Birgit Kempker

In Sachen Kuss




(Aus: Im Blut lebt noch Empfindung)

Dann kam der Brief, ich legte ihn ins Bett und kochte Kaffee, spielte mir Zerstreutheit und Ergriffenheit vor, um nicht zerstreut und ergriffen zu sein, von einem Nichts, einem Brief, einem Mann, den ich lange nicht sah, er ist in Afrika.

Ich sah zum Fenster raus, biss auf die Nägel, wie selbst in einem Leinwandleben drin, so sieht es immer vorher aus, dann legte ich seine Frage aus dem Brief hin und her, rollte sie aus und fragte mit seiner Stimme in meinem Gesicht aus dem Brief:
- Lässt du dich küssen? mit dem Gefühl, das sei angenehm oder es müsse so sein?

Im Vergleich mit den Tagen ist das Küssen selten, auch im Vergleich dazu, wie schön es sein kann, ist das ein Vergleich? Ist schön das richtige Wort? Und richtig? Die Frage hat den Haken, dass er sie stellt und im Brief.

Ob ich wen küsse, ist das angenehmer? Ist es überhaupt unangenehm?

Küsst du wen? mit dem Gefühl, das sei angenehm oder es müsse so sein? Unmöglich, nicht aus seinem Mund, sowenig wie der Kuss, nicht an mich, nicht im Brief.

Ich geh zum Bett und kuck sie alle an, Kissen und Laken, keins ist berührt.
- Ich hab den Satz laut genug gesagt, Leute, sag ich, liegt nicht ein Brief bei euch?
Dass ich ohne Antwort vor meinem eigenen Bett, von einem Fuss auf den anderen steh, ist der Satz schuld, denn Gegenstände küssen nicht, ist das richtig gedacht? Richtig gesagt? Ich schrei es durch die Wohnung.
- Stellt euch nicht tot, ihr Klötze, schrie ich.

Kann das mein Ernst sein? Ich will hier nicht allein sein, ohne Küssen geht es nur bei Eskimos, da heisst es Nasenstübern, dazu leiht der Eskimo dem Gast seine Frau, vielleicht deshalb.

In den Filmen kenne ich die Liebe aus Amerika und Frankreich, aus Deutschland und Japan, aus der französischen Schweiz und aus Russland, dazwischen steh ich in kurzen Socken vor meinem Bett und hätte ihn da lieber nicht rein gelegt.

Am Anfang habe ich seine Briefe ins Bett gelegt und mich dazu, er auch, seine schrieb ich im Bett, nicht am Schreibtisch, es war nicht wie Schreiben. Etwas ist faul, nichts greift, nichts hat Arme, ich misshandel Eskimos.
- Briefe sind Arme, sagt Flusser, sagt Pelikan.
- Schnauze, sag ich.

Niemand lässt das ins Haus, was ihn zerstört und wenn es eine Frage ist, der Postbote sah heute nett aus, niemand ist gezwungen zu verstehen, was ein anderer fragt und mehr zu verstehen, als zu verstehen ist, und in Sätze wie in Spiegel zu sehen. Der Satz ist kein Spiegel, er ist eine Frage mit Unterfragen und zielt unter die Haut. Was ich sehe, lese ich, und was ich lese, bin ich nicht.

Ich fühl mich lächerlich, ist das die Reihenfolge? Ist lächerlich ein Gefühl? Ich reagiere mit den falschen Dimensionen, mit der falschen Kategorie und Ortsvorstellung, reagiere ich mit Gefühl? Was haben Küsse mit Wirklichkeit zu tun, was die Wirklichkeit mit Gefühl, was Gefühle mit Liebe, was die Liebe mit mir und was ich mit dem Brief, der nichts mit dem Bett tut, in dem er liegt, und was ich, die es nicht tut.

Der Brief liegt näher als ich, die nicht zum Bett gehört, das vor dem Brief, vor dem Lächeln des Postboten, meine liebste und zweite Haut war, lieber als der, der nun drin liegt, und ich hab die Frage am Hals und kein Bett. Sie liegt so weit weg, genau da, woraus sie mich vertrieben hat, dass ich, wenn ich jemand sein will und bleiben, die sich niederlegt und Träume hat und keine Angst vor dem Postboten, die Frage aus dem Bett jagen muss.

Ich bin es, die er fragt, das ist es, über meinen Mund will ers wissen und die Gefühle, wenn mit meinem Mund dies und das geschieht, er fragt extra unbestimmt.
- Willst du es wirklich wissen? Willst du mich nur treffen? Was ist der Unterschied? Und wie?

Auf dem kürzesten Weg, was bei ihm so etwas wie: schön bedeutet, ich les das nach, hols aus dem Bett, nichts darin ist verwandelt, geschweige denn glücklich, nur einmal hat sein Brief nach etwas gerochen, nach seinem Drucker.

Viele meiner Sätze in meinen Briefen an ihn beschreiben die schönste direkte Linie, die er kennt, schreibt er, schön ist bei ihm in Bezug zur Linie: direkt, das hat er aus der Zeitung, musst du mich mit Sätzen eines anderen über einen anderen abtrösten?

Es ist sein unschönster Schlag, der Satz mit den Küssen, geht das, unschön und geballt zugleich? Ich stopf ihn zurück ins Bett.

Ein Brief ist ins Haus gekommen, dann ich, ich lese die Unterschrift, dann die Mitte, dann den Satz, wie lange habe ich mit dem Öffnen gewartet? Ich hole ihn das drittemal aus dem Bett, er sieht so aus, wie Briefe von ihm manchmal aussehen, der Umschlag ist schmal, lang, packpapierbraun und aus gutem Hotel, er schickt Hotelbriefumschläge, von Anfang an, das heisst, er hatte genug davon und nicht, dass etwas zu Ende ist, nicht, dass etwas beginnt, nicht, dass er etwas opfert, weil er etwas anderes nicht hergeben will, keine Verschwendung, keine Sparsamkeit, nichts zusätzlich Süsses.

Zu welchem Papier er greift, wenn er mir schreibt, das hat er mir geschrieben, weiss er genau, er schreibt auch, dass er da, wo er schreibt, auf meine Zeichnungen blickt, um sich nicht zu verlieren und einen Satz später, dass er im Hotel sitzt und an mich schreibt.

Noch lächerlicher fühl ich mich darüber, dass ich nicht weiss, ob sich lächerlich fühlen ein Gefühl ist und ob darüber stimmt, bestimmt nicht, es ist ein dummer Gedanke über einen noch dümmeren Zustand, Steigerung, also Gefühl.

Du willst dich an dich selbst katapultieren in mir, ich soll kein Fett ansetzen unterwegs.

Einmal ist er da, sagt der Brief, und ob ich mir zwischendurch die Zeit etwa mit Küssen vertreibe, ob ich das auch noch angenehm finde, ich Sau.

Als sei die einzige Möglichkeit, einen anderen, sich küssen lassenden Menschen überhaupt noch zu verstehen, die Gewohnheit, das nämlich ist das Gefühl, das er mir vorschlägt, das keins ist, das Gefühl, es müsse so sein, das Küssen oder das Gefühl beim Küssen, oder das Gefühl, das Gefühl sei angenehm beim Küssen, wenn ich gewohnheitsmässig küsse, kann er es ertragen, weil er das am wenigsten könnte, es ist seine Gewohnheit, sich die Gefühle der Leute beim Küssen angenehm vorzustellen, weil er sich das nicht vorstellen kann.

Du willst mich treffen, ich nehme das für Küssen wahr.

Ich seh den Satz und mich, ob ich ein Mensch bin, ob ich zu ihm gehöre, er drückt Befremden aus, er ist eine Schlinge, du sollst meinen Hals mit Händen wollen, nicht mit Sätzen.

Das könnte ein Gegenstand einen Menschen fragen, oder ein Mensch einen Gegenstand:
- Lässt du dich polieren? mit dem Gefühl, das sei angenehm oder es müsse so sein?
Das wäre die richtige Frage an den Gegenstand, wenn Fragen an Gegenstände richtig sein können, von Menschen aus, wenn er mich für eine von seiner Sorte hielte, fragte er nicht.

Der Satz fragt:
- Wer bist du?

Wenn ich das bin, was er küsst, weiss er es besser als ich, da bin ich nicht, was geküsst wird, ist das, was er küsst, hat er gefragt?
- Gehörst du mir?

Bezieht sich seine Frage auf Personen, oder auf meinen Mund, ist sie symbolisch? Was ist ein symbolischer Kuss? Ein symbolischer Kuss ist die Frage an mich, ob sich wer küssen lässt, fühlt er sich an wie Kuss?

- Nach Afrika, hat er am Telefon gesagt, das hab ich aufgeschrieben, was heisst: nach Afrika? Danach sehen wir uns, vorher nicht, weil er denkt, dass sie denkt, dass bei ihnen, nach der Zeit, nach allem, was war und erst recht, was nicht war, eine Kussschuld ist, Küssen dran ist, er denkt nicht, dass Küssen dran ist, das denkt er auch, noch mehr denkt er, dass sie das denkt, er hat Gründe, das Küssen nicht zu wollen, auch wenn es dran ist, er kennt Gründe, für das Küssen kein Gefühl zu haben, kein Vorgefühl, es als Zumutung zu empfinden, als Belästigung, unerhörte Entgrenzung.

- Ich küsse dich, das ist seine Standardunterschrift, er könnte dahinter setzen: Trotzdem, trotz, dass ich es bestimmt nicht tu, unter den Brief im Bett hat er das nicht gesetzt.

Kann es nicht ein anderer sein? Kann es nicht etwas anderes sein?

Kuss ist das falsche Wort, wie Möbel, wie Tisch, wie Stuhl, wie kann eine Frage aus einem Brief einer Person kurz vor Afrika solchen Wirbel machen? In meinem Körper? Der Mund ist der Übergangsort von Seele zu Leib und zwischen Personen, ich würde gern mit meinem Körper in deiner Seele sein und umgekehrt. Dringend.

Liebster Heraklit,
als du mich in dein Bett nahmst, war es nicht derselbe, der mir heute solche Fragen stellt, per Post, wer weiss das besser als ich? Heraklit nicht.

Ist das ein Anfang? Passt er zu seinem? Ich schlag die Decke zurück und lese:

Liebes ich,
da ist sie wieder, meine alte Anrede an dich, ich selbst bin nie der alte, wenn ich an dich schreibe, weil man, wie der alte Heraklit sagt, niemals zweimal in denselben Fluss steigt, was in unserem Fall Bett, Brief und Beruf ist.

Ich will nicht antworten, weil er meine Antwort nicht will, wenn er nicht küsst, tut er etwas anderes, aufregenderes, das, was ihm beim Küssen fehlt, das Küssen langweilt ihn, es ist nicht schnell genug, es ist viel intensiver mit mir beim Rasieren zu reden, als dich zu küssen, sagt er, oder mir nur zuzusehen.

- Hab ich Frauen, fragt er sich in seinem Brief an mich, davon steht hier nichts, aber, was soll das bedeuten?

Er will nicht verständlich sein, das ist schon symbolisch, sagt er, küsst er in Afrika? Wegen des Küssens würde er seinen Körper nicht verschieben, keinen Zentimeter, innerhalb der Stadt würde er Schritte tun, für das, was man tut, wenn man küsst, besser ein Taxi, aber doch nicht Afrika.

Er kennt ein Mädchen in Afrika, war es ein Affe? Hat er den nur mit dem Stöckchen errigiert?

Ich könnte den Brief vergessen, aufessen, so soll mein Leben nicht aussehen, dass das stärkste darin diese Frage ist, ich will einen stärkeren Satz.

Jahrelang hat er nichts gefragt, weil er weiss, ich antworte, was er unmöglich findet, gegen das Gesetz, er wird die Antwort nicht lesen, weiss er das, stirbst du in Afrika?

Küsse ich? Das ist nicht seine Frage. Er bringt mich aus dem Häuschen, während er in Afrika ist, küss ich meinen Füller.

Liebster Heraklit,
bitte stell mir keine Fragen, die so sind, dass ich sie auch meinem Füller stelle.

Liebster Heraklit,
die einzige Frage ist meine: warum küsst du mich nicht und die Antwort liegt in deinem Namen.

Du warst so erschöpft, wie seit Wochen nicht mehr, er hatte es sich abgewöhnt, in Afrika werd ich ein Mensch, du wirst sehen, schreibt er, daran knüpfe bitte keine Hoffnung.

Fast jeder küsst, auch mit Herpes, er hatte welchen, immer, wenn ich ihn sah, schon vorher, der Herpes hatte nichts mit mir zu tun, er liess seine Salbe neben dem Bett: Lomaherpan.

Ich kenne dich, hat er gesagt, als es kein Kuss mehr war, kurz davor, war davor ein letzter Kuss?

In der Nacht vor den Tannen wollte ich, ging nicht, meine Augen wurden grün, auch er war ausserhalb, ich hätte mich an Seelenküsse erinnert oder Landschaft.

Küssen ist nicht Ficken, das eine kann so unmöglich wie das andere sein. Er ist in Afrika. In Afrika ist es heiss. Ist deine Frage, ist deine Seele meine?

Heraklit, ich lass mich küssen, 3mal im Monat, das Ficken geht, wenn man miteinander bekannt ist, besser, als das Küssen ohne.

Es gibt kein Gefühl, dies oder das sei angenehm, du Glatze, willst du mich dir ähnlich machen? Dann hauch mir deinen Odem in die Fresse.

Das Gefühl im Mund ist angenehm und auch anderswo. Satt machen sie nicht, dafür sind sie nicht da, wenn mich jemand küsst, mit dem Gefühl, das müsse so sein, muss es so sein, was den Unterschied hinmacht, Küsse wissen mehr von sich als du einatmen kannst.

Küsse küssen immer, oder es sind keine, angenehm ist Küssen nie. Nachher fragt man oft: war das ein schöner Kuss oder ein guter, die Antwort ist oft, weil es ein Kuss war: nicht schlecht, was nicht schlecht war.

Küsse in Briefen werden von Gespenstern gefressen, unterwegs, weshalb Kafka ungern welche in Briefe steckte, oder doppelt gern? Bitte fress mich, bitte lass uns die Gespenster fressen.


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