebnis ist.
Mattmüller ist, wenn Ergebnis ist Kunst.

Dann fragte mich vor so 20 Jahren Mattmüller, ob ich Peter Jenny im Abendkurs vertreten wolle, ich nahm meine Tapes mit Artmann, Achternbusch und eigenes und wir zeichneten auf literarische Kommandos und Impulse. Ich hab mich nicht gefragt ob ich das kann, denn Mattmüller sah mich an und kann es noch heute.

Mattmüller ist, wenn Impulse stachlige Igel sind, und dein Puls und der Igel an deinem stachligen Puls, das ist Kunst.

Jetzt steh ich hier als die, die vor so 20 Jahren sonst nirgends gewesen wäre und dieses nirgends kennenlernen konnte und hat und immer wieder kennenlernt, als die, die selbst ab und zu in dieser Schule steht, und das Raumgeben weitergeben will, weil das Liebe ist, nämlich Kunst und wo sonst und wie sonst, meine Damen und Herren, sollte denn sonst Kunst möglich sein und entstehen, als mit der Kunst, durch die Kunst und in der Kunst: also mattmüllerisch.

Mattmüller ist, wenn Rechnen Überraschung ist. Mattmüller ist, wenn einer, der 75 wird, 12 ist. Dieser Mann ist mitten in der Pubertät. Das sehen Sie an seinem Lachen. Das sehen Sie an der Quersumme. Sie sehen, den liebe ich, der Unmögliches begehrt, ist, was einen Mattmüller ehrt, ist einen Mattmüller wert. Sie sehen, ich meide keinen Kalauer, keinen Witz, denn lieber Mattmüller, Mattmüller ist, wenn sich auflöst, was ist, Mattmüller ist, wenn es ist, wie es ist.


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