Sebastian Kiefer

James Thomson: The Seasons/Die Jahreszeiten

Wolfgang Schlüter: My Second Self When I Am Gone



wespennest #134, März 2004

Die «bedeutendste Epoche der deutschen Sprachgeschichte überhaupt» – sie liegt (nach Eric Blackall, ihrem eminenten Chronisten) dort, wo das Allgemeinbewußtsein seine blindesten Flecke hat. Zwischen Goethe und Gryphius, genauer: Zwischen dem Tod Kuhlmanns und von Zesen, den letzten (posthumen) Lohensteinpublikaten und dem «Werther». Das Deutsche war nicht, es wurde. Es wurde, indem es sich behaupten lernte, auch zweihundert Jahre nach Luther. Noch die Klassiker und Romantiker lernten an der (allerdings revidierten) Lutherbibel ihr Deutsch – sie war, wie Goethe wusste, ein Produkt der «Rede»-, nicht der «Schreibe»-Kunst. Luther ist der Vater des modernen Deutsch, weil er «dem deutschen Bibelwort Rhythmus und Melodie» (H.O. Burger) verlieh. Das «beste Deutsch» ist jenes, das die lebendige Stimme bewahrt und so «dringe und klinge ynns hertz durch alle sinne», um es mit Luthers eigenen Worten zu sagen. (Daher wurden frühe Lutherbibeln in «Versen», nicht in Fließtext gesetzt.) Aber: Selbst ein Vierteljahrtausend später, 1774, stritt Klopstock in seiner «Gelehrtenrepublik» kreuzritterlich für einen Sitz des Deutschen im Oberhaus der Sprachen. Der Emanzipationslauf war noch nicht beendet. Weshalb?
Das Deutsch an der Schwelle zur Aufklärungsepoche war reich, aber instabil: Die barocken Humanisten waren ein Jahrhundert auf Beutezug ins Französische, Spanische, Neulateinische gegangen, um das Deutsche, das Stiefkind im Agon der europäischen Verkehrssprachen, wettbewerbsfähig zu machen. Man warf die Suchtrupps überall hin, pferchte modische Salonausdrücke, termini technici aus Wissenschaften und Künsten ins Umgangsdeutsch, nahm, plünderte, travestierte Kanzlistenjargon, imitierte den Paragraphenritt der Juristen, ging auf Fischzug im Rotwelsch der Landknechte, fieberte in der Ethymologie. Nichts war vor den humanistischen Agonauten sicher in diesem «sprachlichen Totalexperiment» (D. Kimpel) des Barock. Das Ergebnis war ein kolossal gewachsener Ausdrucksapparat, der sich nur noch mühsam manövrieren ließ. Die frühen Aufklärer rannten an gegen diese gotische Aufblähung des Deutschen, gegen Künstlichkeit, Schwerfälligkeit, Anspielungskult, Hyperbolik, Herzens- und Naturferne. Sensus communis, Breitenverständlichkeit, wissenschaftliche Ausweisbarkeit wurden zu neuen Paradigmen der Sprachgeschichte. In den frühaufklärerischen philosophischen Abhandlungen und literarischen Journalen, konnte sich, sagt Eric Blackall, der – symptomatischerweise aus England stammende – Historiograph der Epoche, das Deutsche erstmals neben dem Französischen als Verkehrssprache der Gebildeten behaupten. Aber doch eher als Verkehrssprache der Gebildeten, nicht als Idiom der Poesie. Eine verbindliche Balance zwischen Naturempirie und Gemeinverständlichkeitsideal, lateinischer Periodik und Pindarischem Hingerissensein, rhetorischer Takelage und Innerlichkeitsmystik, lexikalischer Aufrüstung und empfindsamer Herzenssprache blieb aus.
Da aber kam in den Dreissiger Jahren des 18. Jahrhunderts James Thomsons 6000-Verse-Dichtung «The Seasons» unter die Deutschen und verkörperte diese Balance vollkommen. Thomson hielt die sprachgeschichtliche Wunde offen: Er erwies sich trotz mehrerer Anläufe als unübersetzbar. Das Englische ruhte fest und flexibel in sich; es war vollkommen säkularisiert, ohne profan zu sein; der Periodenbau stand in höchster Blüte – und hatte doch alle Künstlichkeit abgeworfen. Das Englische konnte musikalisch und zugleich sinnfällig, kunstreich gebunden und geschmückt und dabei ohne Zopf und Affektation deklamierbar sein. Thomson zu übersetzen hieß also: Erforschen, ob das Deutsche gleichermaßen fähig sein könnte, die vom Barockhumanismus geschaffene rhetorische Periodenpracht zu gebrauchen, um die Sinnenwelt nicht zu verlassen, sondern umgekehrt: Sie reich zu erschließen – und das, ohne prosaisch zu werden. (Beschreibungsgenauigkeit ist an sich eine Eigenschaft der Prosa.)
Wolfgang Schlüter, Dichter und Übersetzer, hat in einem neuerlichen Kraftakt – vorher ging eine Übertragung des zweiten großen Versgesanges der Engländer im 18.Jahrhundert, William Cowpers «Task» (Galrev-Verlag 1998), das den Deisten Thomson und seinen libertären Optimismus grimmig befehdete – den Beweis, dass das Deutsche einer solchen Balance fähig ist, unternommen. Es versteht sich: Im Gegenwartsdeutsch war das nicht zu leisten. Eine virtuos ausgearbeitete Periodik, ein sublimiertes Lexikon kann im modernen Rumpfdeutsch von heute nicht anschaulich und quasi-natürlich wirken: Lateinische Periodik wird den Gruftgeruch des Paukertums nicht mehr los. (Wie auch unser Wort «künstlich» zum strikten Gegensatz von Naturwüchsigkeit, Alltäglichkeit, Lebendigkeit geworden ist). Wolfgang Schlüter hatte für seine monumentale Erforschung der Möglichkeit, im Deutschen periodisch komplex, musikalisch betörend und doch sinnlich evident zu sein, keine Wahl: Die Übersetzung konnte – vorderhand – nur im Deutsch der Aufklärungsepoche geleistet werden, um nicht als «Lyrik», Künstlichkeit und Gestimmtheit missverstanden zu werden. Er errichtet einen historisierenden Paravent, damit verfremdende Distanz zu unserer eigenen Sprache entstehe und die eingeschliffene Trennung von Gestimmtheit und Satzbewegung außer Kraft gesetzt werde. Erst dann, nach dem Schritt durch die historisierende Distanzierung, können wir erfahren, was uns fehlt. Erst dann wird es möglich, Atem, Sinn und Satzlogik wieder als dependente Dinge zu erfahren.

«.... Es frieret weiter;
bis, spätaufgehend über der verhärmten Flur, der Morgen
sein bleiches Auge öffnet freudelos. Dann zeigt sich
das mannigfache Werk der stillen Nacht:
Hernieder hängend von der Regenrinne, dem
gestokten Wasserfall, des Fluten nur zu brüllen scheinen,
der Eiszapfen – die filigrane Frostarbeit, wo flüchtige
Schattierungen und Phantasiegestalten sich erheben –
weit übern Hügel ausgesprudelt der gefrorne Bach,
ein leichenfarbenes Geäder, im kalten Widerglanz der Frühe –
der Wald gebeugt unter den Daunenwogen –
und weißer Schnee, vom Frost noch raffiniert,
harsch inkrustiert und knirschend bey dem Schritt
des frühen Schäfers, der nachdenklich seiner schmachtenden
Schafheerde waltet, oder von des Berges Kuppe,
erfreut ob dessen glatter Bahn, flink talwärts rutscht.»

Es gibt hier so wenig zu «verstehen» wie in einer Sonate von Wilhelm Friedemann Bach. Verstehen heißt: Wissen um die musikalische, eurhythmische Rezitation, Lesen heißt: Realisieren der Partitur. «Es friert weiter»: Das ist lapidarer Alltagsgestus; doch es zittert leise in den «r»- Lauten; die engen und damit lautmalerischen «i»-Laute treten von beiden Hebungen her als Grundfarben des reduzierten Klangspektrums hervor. Es folgt das Semikolon, eine Fermate, die rückwirkend Kompaktheit schafft. Die halbe Erstarrung scheint sich mit dem «bis» zu lösen, aber das Komma hält das Sich-Lösen noch im Entstehen an. Das Komma schiebt auf, um die solcherart doppelt vorenthaltene Entspannung frei in die langen Worte «spätaufgehend» und «verhärmten Flur» ausschwingen zu lassen. Zart staut sich die Sprechenergie im «spät-», um dann im offenen «a» von «aufgehen» tatsächlich aufzugehen: Gegen das jambische Metrum müssen wir das «auf» betonen und so entsteht eine Ballung von drei (ungleichen) Hebungen; quasi-tenuto. Und wir müssen gegen unsere morphologischen Gewohnheiten die Atemdramaturgie durchsetzen (als Kompositum existiert «spätaufgehend» nicht): Das Grundmetrum wird nicht einfach unregelmäßig; die Durchbrechung des Grundpulses erfordert aktives Sprechbewusstsein, in dem Metrum, Satzdynamik, Phrasierung und Einbildungskraft ineinander spielen. Die Kompositabildung ist kein Redeschmuck, sondern eine Bedingung des Ineinanderwirkens von Atem und Sinn in einer komplexen Periodik. Den «Sinn» der durchbrochenen Metrik, der Phrasierungsnuancen, der Ritardandi zu verstehen, heißt, so möchte man mit C. Ph. Bach sagen: «singend dencken». Man möchte mit dem (etwas jüngeren) Klavierpädagogen D. G. Türk fordern, es sollten beim Vortrag «die Töne gleichsam zur Sprache der Empfindung werden.»
Lange zieht sich die Lösung der dreifach gestauten und sich öffnenden Sprechenergie im «auf-» fort: Durch sanfte Amplituden schwingt sie sich aus im «ä» der «verhärmten», das so seltsam – erst im Nachhinein wird das verständlich – mit «spät» kommuniziert. Und die ’dunkel’ tönende Flur ist eine letzte Abschattung des Phrasenganzen. Erst damit ist die eurhythmische Spannung gelöst; sie zu heben, tritt jetzt als gleichberechtigter Partner von morphologischer und musikalischer Einbildungskraft die syntaktische Logik hervor: Wenn ’spät’ im Satz «der Morgen» erscheint, als wäre er über den atmosphärischen «perceptions» (wie es David Hume, den Thomson bewunderte, gesagt hätte) der Satzklammer zuvor vergessen worden, zeugt unser Satzvervollständigungsdrang neue Spannung: Wir erinnern das Ungelöste, dessen Lösung das Satzsubjekt «der Morgen» ist und bauen rückgreifend den Satz erneut auf, gleichsam gegen das Sichverlieren im wohllautend-Atmosphärischen. Jedoch: Die syntaktische Logik stellt zwar funktionalen Zusammenhang (wieder) her; stabile Trägersubstanzen schafft sie nicht. Es bleibt beim Spiel der «perceptions». Beide Satzsubjekte, das «Es» und der «Morgen», sind keine identifizierbaren Substanzen; beide oszillieren zwischen Substanz und Bild. Sie existieren fraglos und sind doch nicht fixiert im Seinsstatus: Was ist «Es»? Ein X, das existiert und vielleicht doch nur innersprachliche Funktion ist; oder ein Bild, das die Sprache (buchstäblich) entwirft; oder – oder «es» ist das ganz Andere; oder das Ganze, «Es». Der «Morgen» oszilliert nicht weniger: Er «geht auf», als wäre er die Sonne. (Wobei auch «geht auf» eine verwirrende metaphorische Spur impliziert.) Nun ist der Morgen ein Produkt der Sonne; aber der unmittelbaren Wahrnehmung nach ist er es bei bedecktem Himmel nicht. Wir wissen, dass die Erde sich weiterdreht und deuten reaktiv unsere Wahrnehmung, die faktisch unbestimmte Aufhellung registriert, zurecht durch dieses Wissen. Die Sonne ist da und nicht da; sie ist präsent in unserem Wissen, abwesend fürs Auge. Die syntaktische Konstruktion macht dieses Oszillieren vollkommen sinnfällig – «singendes dencken», nicht: ’Geformtes Aussagen’.
Der Satz schließt nicht einfach mit einem Prädikat, das einem Ding eine Eigenschaft zuspricht. «sein bleiches Auge» spinnt vielmehr die latente Metaphorizität von «spätaufgehend» fort zur regelrechten Personifikation. Jetzt, rückwärts empfindend, verstehen wir zudem den anthropomorphisierenden Nebenklang in «verhärmten» ganz – und damit die Assonanz von «spät-» und «verhärmt». Der Satz ist auch ein stufenweises ’Aufgehen’ (i.S.v. ’sich öffnend’) metaphorischer Latenzen und nur so, ambivalent und schwebend und immer zugleich auf sich selbst bezogen, öffnet der Satz sich dem Nicht-Sprachlichen. Nie würde solche malende Wortkompositionskunst so grob, Dinge zu benennen. Die unpersönliche Konstruktion «Es frieret weiter» klingt nach im zunächst unpersönlichen «Dann zeigt sich»; und wieder erscheint das tätige Subjekt erst am Ende der nachfolgenden Zeile. Wieder leitet ein unauffällig alltäglicher Satz ein erhabenes Phänomen ein: Die beiden Sätze sind so, bei aller Verschiedenheit, architektonisch verwandt und verbunden. Dort jedoch entfaltete sich «der Morgen» (einer ihrerseits keimhaft metaphorischen Redeweise); im zweiten Fall erscheint nichts anderes als ein Arabeskenwerk von Satz selbst: Das Filialenwerk der Periodik das «Geäder», als sei das Werk der Natur im Grunde oder jedenfalls zuletzt dieser Satz selbst. Daher spricht das Satzfiligrane vom Filigranen der Natur.
Beinahe jede Zeile enthält Kostbarkeiten: Das Oxymoron «übern Hügel ausgesprudelt der gefrorne Bach» ist gewagt, barock preziös ist es nicht, der anschauliche Kern ist da: Die Zeile «gestokten Wasserfall, des Fluten nur zu brüllen scheinen» hatte das Oxymoron vorbereitet - das Leben ist nicht entschwunden, es steht nur unterm Bann einer momentanen, schockartigen Erstarrung oder Gefangenschaft in sich selbst. Es ist Leben und doch keines. Oder: Man stolpert in der Zeile «der Wald gebeugt unter den Daunenwogen» – doch die Ausweichung in den wiegenden Daktylus korrespondiert reizvoll mit den «Daunenwogen». Schlüters Gesang praktiziert das «singende Denken» so autonom, dass man versteht, weshalb der Verlag den englischen Originaltext nicht Seite an Seite mit dem deutschen gestellt hat, sondern hintanstellt. Zu sagen, Schlüters Text wäre ein Kunstwerk für sich, heißt nicht: Ihm wäre nicht oftmals anzuhören, dass er dem Englischen nachspreche. Aber: Die Endstellung des Adverbs «freudelos» ist dabei das einzige Element, das nicht nur als Abbildung englischer Sprachgewohnheiten erscheint, sondern eine solche ist. Alles andere ist völlig freie Äquivalentbildung; eine Imitation des prosodischen Grundgefühles, nicht der tatsächlichen Wortbestände. «Verhärmt» erscheint wie eine ethymologisierende Übertragung von «harmful» o.ä., doch bei Thomson steht: «It freezes on: / Till morn, late rising o’er the drooping world, / Lifts her pale eye unjoyous.» Schlüters mehrstufige Personifikation des «Morgens» andererseits kann man sogar als Gewinn gegenüber dem Original auffassen, ’Morn rising’ ist eine konventionell poetisierende Floskel. Nur erzeugt «morn» einen reizvollen Binnenreim durch das «o» (plus «n») und dieses «o» wiederum umklammert die ganze Zeile. Der Preis für Schlüters stufenweise Metaphorisierung des Morgens ist dafür, dass er das unauffällig parlierende «drooping world» durch das hochpoetisierte «verhärmte Flur» ersetzt. Gewinn und Verlust halten sich in solchen Fällen die Waage.
Sprechen lernen mit der «historischen Aufführungspraxis» heisst: Einen Möglichkeitsraum wieder zu betreten, in dem das Deutsche noch flüssig war; indem es kein Duden und Paragraphenwerke gab, die «das» Deutsche an die Kette legten – und alles andere zur «poetischen Freiheit» erklärten. Gottsched, der mit seiner «Deutschen Sprachkunst» 1748 nicht weniger als den Grundstock des «modernen», ’gehobenen’ Einheitsdeutsch gelegt hatte, streng, inquisitorisch, aber logisch, hätte den Ausdruck «Knirschend bey dem Schritt» womöglich zensiert als Anglizismus, so wie er auch etwa «bey dem Anblicke» zensiert hatte und stattdessen «in Betrachtung» haben wollte. Das Original sagt: «and sounding to the tread / Of early shepherd». Das heißt, der Schnee tönt zum Schreiten hinzu, vielleicht ihm einschwingend; oder er tönt ihm entgegen; jedenfalls nicht: Der Schnee töne unter den Schritten was ja ihrerseits eine metaphorische Redeweise wäre, das von den Schritten verursachte Tönen meinend. (Etwa so, wie wir sagen, jemand berste «vor» lauter Kraft.) Der Klang ist ortloser, als es «unter» sagte. Daher bedient sich Schlüter der Anti-Gottschedischen Konstruktion mit «bei». Das ist in sich wohl logischer, als es Gottscheds Zensur im Namen der Logik erlaubt: Es meint «mit» und «neben» oder «nahebei» gleichzeitig; um diesen alten Reichtum wieder zu erwecken, muss das Wort archaisierend phonetisiert werden. Die grammatische Abweichung von der (gegenwärtigen) Norm ist logischer, weil sie präziser wahrnehmen läßt.
«der nachdenklich seiner schmachtenden / Schafheerde waltet» ist ein anderer Fall. Original: «as he pensive seeks / His pining flock». Schlüter verfällt im Bestreben, sonor zu sein, einem wallenden Wohlklang – aber es war gerade das Ideale und Moderne des englischen Originals, dass es periodisch und musikalisch betörend reich war und eben nicht in bloß dekorativen, ’barocken’ Wohlklang verfiel, sondern gerade der Virtuosität wegen visuell nuancenreich wurde. Natürlich ist es ’unnachahmlich’, wie Thomson aus lauter «i»-Farben und Zischlauten ein dichtes Band erzeugt, das in sich symmetrisch ist und dabei das In-Gedanken-seins des Schäfers («pensive») mit dem «Pein»-Erfülltsein der Herde («pining») morphologisch verknüpft. Doch in eigenmächtige Klangbäusche wie «schmachtend» und «Schafherde» verstoßen gegen alles, was am Englischen so vorbildlich war. Dass Schlüter dann das damals wie heute gleichermaßen hundsgewöhnliche Verb «seeks» durch eine altertümelnde Preziose wie «walten» ersetzt, macht den Verstoß komplett. Solche Verstöße sind durchaus nicht selten in Schlüters kapitalem Übersetzungswerk, jedenfalls häufig genug, um uns fragen zu lassen: Wie ist das möglich, bei einem solchen Mann, der in der Literatur (beinahe) leistet, wozu in der Musik Generationen von Pionieren vonnöten waren? Die Antwort ist wohl: Schlüter hat die Schwäche aller Pioniere des Historismus, er liebt das Alte übermäßig; er liebt das Alte um des Alt- und Unwiederbringlichseins willen; er liebt es, weil es anders ist als die Gegenwart, zarter, entrückter, ursprünglicher, feiner, ungehemmter, reicher, reiner. («Reinheit» war ein Zentralwort für die Pioniere der «historischen Aufführungspraxis» in der Musik.)
Es war wohl diese Liebe, die ihn überhaupt zum Nachdichten geführt hat. 1991 war von ihm nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit eine schwergewichtige Anthologie englischer Poesie erschienen – Urs Engeler hat sie nun, um einen wunderbar lichten Hochzeitstagzyklus von Edmund Spenser erweitert, neu aufgelegt. Sie war das Dokument einer vieljährigen Leidenschaft für das Abtrünnige, Unterdrückte, Abseitige, Verkannte, Exzentrischen und Kanonsprengenden. Schlüter kommt (fast) ohne Keats und Coleridge und Dryden aus, macht einen Bogen um das Geläufige und Eingeschliffene; das Resultat war eine staunenswerte Schatzkammer des Überhörten in der englischen Poesie. Keine Bibliothek kann sie guten Gewissens missen. Kabinettstück an Kabinettstück reiht sich; kaum eines kannte man zuvor. Ein hochgewitztes Bettelgedicht von Geoffrey Chaucer hier, barockes Rankenwerk von King James I. da, ein ganzes Album mit Beweisen, wie hoch jahrhundertelang in England die Kunst des Sonettenschliff stand usf. Die allererstaunlichsten Kleinode finden sich womöglich in den Anonyma. 600 Jahre alt sind fantastische Wortspiellaune wie: «Mon in the mone stond and strit; / On his bot-forke his burthen he bereth.» (»Mann-im-Mond steht und stelzt fürbaß; / Trägt an ‘ner Zinkenfork sein Rutenbündel.») Schlüter, damals noch in jungen Jahren, demonstriert hier über alle Lust am Empfindsamen und Kostbaren hinaus eine eminent spielerische Lust am Spektrum der Töne. Nur eben: Dem Demodierten, Patinösen, Wohlfeilen, Wallenden, Wattierten, gehörte auch damals schon seine Liebe. Und so wird aus dicht, aber lakonisch gebauten Zeilen wie «Thou black, wherein all colours are composed, / And unto which they all at last return / Thou colour of the sun where it doth burn, ...» wiederum ’Lyrik’: «Du Schwarz: darein ein jede Farb geschossen, ...». Das ist keine ’verenglischende’ Transmission; die morphologische Mimikri ans Fremde wird zum Vorwand, um sich am ’poetisierten’ Deutsch zu laben. Schlüters eminentes Projekt einer «historischen Aufführungspraxis» ist im Detail zwielichtig: Sollen die neu angeeigneten Überlieferungen uns sprechen lehren oder sollen wir zur Flucht ins Abgelebte verführt werden? Lehrt sein Kraftakt womöglich, dass das Deutsche die gestochene, hochbeweglich komponierende und doch selten ’lyrisierende’ Empiriekraft des Englischen nicht oder nur in glücklichen Augenblicken erreicht – und also sich doch auf eigene, andere Tugenden besinnen sollte und müsste?


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