Felix Philipp Ingold
Neue Zürcher Zeitung 16. November 2002

In neuen Hosen




Alexander Nitzberg übersetzt Wladimir Majakowski

Mit der hohen Ambition, im deutschen Sprachraum einem «neuen Majakowski-Bild» zum Durchbruch zu verhelfen, legt der umtriebige Übersetzer Alexander Nitzberg - Vermittler so unterschiedlicher Autoren der russischen Moderne wie Abram Efros, Michail Senkewitsch oder Anna Achmatowa - eine weitere bemerkenswerte Arbeitsprobe vor. Es handelt sich dabei um die Eindeutschung zweier futuristischer Frühwerke von Wladimir Majakowski, nämlich einer Vers- Tragödie, die als Titel den Namen des Autors trägt («Wladimir Majakowski», 1913), sowie eines vierteiligen Langgedichts mit Prolog («Wolke in Hosen», 1915). Beide Texte sind dominiert von einem grotesk überhöhten, zwischen Grössenwahn und Zerknirschung ständig schwankenden lyrischen Ich, das bald für Majakowski als Person, bald für den Autor als künstlerische Instanz - hier als Prototyp des radikalen Neuerers und Einzelgängers - zu sprechen scheint. Und beide Texte können als beispielhaft gelten für die «zukünftlerische» Poetik, die von der Moskauer Fraktion der russischen Futuristen ab 1910 erarbeitet und zu einem eigenständigen Konzept dichterischen Redens entwickelt wurde.

In seinem ersten Drama wie in seinem ersten grossen Poem hat Wladimir Majakowski die futuristischen Postulate, die damals in zahlreichen Programmschriften mit revolutionärem Furor vorgetragen wurden, produktiv umgesetzt. Traditionsbruch, Innovationswille und Prioritätsanspruch waren auch für ihn die Voraussetzungen einer Dichtkunst, bei der es mehr auf das Sagen der Sprache als auf die Aussage des Autors ankam, die das «Wort als solches» - das Wort als Klangereignis oder als bildhaftes Skriptum - dem Wort als Bedeutungsträger vorzog, die den kühnen Reim ebenso wie die kühne Metapher kultivierte und die im Übrigen mit Gott und dem Zaren, mit Spiessern und Akademikern gleichermassen erbarmungslos ins Gericht ging. «Ich flehte, / fluchte, / das Messer zückte, / verbiss mich in Schenkel, / schrie permanent . . . / Vibriert meine Stimme / - ein rohes, tristes / Geläster - fortwährend / durch alle Säle, / schnuppert womöglich Herr Jesus Christus / am Vergissmeinnicht meiner Seele.» Scharfe Satire und larmoyantes Pathos, Witz und Zärtlichkeit, Dissonanz und Melos verbinden sich bei Majakowski zu einem unverwechselbaren lyrischen Parlando, dem kein Register zwischen Gassenhauer, Gebet und arationaler Wortakrobatik fremd ist.

HOHER ANSPRUCH

Texte von derartiger rhetorischer und semantischer Komplexität adäquat zu übersetzen, ist gewiss kein Leichtes. Im Unterschied zu allen bisherigen Majakowski-Übersetzern, denen er nicht bloss sprachliche und sachliche Inkompetenz, sondern auch ideologische oder psychologische Voreingenommenheit ankreidet, erhebt Nitzberg den Anspruch, nun erstmals Nachdichtungen zu liefern, die der verstechnischen Virtuosität wie auch der innovativen Metaphorik des Autors gerecht werden. Diesen Anspruch kann nur erfüllen, wer den jeweiligen Originaltext in der Zielsprache nachbaut, das heisst seine Entstehung unter sprachlich ganz andern Bedingungen rekonstruiert. Dabei ist naturgemäss mit grossen, vorab inhaltlichen Abweichungen und Verlusten zu rechnen, doch wird so der übersetzte Text dem Original insgesamt am ehesten entsprechen - in seiner formalen Struktur, seiner Intonation, seiner Bild- und Sinnhaftigkeit.

Alexander Nitzbergs Neuübersetzungen erbringen gegenüber früheren Versuchen einen deutlichen Mehrwert in Bezug auf die Nachbildung von Majakowskis äusserst vielfältigen Assonanzen und Reimen, dabei vernachlässigen sie allerdings die ebenso variantenreiche Rhythmik und Strophik, verfahren zu frei mit den poetischen Bildern, so dass im Effekt nur eine partielle formale Übereinstimmung gewonnen, nicht jedoch die Analogie zwischen allen relevanten Elementen und Ebenen der vorliegenden Texte hergestellt wird. Daraus erklärt sich wohl auch die Tatsache, dass Nitzbergs deutsche Versionen durchweg sehr artifiziell, bisweilen geradezu verquält wirken, während Majakowski noch den ungewöhnlichsten Formulierungen und den kunstvollsten Konstruktionen eine Natürlichkeit, eine Ungezwungenheit verleiht, wie man sie sonst nur aus der Alltagssprache kennt.

UNTER ORIGINALITÄTSZWANG

Wie jeder Zweit- oder Drittübersetzer scheint sich auch Nitzberg unbedingt von seinen Vorgängern (Huppert, Reich, Müller, Dedecius u. a.) emanzipieren zu wollen, was ihn selbst dort zu immer noch artifizielleren Versionen zwingt, wo überzeugende Lösungen bereits gefunden sind. Der Eigensinn des Nachdichters macht auch vor den schlichten Werktiteln nicht Halt. Wenn der im Deutschen längst eingebürgerte, sprachlich durchaus korrekte Titel des Poems «Wolke in Hosen» nun als «Wölkchen in Hosen» daherkommt, ist das eine ganz und gar unnötige Demonstration übersetzerischer Originalität, abgesehen davon, dass die Verkleinerungsform eine Putzigkeit und Biederkeit evoziert, zu der es im Text keine Entsprechung gibt. Auch die Titelei des Versdramas vermag in der deutschsprachigen Neufassung - «Tragödie Wladimir Majakowski» - nicht zu überzeugen. Das russische Original (Erstdruck 1914) bringt als Titel «Wladimir Majakowski», als Untertitel «Tragödie von Wladimir Majakowski», stellt also den Gegensatz zwischen Autornamen und gleich lautendem Werktitel deutlich heraus. Dieser für das Stück und dessen Verständnis essenzielle Gegensatz, der bei der Uraufführung zusätzlich verstärkt (und problematisiert) wurde dadurch, dass Wladimir Majakowski selbst in der Rolle des «Wladimir Majakowski» auftrat, wird bei Nitzberg ohne Not ins Unverbindliche aufgehoben. Wo der Übersetzer zu viel für sich selbst will, kommt in der Regel der Autor zu kurz.


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