Jayne-Ann Igel

hausaufgabe




Im laufe der jahre spürte ich, daß sich jedes jahr ein bestimmtes thematisches zentrum in der erkundungsarbeit des schreibens hervorhob, und sich dieser thematische kern schon im vorfeld, im tagebuch auszubilden und zu verdichten begann. Dabei war es auch wandlungen der sicht, der erfahrung, der wahrnehmung ausgesetzt, und in bestimmten größeren zyklischen bewegungen kam ich, von anderer gegenwart(e) aus, auf dieses thema zurück. Eine andere schichtung, tiefe oder dimension galt es nun zu erkunden. So bewegte ich mich seit einigen jahren um das HAUS, im april 1988 notierte ich:

ich stehe noch ganz am anfang...zu einer wander-
schaft aufgebrochen muß ich mich vorerst begnügen
mit tagesmärschen in nähe des hauses, das mich heim-
holt mittels seiner vielfingrigen schatten, und noch
unerkundet sind die meisten seiner dimensionen
(tagebuch vom 28. April 1988).

Jene erstgeburtsstätte und stätte der kindheit zuerst war es, die ich entdeckte, ehe ich überhaupt das wort «haus» in die schreiberkundung einführte bzw. den gegenstand damit bezeichnete, umriß, oder «haus» ein wort sein konnte, das welten öffnete, seine bedeutungen, schattierungen, dimensionen, das haus, das atmet, so wie das gedicht atmet und einen raum bildet als auch umschließt, einen gedächtnis-raum mit eigener atmosphäre. In jenem frühjahr 1988, da mir dieses thema bewußt wurde, und bevor ich die beiden versionen des gedichts «das geschlecht der häuser gebar mir fremde orte» schrieb, notierte ich in mein tagebuch, voller verzweiflung:

was ist ein haus; eine wehrburg richtstatt, eine folter-
höhle herberge, eine fehlgeburt aus stein, die uns men-
schen umschließt und die eigene haut verkümmern läßt,
ist das haus eine gaststätte? vorsaal des beinhauses,
aufbahrungsstätte sterberaum, DENN ICH WILL UNTER
EUCH WOHNEN UND IHR SOLLT EIN FLEISCH SEIN,
begraben unter schichten von gebein, gefangen genom
men von den wörtern der altäre WIE LIEBLICH SIND
DEINE WOHNUNGEN, in die einzukehren wir gedenken,
in die höhlungen unterhalb der erdkruste, die türme
zinnen unserer häuser tönen, sind geschrei, angst, uns
zu vergessen. (typoskriptnotiz vom 8. März 1988).

Vorher hatte ich all jenes benannt, was ich mit haus assoziierte, dabei nur das haus in seiner einsilbigkeit im sinn: polierte stiegen, aufdringlichkeit, neugier der mitbewohner, kitschige türschilder und solch originäre aufschriften wie HAXN ABKRAXN, den umstrittenen hausordnungsdienst, den jeder zu leisten hatte, auf saubere treppen wurde peinlichst geachtet - mir schien, als verbänden sich in meiner eigenen erfahrungswelt vor allem negative gefühle mit dem «haus», ich hatte eingangs des tagebuchtextes geschrieben

das geschlecht ihrer portale widert mich an, denn sie
sind der mund ihrer bewohner. (typoskriptnotiz vom
8. März 1988).

Die häuser hatte ich vor allem als lebensbeschränkende stätten (kranken-schul-irren-gefangenen-elternhäuser) erfahren, so schien mir, beziehungsweise war mir diese funktionalität des hauses bewußter, gegenwärtiger als denn der schutzraum, die herberge, das eigene zimmer, die gaststätte (hier zögere ich: die als gaststätte bei uns bezeichnete räumlichkeit erwies sich zu DDR-zeit-rechnung allzuoft als gastbefremdlich), das haus der freunde, das der eltern, doch die freunde waren vaganten, während ich zuhause ihrer route auf der landkarte folgte.
Im entstehungszeitraum der beiden gedichte schrieb ich:

die häuser mit ihren erzenen erkern, toren, ihrem
schweigenden mund; sie bilden eine gasse (tagebuch
vom 25. April 1988),

und vorweggenommen wurde dieses bild der gasse, des «gassenlaufs» auch durch einen anderen text ein jahr zuvor, als das kindliche «ich», seine erfahrungen von verletzung, begrenzung, loslösung von bindungen der mittelpunkt meiner schreiberkundungen war:

sie ragten gleich gewächsen aus den fensterhöhlen
längs der straße...ich gewahrte immer zu spät ihre
sich herabbeugenden leiber, die mit zungen von
meinen lippen das lied nahmen, in dem ich, ihrer
ansichtig geworden, jäh verstummte (sie ragten gleich
GewächsenŠ, März 1987, in «Das Geschlecht der
Häuser gebar mir fremde Orte», S. Fischer, 1989, S. 81).

Es war immer der geist der bewohner gewesen, den ich als bedrückend, gefährdend erfuhr, den die distanz verletzenden blick, den vorbehalt, der als hinterhalt wirkte, so man sich allzusehr zu öffnen wagte; erst später entdeckte sich mir die «seele»/aura des hauses, genährt vom geist der bewohner und doch auch ausdruck eines eigenlebens, der einen charakter zu offenbaren vermochte - das haus brachte als wesen nun auch selbst etwas in die geschichte ein. Mittels eines gedichts des gleichen jahres wurde mir bewußt, warum wir, schulkinder, die glasfenster der unmittelbar am schulhofe gelegenen neugotischen kirche zerstörten, die sandsteingemäuer jener kathedrale waren schwarz geworden:

die kirche wurde zu einem ort der geister...wenn ich
mein angesicht zu den wasserspeiern, den drachen
und reptilien erhob, sie gravierten sich mittels ihrer
konturen ein in das himmelsgewölb, ihre gratigen leiber
machten, daß es blutete (Kurze Kirchengeschichte,
März 1987, ebenda S. 80).

Ich hatte den kreis meiner bewegungen immer enger gezogen, von nicht erfaßbaren weiten, einem geistigen raum, den ich poetisch noch gar nicht zu erfüllen und zu erleben vermochte, über die felder straßen plätze und gassen zurück zum haus, dem haus im ursprünglichsten sinne, der behausung. Hier hatte ich eine erste geborgenheit erlebt, den schutz, die garantie einer unversehrtheit. Gewalt, die von außen einbrach, schien nur auf dinge bezogen, nicht auf den leib, die gefährdungen des leibes, der seele hingegen hatten ihren ursprung im innern des hauses, einem ort der geister und gespenster, und doch die furcht vor der leibhaftigkeit der eindringlinge aus der nahen haftanstalt.

früh schon ergab ich mich den nachtmahren aus be-
nachbartem knastŠsie nahmen ihren fluchtweg quer
durch das labyrinth unserer zimmer

und

ich floh in die fänge ihrer lieder, die aus schilf gemacht
schienen (früh schon ergab ich mich..., Oktober 1984,
ebenda, S. 39).

Was bewegte, wünschte mich fort aus der sicheren heimstatt, dem schutzort, was drängte mich hinaus in einen raum, dessen inferno ich in träumen erlebte, später? Aber erst einmal war der ländliche raum, der wald, vielmehr noch wiese und feld, mir zum refugium geworden, durch das
ich nachmittagelang streifte, behausungen meidend, menschen, ich wußte mich frei hier von zwang, erwartungen, das haus war zu einem ort geworden, in dem man in der haft der vorstellungen anderer befangen saß, einem ort, in dem man sich nicht verlieren durfte.

Unsere häuser sind höhlen, in den freien raum ge-
trieben (typoskript gedichtentwurf vom 28. April 1988)

schrieb, weiterte ich, mir schien, wir lebten nicht in ihnen, die nicht her-, sondern nur unterkunft waren, trotz der möglichen transzendenz des freien raumes. Ich wähnte uns umschloßen von totem gestein, ausgetrocknet wie jene zwischen die doppelfenster geratenen und erstickten insekten, die sich auf den fensterbrettern fanden,

ich seh die statuen, hinter fensterglas geborgen,
deren leiber mürbe geworden sind (ich seh die
statuen..., November 1983, ebenda, S. 31),

mir schienen die häuser als weitere hüllen unseres leibes nicht angemessen unserer gestalt, zu schwer, zu lastend diese umkleidung mit all dem beweglichen gut in ihrem innern. Den freunden schrieb ich, sie unterwegs, auf der suche nach eigenen lebensformen wissend:

unbehaust werden wir bleiben, gast in jedem haus,
wir können der bestimmung des hauses nicht leben,
dienen (manuskriptnotiz vom 28. April 1988),

bar des gedankens, ein eigenes gebäude zu bilden. Ich begriff, daß ich nicht nur dem elternhaus verwachsen

sie hielten mich am hause gleich dem rebstock, des-
sen triebe sie beschnitten, daß er die zimmer nicht ver
dunkele (Der Zögling, September 1988, ebenda S. 112),

sondern in die verschiedensten schattierungen des anwesens, eines geflechts von häusern hineingewachsen war, mit meinen eigenen kräften, stimmen, dem eigenen geruch, der ohnmacht, der ich mich ergab, und die mich weg- und stimmlos machte, treiben ließ, austreiben:

gestalten harrten unserer regungen im schatten
des hauses, in das ich mit meinen trieben hinein-
gewachsen war

und

in die herde getrieben war ich, wie leicht dünkte
mir der anstaltskittel, den ich trug... (in die herde
getrieben..., Mai 1988, ebenda, S. 107)
ja, mein leben und meine wahrnehmung schien mehr pflanzlicher als gedanklicher natur,

als kind sah ich nur, was still stand, sah ich nur die
verlassenen stätten...wir erlebten lediglich die nach-
sicht des eingriffs, der verletzung (BRUCHSTELLEN,
September 1993),

ich «nahm hin», und alles, was ich wahrnahm, ging doch durch mich hindurch, durfte leben; stecken blieben die empfindungen, gefühle, all das wortgut - ich hatte angst, daß es mich den häusern entfremden könnte.

Verwaist sind die häuser, die mich gebaren, und ich
spreche durch das stumpfe rohr der mikrophone klage-
laute...häuser, deren fundamente unerschütterlich,
deren pfähle durch unsere leiber gehen (typoskript vom
9. Mai 1988, ursprung für «in die herdegetrieben...»).

Gegeben schienen die formen, es blieben wandelbar nur die innenräume, die traumstätten, «ausbauwohnungen». Es blieb, was zu beobachten war: die erosion der formen durch wetter und winde, das salz an den wänden, der schimmel. Aber die erosion im innern der räume hatte längst begonnen. Die freunde bauten sich ihre wohnungen aus unter löchrigen dächern, hinter fassaden aus rohem ziegel, zu einer zeit, da tausende monatlich das land verließen, gekrümmten rückens, ich erblickte geweißte zimmer, wenn ich die augen, eingelassen in das refugium, wieder öffnete, zimmer, die im freien zu schweben schienen, und viele monate malten sie das stuckwerk ihrer himmel aus.
Worunter ich litt, wenn ich nach reisen heimkehrte: nichts hatte sich verändert, bewegt, nichts gewandelt, nichts schien weniger dinghaft als der wandel der räume, in denen man lebte - einen wandel, den ich herbeizuschreiben
versuchte, und der in meinen gesichten einer zerstörung glich, einer sintflut, einem zerbrechen, abbruch der mauern, wandungen des hauses, wunschgesichte, ehe ich zu eine beobachterin der traumräume wurde, ehe ich aus der ohnmacht hinausglitt. Es waren

die ruinen, die nistplätze der tauben, der alten
(undatiertes manuskript),

die ich in jener zeit erkundete, umrundete, immer dieselben bilder vor augen, ich verlor mich in ihnen, verlor den grund, das verletzte galt es zu bergen. Aber der traum konnte offenbarung sein:

wir ziehen uns, da die erdoberfläche...unbewohnbar
wird, in das erdinnere zurück; ...wir führen nur beweg-
liches gut mit auf der wanderung in nun fensterlosen
räumen (Traumstück, September 1986, ebenda S. 60).

Der traum machte die erfahrungen der orte in einem bestimmten augenblick zu etwas einmaligem, verlegt waren die wege, unmöglich die rückkehr in ein- und dasselbe haus, nimmer mehr würde ich zurückkehren, heimkehren können in ein haus, das dem der eltern gleicht:

und viele immer unterwegs, ihr heim gehört einer
kindheit an, um deren haus sie in unzähligen träumen
streifen, und wenn sie es gar betreten, hat sich stets
irgendetwas verändert (manche trinken..., Januar 1986,
ebenda S. 53).

Und dies war die erfahrung, endgültig dem haus der eltern «enteignet» zu sein.

1995



(aus: Jayne-Ann Igel: Gedichte, in: ZdZ Heft 6)