Ulf Stolterfoht

Zu Ernst Herbecks Gedicht «Die Wüste»




Ernst Herbeck: Die Wüste

Eisklapp die Stumme Sandweit war
so klar war auch mancher Soldat.
So einfach diese Sandwichs waren.
so weit war rauh auch diese Stadt.
der kurze Aufenthalt darin war blind
für den Soldat im «heißen Sund»
die Söhne - der Wüste - sind im Sand
wo eiskalt war so man minche
Stadt.
Auch ich war einst in dieser Kim.
wo auch.



Ernst Herbeck, dessen Gedicht «Die Wüste» Sie gerade gelesen haben, wurde am 9. Oktober 1920 in Stockerau bei Wien geboren und starb am 11. September 1991 in der Niederösterreichischen Landesnervenanstalt Maria Gugging, nachdem er dort fast 45 Jahre seines Lebens zugebracht hatte. Ernst Herbeck litt an einer schizophrenen Psychose. Er gehört zu den großen deutschsprachigen Dichtern des letzten Jahrhunderts.

Als Herbeck 1940 zum ersten Mal mit der Psychatrie in Berührung kam (was bei den damaligen Behandlungsmethoden fahrlässig harmlos ausgedrückt ist), hatte er noch kein Gedicht geschrieben, sich nicht einmal besonders für Literatur interessiert. Dies änderte sich erst 1960, als ihn sein Arzt und Therapeut, der Psychiater Leo Navratil zum Schreiben aufforderte. Herbeck kam dem Wunsch nach, anfangs gleichmütig, später mehr und mehr von der Qualität seiner Arbeit überzeugt. Das Procedere jedoch blieb in den folgenden Jahrzehnten immer das gleiche: Herbeck erschien zu bestimmten Zeiten bei Navratil, ließ sich Titel oder Thema geben, setzte sich, rauchte und hatte den Text nach etwa anderthalb Stunden abgeschlossen. Er überreichte Navratil das Blatt und verließ das Zimmer. So entstand - gewissermaßen auf Zuruf - ein Werk von über tausend Gedichten, das an Formenreichtum und sprachlicher Beweglichkeit, an Risikobereitschaft und ironischer Reflektiertheit kein Beispiel hat.

Nichtsdestotrotz haben Krankheit und Werk miteinander zu tun. Wenn man sich den Texten Herbecks nähern will, läßt sich vielleicht mit Navratils Hilfskonstruktion einer «zustandsgebundenen Kunst» noch am besten arbeiten. Das einzelne Gedicht behält so seine Autonomie, ohne daß man völlig von der Person des Autors absehen müßte. Für Herbecks «Die Wüste» bedeutet das unter anderem, es jenseits aller Bewunderung in eine «Tradition der Moderne» stellen zu können, ohne dabei Ursache und Wirkung zu verwechseln. Konkret: Was Herbeck in diesem Gedicht bereits Anfang der sechziger Jahre leistet, ist derartig auf der Höhe der Kunst, daß man vor Neid vergehen möchte. Ich kenne kein Gedicht, das ähnlich komplex strukturiert wäre, und zwar auf und zwischen allen Ebenen der Sprache bis hinunter zum Einzellaut, wobei das Morphem «sand» als klanglicher Ausgangspunkt und assoziative Hangelhilfe eine ganz besondere Rolle spielt. Einige von Herbeck benutzte Figuren: Alliteration, Permutation, Synästhesie, Metonymie, Oxymoron, Ellipse, Apokoinu - um nur die augenfälligsten zu nennen. Am erstaunlichsten aber die Rhythmisierung des Gedichts: ausgehend von einer iambischen Grundstruktur, scheint Herbeck auf jede Silbe eine Betonung legen zu wollen, was eine Art gebremstes Stakkato ergibt, unterbrochen nur an einer Stelle, dem blinden Punkt des Gedichts: «wo eiskalt war so man minche / Stadt.» Wollte Herbeck eigentlich nur «manche» sagen (was durchaus denkbar ist, da er ganz selten Korrekturen oder Verbesserungen vornahm), dann lautete der Vers «wo eiskalt war so manche Stadt» und wäre damit rhythmisch gerettet. Zwei Gründe dagegen: Herbeck setzt das Wort «Stadt» ganz alleine in den nächsten Vers, genau so wie das «wo auch.» im folgenden «Auch ich war einst in dieser Kim. wo auch.» Auf dem Papier bekommt der Text dadurch etwas fast sonettartiges, zumindest jedoch symmetrisches - und das ist ganz bestimmt kein Zufall. Zum zweiten benötigt Herbeck das «i» in t«minche» für die Assonanz mit «Kim», ein weiteres Strukturelement, das sich durch das ganze Gedicht zieht, und sicher auch das kein Zufall. Ohne also zu wissen, was «minche» bedeutet, ahnt man doch, welchem Zweck es dient - die vielleicht brauchbarste Definition für «bedeuten».

Ernst Herbecks Gedicht ist unter besonderen Bedingungen entstanden. Wie jedes Gedicht unter besonderen Bedingungen entsteht. Ernst Herbeck ist ein Dichter, der ohne seine Krankheit, ohne seinen Arzt, vielleicht nie ein Gedicht geschrieben hätte. Wenn es also diese Gedichte, dieses eine unglaubliche Gedicht nicht gäbe - wir müßten wahrscheinlich froh darüber sein.


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