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Thomas Kling

Andrea Zanzotto: Signale Senhal



Die Zeit, 15.Mai 2003

«Ich beugte mich, dich zu betrachten hob den Kopf, dich zu betrachten…» Als im Juli 1969, vor aller Fernsehaugen, die Nasa per bemannten Raumflug den Mond betretbar gemacht hatte – ein Sieg von Machbarkeit und neuer Mythosschöpfung –, saß im norditalienischen Veneto der Dichter Andrea Zanzotto, um sich in den Funksprechverkehr einzuschalten. Überwältigendes Ergebnis ist das vielstimmige und -schichtige Langgedicht Signale Senhal, das, seinerzeit als Privatdruck erschienen, erstmals zweisprachig in Buchform vorliegt (leider ohne Versdurchzählung: Man muss sehr blättern, zur Entschädigung gibt’s aber eine CD). Nun sind Lesern deutscher Sprache Blicke in eine abenteuerliche Raumfahrt zu den Tiefen der Sprachen gestattet. Zanzotto, der Dichter des nicht erwartbaren Perspektivwechsels, hat ein elektrisierend sprachreiches Gedicht über die von ihm keineswegs als Heldentat, vielmehr als Gewalttat, als Notzucht empfundene Mond-Eroberung abgefasst, dem es gelingt (und nur hierin spröde!), ohne den Klarnamen «Mond» auszukommen. Ein ebenso raffiniert komponiertes wie auch thematisch hoch komprimiertes Poem, in dem die fast immer knapp gehaltenen Vers-Sequenzen in Raumkapselschnelle schöpferische Ab- und Auflösungsprozesse durchlaufen. So erscheinen offizielle (und inoffizielle) Mythen griechischer und (nach)römischer Provenienz – die Schändung des Diana-Tempels von Ephesos spielt eine Rolle. Zanzotto, der Freund Pasolinis und Montales, betreibt, unter wohltuendem Verzicht auf Prunkzitate, Zeit- und Ortsrausch; Antikenverwaltung und Medienkritik finden in eins, werden miteinander kurzgeschlossen, martialisch und zart verknüpft: und entsprechen plötzlich einander. Dies geschieht mithilfe des inszenierten O-Tons, der die unterschiedlichsten Sprachebenen transportiert. Das reicht von pathosgeladenen TV-Fetzen über die umgangssprachliche Rede und die Comic-Auskoppelung bis in die nüchtern machende Höhe eines Vergil-Tons oder den Einbau eines Dante-Einsprengels.
Im Umfeld der großen Dichtung Pracht entstanden, das den Dichter vor 35 Jahren berühmt gemacht hat (und dem der erste Band der Zanzotto-Werkausgabe gewidmet ist), erweist sich sein paralogisches Instant-Epos als lebendig gebliebener, atemlos-atemspendender dichterischer Funksprechverkehr, dessen anregende Übersetzung durch Peter Waterhouse, der ein hohes Risiko fährt, einmal Signalwirkung haben könnte.