Andreas Langenbacher

Aus wachsender Ferne
Renato P. Arlatis lyrisches Gesamtwerk


Neue Zürcher Zeitung, 24. Dezember 2005

Wer Renato P. Arlatis in den achtziger Jahren bei Suhrkamp und später im Raureif-Verlag erschienene Prosabände kennt, wird mit seinen nun erstmals gesammelt herausgegebenen Gedichten nichts grundlegend Neues, aber doch einen etwas anderen Arlati entdecken. Leider erst postum, denn Renato P. Arlati ist nach längerer Krankheit kurz vor dem Erscheinen dieses kleinen Gedichtbandes im März dieses Jahres gestorben. Zeigte sich seine Kurzprosa oft lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, erweisen sich seine Gedichte – einige wurden erstmals in dieser Zeitung publiziert – als erstaunlich prosaisch und offen. Sie sind raffiniert und lapidar zugleich, allesamt Stenogramme, Notate, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äusserst ungesicherten Existenz. Als Gucklöcher bieten sie so den nachgelieferten, etwas leichteren Zugang zu einem schmalen, nun abgeschlossenen, aber immer noch unterschätzten Werk. Man könnte dieses typisch schweizerisch nennen, wenn man damit das welterweiternde Fremdwerden auf kleinstem Raum versteht.
Ob Gesicht, Spiegel, Blatt, Schatten, Kerze, Fenster oder Schnee: Die dargestellte Dingwelt in Arlatis Gedichten ist immer Medium eines sie in sanfter Trance erblickenden und sich in ihr selbst befragenden Menschen – Materialisation und Reflex seiner ungesicherten Wahrnehmungsform. Der Radius dieser Gedichte ist klein, ihre Motive zählbar, und doch findet sich in ihrem permanenten Rochieren, Auftauchen und Verschwinden so viel Fremde, Befremden ein, dass sie durchsichtig werden auf das Ungefähre, Ferne, das Nichts. Aber vor allem auf eine existenzielle Angst, die ihnen das zweite, dritte, n-te Gesicht verleiht. Denn das Angeschaute, ob Ding, Mensch oder Tier, blickt immer auf unverwandt verunsichernde Art und Weise zurück. Wenn Arlati das Wort «Frühling» niederschreibt, kann das nur auf einer «schneebedeckten Wiese» geschehen, in den fallenden Blättern ist «die Maske des Sommers, / das Gesicht aller Jahreszeiten» zu sehen, die Spiegel beginnen erst im Dunkeln zu blitzen, und der Käfer in der Hand des Wanderers blickt ins Angesicht eines furchterregend schönen Gottes.
Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich Arlatis Welt als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt: «Nun lass ich den Schnee fallen: So wie im Innern / meine Seele nachgedacht hat in der Nacht.»
«Die Angst lässt uns schweben», schrieb Martin Heidegger, «weil sie das Nichts offenbart und weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt.» Arlatis kleine lyrische Levitationen bieten immer wieder Momentaufnahmen einer solchen beängstigend sinnlichen «Metaphysik des Schwebens», einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äusseren Welt. Und zuletzt eines poetischen Entschwebens ins Gedicht. Dorthin, wo auf kleinstem Raum und in den nächsten und nebensächlichsten Dingen «die Ferne wächst und wächst». Mitten ins Herz der Worte hinein.



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