Michael Hammerschmid

Übersetzung als Verhaltensweise (Auszug)



Nicht als Integration des Außen, sondern durch die Entfaltung des Innen als Außen entwickelt der rumänische Dichter Gherasim Luca eine weitere Variante im unerschöpflichen Feld übersetzerischer Dichtung bzw. dichtender Übersetzung. Er bringt ein Sprechen in Gang, das sich selbst zum Übersetzen bringt. Sein Gedicht PASSIONNÉMENT etwa ist nicht von einer Fremdsprache in die Muttersprache übersetzt, sondern von einer (Fremd-)Sprache, Luca war Rumäne, in eine fremde Sprache innerhalb dieser Sprache. Wie Ernst Jandls «oberflächenübersetzung» entsteht aus seinem Sprechgedicht dann so etwas wie eine «Sprechübersetzung» oder mit einem anderen Wort, ein «Übersetzgedicht», das beim Sprechen auch seine eigene Poetik, eine Poetik der Übersetzung und des Dichtens herstellt.

Zu Gherasim Lucas Gedicht PASSIONNÉMENT

Gherasim Lucas PASSIONNÉMENT gehört gemeinsam mit etwa fünf weiteren Texten zu der relativ kleinen Gruppe von Lucas Stottergedichten. Es fängt mit einer Art Stottern an: «pas pas», mit einem Stottern, das sich selbst verneint. Die Partikel «pas pas» sind gleichsam erste Worte dieser Verneinung. Es sind erste, kleine Verweigerungen eines Schaffensvorgangs, der im Verlauf des Gedichtes immer rasender in Schwung gerät. Die Sprache kommt gleichsam wie die Leidenschaft, von der sie spricht, oder die sie ist, ins Delirieren. Sie kommt nicht aus sich heraus, sondern fällt immer wieder in sich stotternd zurück. Auf diese Weise hört sie nicht auf, ihre Form unentwegt zu formieren, wobei das Sprechen in einem unfertigen und unsouveränen Zustand bleibt. Es ist ein Zustand der Rohheit und die Sprache des Gedichts ließe sich deshalb als eine barbarische Sprache bezeichnen, als eine «Ausländersprache», oder wie das Wort Barbar suggeriert, eine bärenartige, tierische, stotternde, nackte Sprache, bar allen Schutzes außer dem, den die eigene Bewegung verleiht. In dem Gedicht wird also keine richtige Sprache gesprochen; doch gerade durch die Sprech und Sprach-Fehler wird eine neue geschaffen, eine falsche Sprache bzw. eine Fremdsprache mit eigener Richtigkeit. In manchen Passagen stottert sich Luca durch «völligen» Unsinn, bis wieder Sinnfügungen auftauchen, so dass der Eindruck entsteht, das Gedicht wäre eine Art Durchgang oder Übergang. Auf diese Weise entsteht auch sein initiatorische und entgrenzende Gestus des Gedichts. PASSIONNÉMENT stottert sich gewissermaßen zur Liebeserklärung durch, und dabei muss der ganze Liebeskörper zutiefst erschüttert werden. Er muss sein Bekenntnis gleichsam erst erleiden. Ohne die semantischen Knäuel käme der befreiende Gestus aber wohl nicht zur Geltung. Man könnte sagen, dass in dem Gedicht die Sprache zum B(r)abeln gebracht wird. Das heißt, es wird eine Art sprachlicher Urzustand suggeriert, in dem noch keine deutliche Trennung von Objekt und Subjekt möglich ist. Beim Lesen bekommt man den Eindruck, dass die Bedeutungsschichten, die in den Worten und Wendungen gleichsam schlafen und unbemerkt tätig sind, aufgeweckt werden. So wird eine bestimmte Form an Erfahrung hergestellt, die man mit Michel de Certeau «ungewusstes Wissen» nennen könnte: «In den Praktiken hat es eine ähnliche Bedeutung wie Fabeln oder Mythen: diese formulieren Kenntnisse, die sie selber nicht kennen.» Dieses «Unwissen» sich selbst gegenüber ermöglicht eine rasende Dynamik, die an ihre eigenen Grenzen geht. Die Vorrationalität dieser ungewussten Sprache erlebt das Außen als implosive und das Innen als explosive Kraft und muss, um sich selbst nicht zu verlieren, stets mit sich in Fühlung bleiben und jeden Anknüpfungspunkt nutzen, lautlich, semantisch, und wenn er noch so klein erscheint. Gilles Deleuze hat Lucas Stottergedichte mit Beckett, Kafka, Kleist, Péguys, Roussel, Melville und Artaud in eine Reihe minoritärer Literatur gestellt. Das Gedicht PASSIONNÉMENT besteht für Deleuze aus «inklusiven Disjunktion», das heißt, dass sich die Terme in den Worten voneinander lösen und immer wieder neu verbinden. Dieser innersprachliche Übersetzungsvorgang – ein Lösungs- und Zusammensetzungsvorgang – hält gewissermaßen eine Beziehungsarbeit mit sich selbst in Gang. Anders als Friederike Mayröckers In-Beziehung-Treten mit Zitaten, Eindrücken und Erscheinungen der sie umgebenden wirklichen und artifiziellen Welt, ist die Sprache bei Luca gewissermaßen inzestuös. Sie entdeckt die Welt in sich, indem sie mit sich schläft. Doch dabei zeigt sich, dass es keine Flucht nach innen gibt, weil auch im Inneren die Welt wieder auftaucht. Sie übersetzt also nicht zwischen fremden Sprachen und Kulturen, sondern zwischen ihren eigenen Sprachen und Kulturen, die sie zum Teil auch selbst herstellt.

In einem kleinen poetologischen Text schlägt Gherasim Luca anstelle der ihm verfälscht erscheinenden Bezeichnung Poesie den Begriff «ontophonie» vor und begreift damit seine Dichtung als Seinsform und Klangwesen. Der Text führt auf den Satz «je m’oralise» hin, dessen «ich» sich mündlicht, sich mündigt (es wird mündig), sich mündet (es ist mit sich in Berührung), sich moralisiert (es fragt sich) und dabei die Moral oral, sexuell aufbricht, «ich m’oralisiere». Der mündliche Selbstbezug der Ontophonie verhält sich so gesehen subversiv zur Kategorie der Moral. Gherasim Lucas somatische Sbrechdichtung lässt sich gewissermaßen als existenzielles Kotzen beschreiben, als ständiges Auf- und Ein- und Ausbrechen, als Weiterbrechen. Als Radebrechen, wie es auf Deutsch auch heißt (von auf dem Rad brechen). Das Gedicht operiert mit der Dynamik von Hemmung und Enthemmung, von Zwang und Befreiung. Das phatische Ausstoßen von Luft durch die geschlossenen Lippen, das «paspas» klingt wie ein stotternder Motor, der nichts zu verneinen findet außer sich selbst. Das Stottern erzeugt dabei eine eigene Zeit, die der regelmäßigen Zeit der Uhr und dem Schlag des Metronoms widerspricht: Es bleibt ständig stehen, rattert zuweilen monoton, und bricht dann unerwartet zu einem neuen Wort und Gedanken durch. Diese eigene Logik der Hervorbringung lässt an eine Maschine denken. Eine Stotter- oder Sbrechmaschine, die dem Dichter nur angeschlossen ist. Sie wiederholt sich und ihre Funktion, die Worte zu öffnen und die Sätze zu brechen. Sie ist gewissermaßen gegen die Sätze und für neue Worte. Sie transportiert die Sprache fort. Die Worte stottert sie über die Worte und die Luftblasen hinweg. Sie entführt die Sprache aus ihrer Statik in eine Dynamik. Was sie von anderen Maschinen unterscheidet: Sie ist unbändigbar und unkontrollierbar. Sie verhindert geradezu jede Kontrolle. Sie erzeugt Störungen, sie übersetzt aus sich heraus, sie ist sitzfeindlich, aber lauf- und lautfreundlich. Ein rasendes Sbrechen, eine wilde, verwilderte Maschine. Immer hört dieses Dichten sich selbst und versucht, sich zu entkommen, «aberaber», nicht durch Schweigen aus Scham vor der Identität als Stotterer, sondern durch Verwandlung und Produktion. Nicht allein Nachhall, sondern auch Vorhall, als *bersetzung. Diese Sprache überholt das Denken gleichsam beim Sprechen und so der Dichter das Laufen beim Sitzen. Zunächst sind nahezu sämtliche Grenzen von PASSIONNÉMENT in ständiger Verschiebung, die Übertretungen in einem experimentellen und das Wachstum in einem wuchernden Zustand. Das Gedicht weiß nicht, was es produziert, aber es wirkt wie zum Produzieren und zum Ausdruck gedrängt. Die Trennlinie von Sprechen und Schreiben, von Sinn und Unsinn verschwimmt und tritt hinter die Dynamik des Sprechens und ihre Strömungen zurück. Diese lässt sich weder festschreiben noch einfach in einem anderen Code wiederholen, sondern nur weiterschreiben, weiterübersetzen, so wie der Stotterer in und von der Sprache weitergesetzt wird und weiterstolpert, ohne zu einem Stillstand zu kommen. Die Sprache PASSIONNÉMENTS lässt sich mitsprechen und variieren, nicht aber regulieren oder eindeutig verstehen. Der Verwandlungsprozess lässt an einen Dolmetschvorgang denken. Indem der Dolmetscher beim Reden des anderen mitspricht, macht er sich zum Anderen, ohne der Andere zu sein. Er übernimmt das Sprechen des Anderen und macht sich unsichtbar. Das ist gewissermaßen die Partisanentechnik des Übersetzens. Diese Form der indirekten und erlebten Rede verlangt räumliche und zeitliche Nähe. Das Gedicht PASSIONNÉMENT ist in diesem Sinn als Dolmetschen mit der Leidenschaft lesbar. Es schließt seine Dolmetschmaschine an den Affekt an, um diesen sichtbar und erlebbar zu machen. So wird es möglich, der Sprache gleichsam beim Denken zuzusehen und mitzuvollziehen, wie sie sich und das Leserbewusstsein (ver)formt. Der Redeschwall gleicht nicht dem geregelten Ping-Pong eines Dialogs, sondern einem Monolog mit gestörtem Rhythmus. Der Monolog ist sozusagen ganz Ohr, er hört sowohl nach innen wie nach außen und wird zum Polylog im Monolog. Die Dichtung setzt sich gewissermaßen selbst aus, und aus sich selbst hinaus.

In den in diesem Aufsatz hergestellten Beziehungen von Dichtung und Übersetzung sollten ganz unterschiedliche Praktiken der Übersetzung sichtbar werden. Jede dieser «Übersetzgedichte» ist durch ein autonomes Verhalten und einen starken literarischen Eigensinn gekennzeichnet. Es sind übersetzerische Ausdrucksformen, die nicht auf eine totalitäre Erfassung eines Textes oder einer Wirklichkeit gerichtet sind, sondern auf den übersetzerischen Ausdruck etwa eines drängenden Bedürfnisses und die Auffaltung normierten Sprechens wie bei Luca, auf die Herstellung von unbewussten Beziehungen wie bei Friederike Mayröcker, auf die lustvolle In-Beziehung-Setzung von Sprachen und Worten als freie Entitäten wie bei Peter Waterhouse, und auf ein freies, kritisches Verhalten beim Übersetzen wie bei Ernst Jandl. Von hier aus gedacht, ist Übersetzung keine rein reproduktive Tätigkeit mehr, sondern eine «unreine», produktive Praxis, die jeweils spezifische Verhältnisse zwischen Kulturen und deren Codes, zwischen Sprachen, Sprechweisen, Redensarten, Tönen, Formen etc. herstellt. Übersetzung ließe sich in diesem Sinn als eine freie literarische Tätigkeit unter anderen bezeichnen, oder schlicht: als Verhaltensweise.


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