Michael Stauffer

aus: "I promise..."




12 Knecht
Ich verweigere ein paar Mal den Flötenunterricht und das Schönschreiben. Ich habe es satt, jede Woche drei Seiten in diesem Schönschreibheft voll zu schreiben. Man kann nicht einfach aufhören. Dieser Schönschreibunterricht ist von langer Hand vorbereitet worden. Deshalb beginne ich Sportresultate abzuschreiben, dann Verkehrsunfälle, dann Wetterprognosen, und schliesslich kopiere ich Todesanzeigen. Ich schreibe das Wort Todesanzeige viermal pro Zeile hin. Den Text: Unsere liebe Mutter, Schwester und Ehefrau ist nach kurzer, schwerer Krankheit selig eingeschlafen, und auch die Spendeaufforderung schreibe ich fünfmal hin. Nach diesem Eintrag müssen meine Eltern zu einem Gespräch mit der Lehrerin erscheinen. Die Schönschreibübung wird eingestellt. Ich werde zu einem Test aufgeboten. Ich schaue der Testleiterin immer wieder auf die Brüste. Sie rutscht nervös auf ihrem Psychologenstuhl hin und her. Zur Belohnung, weil ich den ganzen Test gemacht habe, erhalte ich eine Ananas mit aufgebundenen Schokolädchen und Bonbons. (72) Meine Intelligenz bestand darin zu wissen, wie weit es von Zürich nach Boston ist. Ich weiss das, weil der letzte Auszug meines Meilensammelprogrammes genau diese Strecke ausweist. Ich weiss auch, wer der erste Mensch auf dem Mond war, wie viele Propheten sich im Neuen Testament zum Leben von Jesus äussern, etc. Später mache ich einen weiteren Test, aus Geldnot. Ich beantworte Fragen zum Wohlbefinden. (73) Zu meinem Wohlbefinden. Ich finde es nicht besonders schwierig, mit lauten, unangenehmen Leuten umzugehen. Mir geht es in jeder
Situation blendend. Ich bin immer höflich, auch zu Arschlöchern. Nur gelegentlich hätte ich ein bisschen Lust, alles zu zerschlagen. Die Psychologin lächelt mir während der Befragerei (74) aufmunternd zu. Die Auswertung ergibt, dass meine Zukunft gut aussieht und ich mehr Freude am Leben habe, als die meisten anderen, welche anderen Menschen. Ich verlasse diesen Test als gestärkte Persönlichkeit.

13 Wissen
Ab und zu trage ich zwei volle Tragtaschen, gefüllt mit Büchern, aus der Bibliothek, stelle sie bei mir zu Hause in die Garage und bringe sie nach 23 (75) Tagen wieder in die Bibliothek zurück. Ich habe einen Plan, was das Ausleihen der Bücher angeht. Ich hinterlasse im Ausleihesystem Spuren meines Interesses. Per Mouseclick kann das Bibliothekspersonal feststellen, wie sich meine Interessenlage verschoben hat, wie ich immer mutiger einander fremde Wissensgebiete vernetze. (76) Ab und zu etwas Psychologisches und Krankheiten sind auch immer gut. Bei der Rückgabe muss ich die Buchrücken nach oben drehen, damit der aufgeklebte Strichcode einscannbar ist. Die schaffen es nicht, alle Codes an derselben Stelle aufzukleben. Oft ist der Code auf dem Buchrücken, es gibt auch Bücher, wo er auf der ersten Umschlagseite klebt, und andere, wo er auf der zweiten Umschlagseite klebt. Ich übe diesen Vorgang, will schnell sein. Das Zurückgeben der Bücher hat Wettbewerbscharakter. Manchmal übe ich auch an der Migroskasse. Die Verkäuferinnen verunsichert das. Sie nehmen die Waren so in die Hand, dass sie zuerst den Strichcode, den sie nicht lesen können, anschauen und diesen dann zum Scanner drehen. Die sind nicht lernfähig. Ich lege die Einkäufe deshalb so aufs Band, dass der Strichcode gegen die Verkäuferinnen zeigt. Das beschleunigt diese unangenehme Situation an der Kasse. Ich sage Danke dafür, dass sie den Betrag richtig vom Display ablesen können, oder Danke dafür, dass sie das Retourgeld richtig abgezählt haben. Oder bin dankbar dafür, dass sie sechs Artikel, die identisch sind, einzeln einscannen. (77) Die Bücher sind blitzschnell erfasst, und ich gehe weiter. In der juristischen Bibliothek gehe ich spazieren. Ich gehe durch die stillen Reihen. Das Schweigen steigt aus den dampfenden, gekrümmten Rücken mir entgegen. Ich gehe zügig durch diese Reihen, furze, gehe weiter. Mein Geruch mischt sich mit dem der dampfenden Juristen. Einige drehen sich um, schauen irgendeinen in der Nähe Sitzenden an, verkrampfen sich wieder und dampfen (78) weiter. Nach diesem Bibliotheksbesuch wasche ich mir die Hände.

14 Aufbau
Beim Kinderarzt musste ich vorzeigen, wie ich gehe. (79) Mein Gang sieht bemitleidenswert aus. Der Arzt lacht. Ich gehe noch einmal durch den Raum. Mir werden Einlagen in die Kinderschuhe gelegt. Morgens nehme ich sie raus, abends lege ich sie wieder in die Schuhe. Mein Selbstvertrauen hat nicht gelitten. Einmal werfe ich die Einlagen auf dem Schulweg in einen Mülleimer. Es ist klar, gewisse Bewegungsabläufe (80) sind nicht gut ausgebildet.



Michael Stauffer, aus: "I promise..."