Felix Philipp Ingold

Gegen das Geschwätz.
Gedichte von Andrea Zanzotto



16. Januar 2003, Neue Zürcher Zeitung

Aus dem Krähwinkel seines norditalienischen Heimatorts Pieve di Soligo hat der Dichter Andrea Zanzotto in den Jahren 1968/1969 die «Eroberung» des Monds und damit die Entmythologisierung eines hoch poetischen, mit reichster Symbolik befrachteten Himmelskörpers in Echtzeit mitverfolgt. Dies war, unabhängig vom Standort des Beobachters, möglich, weil die Mondflüge der Nasa in vielfacher Ausstrahlung am Fernsehen spektakulär vorgeführt wurden. Die Inflation der einschlägigen Bilder und Kommentare hat Zanzotto damals zur Niederschrift eines langen polyphonen Gedichts angeregt, das der Entzauberung (der «funktionalen Entweihung») des Monds entgegenwirken sollte. Dem medialen Gequassel wurde Paroli geboten durch eine Vielzahl von Stimmen, die der Autor zu einem dissonanten Chor vereinigte, dessen delirierender Sang am Rand des Nonsens den grösstmöglichen Kontrast zur wissenschaftlich-technischen Eroberungsrhetorik bildete – dichterischer Hermetismus wider das automatisierte «Geschwätz der Zeit». Nur der hermetische Text, der den Un-Sinn riskiert, kann überhaupt noch, wie Zanzotto in seiner Nachbemerkung zum Gedicht festhält, einen Sinn annehmen. Was vorliegt, ist ein tatsächlich radikal jeder voreiligen Verständigung sich verweigerndes Stück Literatur, das vom Leser ebenso radikal angeeignet und überhaupt erst mit Sinn bedacht werden muss. Einzig so kann man wohl heute noch «genesen an Poesie die siehe da Massaker ist Gewaltakt». Ein Gewaltakt ist nicht zuletzt die Übersetzung des grossen Gedichts – auch sie eigensinnig bis zum Nonsens, auch sie letztlich nur eine Lesart von vielen. Allein dass sie gewagt wurde, sollte Ermunterung genug sein zu kritischem Nach- und Gegenlesen, zu produktivem Weiterlesen ohnehin.



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