Birgit Kempker

Klara, die Identitätsräuberin




Wir haben eine Diebin bei uns zu Hause, Klara meine Schwester. Sie beobachtet mich und macht sich in ihrem dunklen Zimmer Notizen. Sie weiss genau, welche Bücher ich lese, und schreibt sich die wichtigsten Gedanken in ihr graues Notizbuch. Manchmal geht sie sofort in die Stadt und kauft sich mein Buch.

Neue Sachen verstecke ich vor ihr. Ich will nicht, dass sie genauso rumläuft wie ich. Klara versucht, auch mein Gewicht zu kontrollieren. Wir hungern um die Wette. Manchmal ziehe ich Kleider an, die mich dicker erscheinen lassen. Dann gesteht sie sich etwas mehr Essen zu. Ein Triumphtag dann der Sonntag, wo ich mit schlanker, unvermutet schlanker Taille und einem neuen Rock vor ihr her spaziere. Nachts höre ich Klara oft in der Küche. Sie mischt sich eine Art Mehlteig zusammen und löffelt den ganz schnell in sich hinein.

Ich habe einen neuen Trick entdeckt, meine Schwester zum Essen zu verführen. Vor ihren Augen verschlinge ich weichen Stuten mit dicker weisser Butter und dampfendem Kakao. Anschliessend im Klo spucke ich alles wieder raus. Das ist nach und nach zu einer neuen selbständigen Lust geworden. Ich ziehe zur Oma, da habe ich meine eigenen Unterhosen. Niemand schnüffelt mir nach, und ich kann essen, was ich will.

Ich habe Klara dann sehr oft besucht. Das Spiel, wer kommt zuerst in die Psychiatrie, hat sie gewonnen. Seitdem verstanden wir uns besser.


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