Michael Donhauser

Kastanien



Es sind rundliche Unförmigkeiten, kugelnd und mit einem bleichen Hof als Auge - so ist es, als würde eine Jahreszeit eingeläutet, klopfen sie in Abständen jetzt auf den Kiessandboden: zuvor, vor Tagen doch, habe ich eine einzelne gesehen, eine Kastanie in einem Rinnstein.
Wie diesen Herbst zubringen: die Kastanien zahlreich, staubig und das zersplitterte Laub als eine lange Zeit, die bevorsteht, unterteilt vom seltenen, fernen und näheren Aufschlagen am Boden, einem Schlagen als Maß in wechselnden Intervallen.
Ungleichförmig, daß kaum zwei sich völlig gleichen, sind sie sich verwechselbar ähnlich, schlägt eine hart neben mir auf den gelblichen Sand der Tuilerien - daß ich mich nach ihr bücke, angezogen von dem Aufprall mit der Drehung, von dem Fähnchen Staub, das sich erhoben hat, von der Größe ihres Hofes.
Es ist auch dessen Umfang, seine Form, die je verschieden ist, dann die Blässe, die frisch fast weiß scheint: weißlich von einem feuchten Mehl, welches den Hof der entsprungenen Kastanie unvollständig bedeckt.
Der Hof, das Auge, etwas quellend, als wäre die gemaserte Haut zu knapp, die Rundung als Ganze zu umschliessen: sie bestürzt durch ihren dunklen Glanz, ihre Glätte, ihre von Kastanie zu Kastanie entschiedene Förmigkeit.
Also kaum ein Ort, der für die Zeit, die bleibt, geeigneter wäre als dieser nun hier, wo die Taubenkrallenspuren den Staub in ein Muster von Verzweigungen legen - wo die Kastanie in einer gleichsam erweiterten Straßenrinne liegt, geschützt vom Verkehr entlang des Parks.
Dann meine Vorliebe für eine in Zeilen angelegte Schattigkeit, lichtdurchbrochen mit Streifen von Blättern, Streifen von Sand - die versinnbildlichte Jahreszeit, das Verfärben, der Tau und die Fülle, das Rötlichbraun geformt, gebuchtet, gebeult rundum oder abgeflacht.
Denn alle Wege sind Heimwege jetzt, führen in die Nähe, wo die Kastanien ausgestreut liegen am festgetretenen Sand - mit der Neigung zu kollern: kulleräugig.

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Sommerlicher Septembertag als raschelnder Wind und umgehängte oder über den Arm gelegte Jacken, mit Blättern, die zahlreicher zu Boden wehen, in den Kronen taumeln - die Wärme trocken auch im Schatten, dem zugluftig kühlenden, und vereinzelt das Klopfen, voll in dem Tuscheln von Wechselweisem.
So sammeln jetzt zwei Mädchen Kastanien, geben die beiden die Kastanien in das blaue und rosa Kleid, das sie je am Saum zu einem Bündel in die Höhe halten: hin und her sich bückend, einander imitierend, verwandeln sie den Nachmittag in jene Mengen Kastanien, die sie aus den Kleidern in einen Plastiksack rollen lassen.
Gerundete, abgeschrägte, äugige Zeitchen: Schweinchen (cochons) am Sand und im Laub, doch kein Moder oder Erdreich, das eine Fruchtbarkeit verspräche.
Die Kastanien stürzen und springen mit dem Aufprall aus der Schale, welche bricht, entdrei, entzwei, und liegenbleibt - angedorrt mit Stacheln und feucht in der hellen Höhlung, dem Gehäuse des entsprungenen Samens: der Frucht oder Früchte, zwillingsgleich.
Weicher ist der Fall auf die pelouse interdite, auf den verbotenen Rasen, wo kein Kies sie schürft, kein Staub sie tarnt: dort liegen die Kastanien in ihrem ungetrübten Glanz oder noch in der Stachelschale, zur Hälfte oder unaufgebrochen.

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Was für ein Monat mit täglicher Sonne, welch staubige Schuhe, königliche Gebärde: wenn es mir gefällt - und dann etwas bleiben, während die Kastanie sich einen hölzernen Anschein gibt, empfänglich scheint für das Septemberliche, die lichte Schattigkeit des Nachmittags.
Während kaum zweier Tage in der Tasche, am Tisch, und sie beginnt zu schrumpeln, daß die Mulde sich vertieft, welche vom Hof um die Hälfte der Kastanie in eine Bucht in der Maserung führt - daß die Rundung der Frucht sich in zwei Höcker teilt.
Damit dann verändert sich auch die Farbe, bleicht das Braun ins Gelbliche aus oder dunkelt nach zu einem mit Rot untermischten Schwarz: der Holzglanz wird matt - was bleibt, ist die Kastanie als ein Glücksbringer, Losungswort.
Ihr Hof oder Auge ist nur am Rand und in Rillen noch weißlich, hat das Feuchte seiner ersten Blöße an die Hand oder Tasche abgegeben: ein Fältchen, Knötchen, deutet die Stelle an, wo die Kastanie einen Keim hervorbringen würde.
Es ist ein in Zeilen angelegter Wald, ein von allem Unterholz freier Kastanienwald, lichtdurchlässig, und das Laubdach so geschnitten, daß das Beisichsein hier wiederkehrt, das Innenräumliche der Straßen, der Stadt: der Waldboden als Sandboden mit dem Laub, dem Staub, den Parkstühlen in Gruppen, den einzelnen Stühlen, manchmal besetzt von Essenden, von Lesenden oder Liebenden, ineinanderverschränkt.
Der Wald so ohne Dunkel, gereiht die Stämme, daß es den einzelnen Baum noch und nicht gibt, nur gibt noch als gezählten, als den vierten in der dritten Zeile: die Kastanie darin das Stück, gleichsam Herz und fleischgeworden.
Dies: daß mir heute eine fast gleichmäßig geformte über den Sand des Wegs, welcher mich von den Baumreihen trennt, zugekollert ist und ich sie aufgelesen habe, daß sie sich in meiner Hand vom Staub gereinigt sowie spurlos etwas Farbe verloren hat - ihr Hof gleicht einem Blatt, und wo dessen Stiel wäre, liegt tiefbraun die Mulde als Scheide zwischen den kaum helleren Hälften oder Backen.

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Eine so reine Liebe, freie, sieh, und wenig Gesten, ein Drehen in der Hand, ein Fallen ins Laub, das untermischt mit weißen Rechnungsbons den Sand lückenhaft und dichter fast bedeckt: nun, da der Garten nach alten Entwürfen neu gestaltet wird - ich wollte mir die Pflanzungspläne besorgen, erfuhr, daß sie in den Bürgermeisterämtern der Stadt auflägen, und habe in einer Buchhandlung eine Broschüre als einen Nachruf auf einen abgelehnten Gestaltungsvorschlag gefunden: auf dem Weg zurück in den Park, unter die Bäume, habe ich jenem unausgeführten Konzept wie allem Mangel an Absichtslosigkeit mißtraut.
Die Kastanien, einstweilen, bleiben liegen - geschürft und staubig und aufgeplatzt haben sie den anfänglichen Glanz eingebüßt, als dauerte das Fest zu lange schon, der begonnene Herbst, das Welken und die Besuche in den Tuilerien, wo es jetzt Abend wird, daß das Sonnenlicht den Sandboden hie und da noch berührt als etwas Laub, das dann leuchtet mit den Wipfeln, mit der Baumfassade der Hauptallee: die Menschen, die nicht aufbrechen, scheinen sich zu verspäten, nur die Läufer nicht, welche hier zu dieser Stunde gehören wie die verlassenen Parkstühle, die als Zeichen wortwörtlich fast noch einmal verteilt zwischen den Stämmen stehen.

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Ich habe die Kastanie unter den Platanen am Markt dabeigehabt und mit dem Daumen über die Finger gerollt: die Gewalt, das Tägliche, das Gereifte, Gebrochene, die Aufzählung, Reihung, die Verfärbung und das Zyklische als Täuschung, das Zyklische der Täuschung, als Hin und Zurück, als Allee.
Und im Park dann die zertretenen Kastanien, daß die gelblichweiße Stärke aus den Rißen der Brüche quillt: daß sie als Fladen das Längs und Quer zwischen den Stämmen nahezu pflastern - es bleibt das Wiedergefundene als das Noch-nie-so-Gesehene, der Waldboden und schattigblaß.

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Alle Fruchtbarkeit verkommt im Laub, herbstlich umflort: ich habe die Sonne am Morgen von Nebeln noch verschleiert den Asphalt streifen gesehen, daß die Kiesel gespiegelt haben im stumpferen Teer - so würde ihr Licht jetzt am Waldparkboden liegen, habe ich gedacht, ebenso den Sand streifend, spiegelnd an den Kieseln und den Parkstuhlrohren.
Von der Höhe der Treppe vor dem Gitter zum Park, wo der breite Zuweg über die Stufen bricht, breitet sich der Garten jetzt atmend aus, das heißt: bald flankieren zwei längliche Wasserbecken die mittlere Allee und bilden so eine Enge, bald nimmt ein achteckiges Wasserbecken die Mitte ein und weitet so den Weg, führt ihn beidseitig um den Brunnenteich, daß die Achse als Gerade nur mit dem Auge begehbar bleibt.
Und so ist der Park ein Anfang, der Oberlauf, das Projekt eines Gartens, der sich fortsetzen würde, über die elysischen Felder hinauf und weiter, daß sein Ende das Meer dann wäre, eine Balustrade über den Klippen, an welcher wir stehend auf das Rollen der Wellen sähen als auf eine nächste Unendlichkeit der Wiederkehr.



(Aus: Die Gärten)