Jörg Magenau

Gesichtsgeschichten
Gute Kartoffeln: Lyrische Prosafragmente von Elke Erb



Die lateinische "Crux" bedeutet laut Duden nicht nur Kummer und Schwierigkeit, sondern auch "unerklärte Textstelle", "unlösbare Frage". Für ein Buch von Elke Erb, deren Lyrik stets mit dem Vorwurf hermetischer Unverständlichkeit konfrontiert war, ist das ein nicht ohne Ironie gewählter Titel. Die unerklärte Textstelle, um die es in "Die Crux" geht, ist nichts Geringeres als das eigene Ich, das sich redend, räsonierend und reflektierend konstituiert. Dieses Ich ist nichts als Sprache. Es entsteht im Text. Elke Erb, Mentorin der anderen, inoffiziellen DDR-Lyrik, die nicht ideologisch, sondern wort-materialistisch orientiert war, reagiert auf alles, was ihr widerfährt, unmittelbar sprachlich. Poesie ist für sie eine Form von Erkenntnis, ein Experiment mit ungewissem Ausgang, stets betrieben mit dem Risiko, daß sie ins Leere führt.

Ihr Arbeitszimmer bezeichnet Erb als ihren Jagdgrund. Berlin und das sächsische Dorf Wuischke sind die beiden Reviere, in denen sie abwechselnd wildert. Doch der Unterschied zwischen Stadt und Land ist bei ihr eher eine Stimmungsfrage. Auch die Stadt wird ihr zur Landschaft und das Land zu einem bedrohlichen sozialen Raum. Wie bei allen Jägern gibt es viele Tage, an denen sie keine Beute macht. Der Mißerfolg ist Teil ihrer Prosa. Die Pointen sind darin versteckt und werden nicht ausgestellt wie heroisch erlegte Beutetiere.

Leser, die inhaltlich orientiert sind, können sich im ersten der vier Abschnitte daran festhalten, daß ein Bus durch eine östliche Landschaft fährt, durch Tschechien vielleicht, durch Sachsen. "Sprachen sind jeweils Wege überallhin", notiert die Autorin während dieser ersten Annäherung an Raum und Zeit. Da erprobt sie, wie sich mit Worten Landschaft erschaffen läßt. Zu den Sinneseindrücken, die stofflich als Material des Schöpfungsprozesses vorausgesetzt sind, gehören auch Gedichte: Verse von Gregor Laschen und Landschaftshymnisches von Hölderlin. Die Welt ist, bevor sie erschaffen wird, immer schon Sprache. Die Landschaftsfahrt erweist sich schließlich als Vorarbeit für ein neues Gedicht, das am Ende dieses Abschnitts steht. Die Wendung "Eile mit Weile", die den Text kontrapunktisch durchzieht, beschreibt nun die Oder und ihr träges, in sich ruhendes Dahinfließen: "Als besorge sie, was zu besorgen ist." Die Momente, in denen aus der Prosabewegung Lyrik entsteht, sind das Schönste an diesem Buch.

Der zweite Abschnitt führt zurück in die Vergangenheit. Auch er ist angeregt durch Lektüre, nun aber durch ein psychoanalytisches Werk. Die Beschäftigung mit ödipalem Begehren läßt das Bild der Eltern und einer Kriegskindheit auf dem Land wiedererstehen. Erinnerung, so zeigt sich, ist Konstruktionsarbeit, ist Deutung, späteres Wissen, das an ein unerklärliches Empfindungsüberbleibsel angesetzt wird. So entsteht: ein Leben. Das ist nicht viel. Entschädigung bieten Wortfindungen wie "wohlhäbig" oder Satz-Blitze voller Humor: "Die Kartoffeln waren sehr gut. Lag's an mir oder an ihnen?" Für solche Trouvaillen lohnt sich die Mühe einer lebenslänglichen, lyrisch gestimmten Prosaexistenz.

Der dritte Abschnitt ist schonungslos und albern. Er spielt in der Gegenwart und handelt von Vergänglichkeit. Der Blick in den Spiegel gibt Anlaß, über Eitelkeit und den Prozeß des Alterns nachzudenken. Alle Ich-Befestigungsversuche erweisen sich als haltlos, wenn die Selbstbetrachtung der Autorin dadurch gestört wird, daß sie spürt, wie ihr allmählich ein Greisinnenkinn wächst. Da fehlt schließlich nur noch das berüchtigte "Wärzchen mit Härchen-Antenne ins Nichts". Und dennoch ist Narzißmus unvermeidlich in diesen "Gesichtsgeschichten". Grundsätzliche Zweifel ("Warum sollte man sich für sein Gesicht interessieren, man kennt sich doch") werden überblendet vom experimentellen Interesse daran, das existierende Innenbild von sich selbst mit dem Außenbild im Spiegel in Übereinstimmung zu bringen.

Schon dieser Abschnitt könnte wie der vierte und letzte "Älter werden" überschrieben sein. Tagebuchauszüge dokumentieren die Versuche, Stimmungen festzuhalten und der Vergänglichkeit haltbare Formulierungen entgegenzusetzen. Elke Erb ist eine Wortwerkerin, die Worte nach ihren Bedeutungen abtastet, um ihren Sinn unmittelbar zu erfassen. Sie arbeitet mit dem Klang, mit Reimen, mit Assoziationen, dreht und wendet Dinge und die Worte. Es ist faszinierend, sie bei dieser Arbeit zu beobachten, die ein unendlicher Selbsterschaffungsprozeß ist, ein Selbstgespräch und zugleich ein Dialog mit Freunden und vor allem mit Literatur. Die Frage, ob die in "Die Crux" vorgelegten Dokumente Kunst sind oder eher wissenschaftliche Analyse oder einfach nur Gerede, läßt sich mit Elke Erbs eigener Definition beantworten: Der alltägliche Text – wie zum Beispiel das Erzählen einer Geschichte – beendet etwas. Der künstlerische Text beginnt etwas Neues. So gesehen sind Elke Erbs lyrische Prosafragmente hohe Kunst. Denn sie führen hinaus ins Offene.

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Dezember 2003)



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