Andrea Zanzotto

Donatella Capaldi / Ludwig Paulmichl: Gespräch mit Andrea Zanzotto




Donatella Capaldi / Ludwig Paulmichl: Dichtung und Technologie, Unterdrückung des Poetischen in der extremen sprachlichen Spezialisierung, zu der uns die Technik zwingt. Wird das Poetische seine Hinterlist zeigen und den Computerisierungsprozessen entweichen können? Wie handhabt der Dichter «die siegreiche Wissenschaftsbrille»?

Andrea Zanzotto: Ich glaube, und auch die neueren Epistemologen denken so, daß in Wirklichkeit die Bewegung, die die Wissenschaft weiterbringt, also die innere Bewegung der Wissenschaft, sich in nichts von jener unterscheidet, die auch die Dichtung bewegt. Die Ebenen sind verschieden, aber der Geist ist derselbe. Vor allem in der aktuellen Physik bemerkt man ein ständiges Blühen von Metaphern und Analogien; selbst dort benützt man schon Adjektive wie schön oder bezaubernd, um die Teilchen zu beschreiben. Mir scheint, daß alles, was die Welt der Wissenschaft heute ist, sagen wir ruhig die Physik als Diamantspitze und was darum herum ist, in einem poetischen Strom bewegt wird. Sie ist vielleicht die einzige wirkliche Poesie, die geschrieben wird; und sie hat damit den Anspruch, vielleicht die Realität zu sein, die höchstwahrscheinlich mit der äußeren Realität übereinstimmt. Die Literatur darf keine Sorge oder Angst vor der wissenschaftlichen Realität haben, im Gegenteil, sie muß sich die Worte, die Idiome aneignen, die aus diesen unaufhörlichen poetischen Aktivitäten hervorkommen, die die Wissenschaft derzeit vollbringt. Deshalb ist auch jener Gegensatz nur äußerlich, der zwischen wissenschaftlicher Forschung und Technologie besteht - die ich instrumentalisiert nennen würde und in verschiedene Richtungen gehend - und wenn man mir von «flüssigen Kristallen» erzählt, so ist das ein poetisches Bild, dem eine von der aktuellen Physik und Chemie geschaffene Realität entspricht, darüberhinaus noch «flüssige Kristalle», die sich verfärben, die diese schönen Farbabstufungen haben. Also, wenn die Technologie nicht zu schlechten Zwecken finalisiert ist, wie zur Rüstung, ist auch sie voller Überraschungen, d.h. sie ist poetisch in sich selbst. Ich sehe hier keinen Gegensatz.

Frage: Die Bedingung des Daseins ist durchdrungen von sprachlichen Gewißheiten, Slogans und konventionellen Redensarten. Der Dichter untersucht die Verbindung zwischen Form und Wahrheit. Wie bewegst du dich in diesem sprachlichen Dickicht, auf welchem «Holzweg» gehst du?

A. Z.: Nun gut, es handelt sich immer um Holzwege. Ich muß sagen, daß es mir sehr gefällt, dorthin zurückzukehren, wovon ich ausgegangen bin. Dieses zirkuläre Wiederkehren, dieses Ein- und Ausgehen wie in einem Labyrinth, das letztendlich für mich nicht so sehr ein Labyrinth ist, weil - ob Unglück oder Glück, ich weiß es nicht, vielleicht mehr Unglück - weil ich es definitiv in diesem Schlupfwinkel fixiert habe, sagen wir in diesem Landschafts-Schlupfwinkel. Für mich ist das Problem der Sprache äußerst wichtig; vor allem jemand, der schreibt, muß das Gefühl haben, daß sein sprachliches Handeln etwas vom Absoluten hat, auch wenn er weiß, daß dem überhaupt nicht so ist; auch wenn ihn, schreibt er im Dialekt, außerhalb des Umkreises von drei Kilometern niemand versteht. Leider befinden wir uns im Bereich der Sprache wirklich in einem Maximum des Instabilen, des Wandelbaren, in etwas, das sich von Tag zu Tag ändert; andererseits sind wir aber gezwungen im Augenblick des Schreibens die Sprache als das anzusehen, was die Fülle der Beziehung zum Sein ausdrückt. Darum gefällt es mir nicht sehr, über Poetik zu sprechen, noch dem was ich mache sehr auf den Grund zu gehen, weil ich böse Überraschungen erleben könnte, nämlich die Widersprüche zu sehen, die in der Tatsache des Verseschreibens begründet sind; des Schreibens an sich und des Verseschreibens im besonderen, weil dies bedeutet, mit dem Körper und dem Rhythmus der verwendeten Sprache zu tun zu haben oder mit jenem der kleinen Sprache, dem Dialekt also. Man müßte ein Jongleur sein und von einem Punkt zum anderen springen können, sich bewegen, wo man eine Wiese vermutet und im Straucheln erst das Dorngebüsch bemerkt, das vielleicht sticht. Und man muß bereit sein zu springen, auszuweichen.
Ich sehe die ganze Beziehung Poesie - Sprache in dieser Bipolarität erdrückt. Das ist vielleicht schlecht für den, dem das voll bewußt ist; es könnte eine Psyche schädigen, die sich auflädt im Gefühl dieser Bipolarität von Sprache als innerem Fließen und Sprache hingegen, die im poetischen Augenblick absolute Sprache sein möchte.

Frage: Petèl, vorsprachliches Gestammel der Kindheit. Weist du ihm im poetischen Ausdruck die Aufgabe zu, Bedingungen der Sprache zu erforschen? Aber bezeichnet dieses Gestammel nicht auch die Unmöglichkeit der Sprache, oder ist dieses Gestammel die «Grenze - Mensch» vor dem Schweigen des Seins?

A.Z.: Ja, sicher, je mehr man in die Sprache hinabsteigt, ein Wort zu suchen, das am Ursprung ist, um so mehr merkt man, daß dieser Ursprung keiner ist. Auch dort öffnet sich ein Abgrund, und man steht vor dem Schweigen. Dieses Schweigen kann aber einerseits als Abwesenheit von Worten verstanden werden, oder am entgegengesetzten Pol als Überfluß an Worten. Mir vermittelt das Schweigen sehr oft das Gefühl eines gewaltigen Wortschwalles, d. h. einer derartigen Tiefe von ineinander verflochtenen Idiomen, daß es unmöglich ist, sie zu dechiffrieren. Mir hat die Untersuchung der Kindersprache, des Dialekts, der Kinderverse und Abzählreime in diesem Sinne geholfen, einen Schnittpunkt in der Nähe von Null zu finden, wenn man so sagen will, wo sich aber das Äußerste an Individualität dieser infantilen Sprache wirklich zeigt. Diese vom Kind gemeinsam mit seiner Mutter erzeugte Sprache, auch auf einer sehr reduzierten Ebene, scheint wie ein Schatten einer Universalsprache, wie eben die Urlaute, die der Mensch von sich gibt. «papa pa ta» entspricht wesentlichen physischen Bewegungen, und man könnte sagen, daß man bei den Versuchen in der Tiefe der Sprache gleichzeitig ein Maximum des Punktförmigen und des Individuellen finden könnte, aber ebenso ein Maximum des Universalen, wenn auch reduziert auf wenige elementare Laute. Dies geschieht überall; wir finden dieses Phänomen, wenn wir vom Differenzierten zum Undifferenzierten voranschreiten. Aber es hat in keiner Weise den Anschein, als ginge die Poesie den Weg zum Undifferenzierten, im Gegenteil, diese punktförmigen Idiome sind auch untereinander äußerst unterschiedlich. Paradoxerweise hat man in bestimmten Augenblicken das Gefühl, mit einem Bein im individualisiert Absoluten zu stehen und mit dem anderen im wirklich Absoluten, in dem man alle Stimmen verwechselt. Das bedeutet: das Schweigen des Seins existiert leider, aber, um es gleich zu sagen, es ist ein Schweigen, das ständiger Interpretation bedarf, Interpretation von etwas Wortähnlichem, auch wenn es keine Worte im eigentlichen Sinne ausspricht. Zum Beispiel der Kosmos, er drückt sich aus, er spricht, obgleich wir keine Katastrophengeräusche hören und wir ihn geteilt und von Explosionen zerstückelt sehen. Er ist sehr schweigsam, überladen mit einem Schweigen von Ausdrucksmöglichkeiten. Ich glaube, daß die Poesie aus einem Vertrauen dieser Art entsteht, daß der Dichter kindlicherweise sich eine Antwort erwartet, und wenn keine Antwort kommt, gibt er sie selbst, er schickt so etwas wie ein Radar... oder eine Radarwelle aus, die hinausgeht und mit einer Antwort zurückkehrt. Auch wenn er selbst es ist, der alles macht, so ist dem in Wirklichkeit doch nicht ganz so, denn das, was hinausgegangen und wiedergekommen ist, hat von dem etwas gesagt, was draußen war. Auch wenn es nichts anderes ist, als daß die Krümmung der Welle zurückkehrend nicht mehr dieselbe Richtung, sondern eine andere genommen hat. D. h., es ist etwas herausgekommen, es ist nie nur reiner Narzißmus.

Frage: Welche Ausdrucksmöglichkeiten hat der Dialekt? Erlaubt er, die mannigfaltigen und raschen sozialen Veränderungen zu erfassen?

A. Z.: Leider sind seine Tage gezählt. Tatsächlich bemächtigt sich die Hochsprache des Dialekts. Der Dialekt überträgt seine Säfte, seine Energien auf die Sprache, aber daran denken, ihn retten zu können...
Ich schreibe im Dialekt, weil ich ihn spreche, spräche ich ihn jedoch nicht und schriebe ihn trotzdem, so wie es viele machen, wäre das, fast könnte man sagen, eine pathologische Handlung. Ich mache das als Sprechender aus einer Geste der Treue mir selbst gegenüber und mit Vergnügen höre ich auch sehr alte Worte, die in mir manchmal zusammenfließen, und sage mir: «Sieh an, wie lange habe ich dieses Wort schon nicht mehr verwendet.» Es ist eine Art Wiederentdeckung meiner Kindheit, die im Dialekt weiterbrodelt. Ich persönlich erwarte mir beim Verwenden des Dialekts nicht, gegen eine Lawine angehen zu können; nein, im Gegenteil, ich glaube, es betrifft bloß meine eigene Geschichte, mein eigenes Gefühlsleben und das der Gemeinschaft, in der ich lebe, und wiederum parallel zu anderen Gruppen, die ähnliche Erfahrungen machen. Eher als eine Erfahrung des Bewahrens, wie in einem Indianerreservat, als Schreiben, um zu konservieren, ist es ein Schreiben, um zu erinnern, persönlich und fast ein «Andenken» im Heideggerschen Sinne. Man merkt, daß schließlich und endlich immer wir selbst es sind, und es ist, wie ich sagte, eine Erfahrung, die leider nur einen bestimmten Personenkreis betrifft. Die jungen hören den Dialekt mit Vergnügen und auch mit Neugier. Es gibt Gruppen, die versuchen, ihn wiederzubeleben und für seine Erhaltung eintreten, aber indem sie sich dessen bewußt sind, ist es eine Wiederholung und keine Kontinuität. Ich unterstütze diese Gruppen, auch wenn ich weiß, daß der Lauf der Geschichte in eine andere Richtung geht. Wie gesagt, es wird andere Dialekte geben, die wasweißichwoher kommen. Wenn es Esperanto wäre, um so besser, obwohl es eine Sprache ist, die am Schreibtisch fabriziert wurde, aber durchaus harmonisch, sympathisch, die von überall etwas aufgenommen hat. Vielleicht wäre es eine ideale Sprache für die Zukunft.
Man weiß aber, daß sich in der Geschichte die Sprache der herrschenden Mächte durchsetzt und derer, die jetzt Wissenschaft und Technologie kontrollieren. Es wird nicht mehr dieselbe Sprache sein, mit der Zeit wird sie sich ändern. Wünschenswert wäre ein universales Medium, das neben allen linguistischen Eigenheiten bestehen bleibt. Es wäre besser, wenn sich Menschen in allen Teilen der Welt verständigen könnten und trotzdem sie selbst blieben.

Frage: In welcher Weise haben die Massenmedien zur Verflachung der Sprache und zum Absterben des Dialekts beigetragen?

A. Z.: Ich würde sagen, daß sie bei den Jugendlichen zweifellos dazu beigetragen haben; aber darüberhinaus gab es eine falsche Vorstellung von sozialem Aufstieg. jetzt, durch den Druck der Massenmedien usw., ist man weder Fisch noch Fleisch. Alles in allem würde ich sowohl die Arbeit des Kinos als auch die des Fernsehens in Bezug auf den Dialekt mehr negativ als positiv sehen, auch wenn die Dialekte über ihre Gegenden hinaus bekannt wurden. Gleichzeitig aber fügte man viele hochsprachliche Vokabeln ein, und dabei kam es durch die Überbetonung der verschiedenen Färbungen zum Bruch mit der dialektalen Authentizität.

Frage: Sind die graphischen Symbole, die einige deiner Gedichte begleiten, visuelle Spiele, die das linguistische Gewebe unterstreichen?

A. Z.: Ja, die visuelle Seite hat mich immer interessiert, in dem Sinne, daß für mich Poesie Schrift ist und nicht nur Stimme. Sicher ist es vor allem die Stimmlichkeit, die in der Tiefe entsteht, sie ist phonè. Ich würde aber auch sagen, daß phonè ihrerseits Schrift ist, die ihren Körper mit den freiwerdenden Klangwellen in der Luft bildet. Also finde ich die Trennung zwischen Poesie als Stimme und Poesie als geschriebenem Akt absurd, weil es sozusagen eine vor-schriftliche Schrift gibt. Es ist dieselbe physische Stimme, die, wie ich sagte, den Raum mit den Klangwellen schreibt. Deshalb hat mich die Poesie als visuelle Tatsache, die Blattseite, Poesie als Text, immer sehr interessiert, auch die typographische Anordnung, die Wahl eines Schrifttyps an Stelle eines anderen.
Unglücklicherweise waren mein Vater und der Großvater sehr gute Maler. Ich möchte sagen, daß ich immer ein Gefühl von Minderwertigkeit gegenüber der manuellen Arbeit, dem Radieren, dem Malen hatte, dem Graphen gegenüber also. So kommt es, daß ich selten die Schreibmaschine benütze. Mir gefällt es, die Wörter auf dem Blatt vibrieren zu lassen, zu sudeln, Bildchen zu malen. Vielleicht schon morgen lassen sich mit dem Heimcomputer Spiele desselben Typs machen, noch habe ich ihn nicht ausprobiert, noch weiß ich nichts, doch ich würde ihn nicht zurückweisen; aber die Vermittlung über die Tastatur hemmt mich, gerade weil ich den Übergang zur Radierung, zur Zeichnung, zum Durchdringen des Blattes möchte ich fast sagen, als wichtig empfinde. Deshalb bedeuten diese Bildchen einerseits meine Unfähigkeit und die Anmaßung zugleich und den Willen zum Malen, der sich nicht realisiert hat, andererseits fast die logische Ergänzung zur Erfahrung der Schrift, die sich immer auf die Idee stützte, das Schreiben sei Zeichnen von Charakteren und erlaube das Ausleben des Manuellen. Die Möglichkeit, eine Sprache fast wie in Miniatur gearbeitet zu erfinden, wäre schön. Wäre es mir gelungen, Miniaturen zu malen, wie mein Vater, hätte mich das sehr gefreut. Diese visuelle Seite hat für mich jedenfalls eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, und ich bevorzuge eben diese Art kindlicher Zeichnung, sehr elementar, die mich nicht allzu kompromittiert, denn sonst wäre ich ganz zur Malerei hingezogen, zur Raumerfahrung hin, während die Dichtung gerade das Gleichgewicht hält zwischen Raum - Zeit - Geist, mit dem Anspruch, alle diese disparaten Elemente zusammenzusetzen.

Frage: «Die Abwesenheit der Götter» und die «Ferne des Seins» haben die verschiedensten poetischen Reaktionen in der zeitgenössischen Literatur hervorgerufen. In welcher dieser Strömungen oder in welchem dieser Autoren hast du die größten Affinitäten für deinen literarischen Dialog gefunden?

A. Z.: Ich muß sagen, daß für mich eine Erfahrung des vertikalistischen Typs, d. h. im Erforschen der Essenzen, ihnen auf den Grund zu gehen, entsprechender gewesen wäre, aber offen gesagt, habe ich mich immer nach einer «kolloquialen», «sapientialen» Dichtung gesehnt. Wenn ich daher versuche, mich einerseits mit der Linie in Einklang zu bringen, die von Hölderlin kommt, über Mallarmé, Valery und die reine Poesie geht, gibt es andererseits immer diese Gegenbewegung zu einer größeren Umgänglichkeit hin. Denn in Bezug auf die «abwesenden Götter» muß ich sagen, daß es für mich diese Götter wirklich gibt, und wie. Sie sind nicht abwesend, es sind zwar nicht die großen Götter, aber das Gewicht, das die Wirklichkeit um uns herum in ihrer tagtäglichen Konditionierung hat, im positiven wie im negativen Sinn, bedingt, daß tausende von Kräften in Wirklichkeit für uns Götter sind, obwohl wir nicht wissen, woher sie kommen und in welche Richtung sie gehen. Ein wacher Geist mag noch so oft sagen, es seien Kräfte und keine Götter, doch wenn sie mich konditionieren, ist es richtiger, sie Götter zu nennen. Ich bin überzeugt, daß eine vollkommene Entmythisierung unmöglich ist, und zwar deshalb, weil ich aufgrund sehr lange zurückliegender Erfahrungen in der Kindheit die Natur wirklich, ich wage nicht zu sagen als göttlich, aber doch als mit Sinn beladen empfunden habe. Wie ich vorher sagte, ist das Schweigen voller Stimmen, die man bei einiger Aufmerksamkeit interpretieren kann. Deshalb habe ich eher als die Abwesenheit die Anwesenheit der Götter gefühlt, leider oft schädlich; dann nämlich, wenn es sich um Kräfte handelt, die wir nicht kontrollieren können. Von daher stammt mein Interesse für die Psychoanalyse, die Anthropologie und die Soziologie, weil uns gerade diese Wissenschaften lehren, die Wirklichkeit zu erfassen, die schädlichen Kräfte in ihre Komponenten zu zerlegen, sie damit weniger aggressiv, weniger destruktiv zu machen. Deswegen habe ich auch immer jene Art des Vertikalismus abgelehnt, die behauptet, es sind Götter und damit Schluß. Es sind wohl Götter, aber auch weniger, und wir kennen sie in diesem Weniger und wenn sie uns schädigen. Mich interessiert jener Reduktionismus nicht, der sagt, diese schöne Landschaft, die du siehst, ist nur deine Illusion, wenn er also den positiven Gott zerstört. Hilft er mir hingegen, einen negativen Gott zu zerstören, dann nehme ich ihn sofort an ..., er ist dann ein Instrument, das mir zu überleben hilft. Die Abwesenheit der Götter absolut zu behaupten, würde bedeuten, die Welt auf reine philosophische und reine wissenschaftliche Erkenntnis zu reduzieren; wir wissen aber auch, wieviel Poetisches und Mythisches sich in der Wissenschaft finden läßt. Wenn Hölderlin das so sagte, zu einem Zeitpunkt noch vor seiner Umnachtung, lebte er vielleicht den Enthusiasmus der Aufklärung und der Frühromantik. Wir haben heutzutage vielmehr Erfahrungen mit dem uns belagernden Unheil gemacht, auch in sozialer Hinsicht, so daß wir eben deshalb auf die Suche nach kleinen Göttern gehen, die alles in allem da sind. Sind sie sympathisch, sollte man sie aufnehmen und zum Reden bringen, sie hätscheln, sind sie hingegen bösartig, sie zerlegen und entfernen. Auch das kann ich eine Form von Reduktionismus nennen, der sich aber auf die Wissenschaft stützt.

Frage: Ist es sinnlos, heutzutage noch von den Intellektuellen zu sprechen und von ihrer gesellschaftlich bestimmenden Rolle?

A. Z.: Ich glaube daß die Intellektuellen nie eine bestimmende Rolle gehabt haben. Es hat einige wenige Intellektuelle gegeben, die sich in Politiker verwandelt haben; im selben Moment haben sie aufgehört, Intellektuelle zu sein. Lenin zum Beispiel war ein großer Intellektueller, ist dann Politiker geworden, und sein ganzer Intellektualismus, alles was er gesagt hatte, ist von dem umgeworfen worden, was er gemacht hat und von dem auch er nicht wußte, wohin es führen würde. Ich glaube, daß der wirkliche Intellektuelle zurückgeführt werden müßte auf die alte Figur des Humanisten, von Petrarca bis Erasmus von Rotterdam, d. h. zu einem Typus, der genau weiß, daß er wenig zählt, aber diesem wenig Zählen Ausdruck verleiht. Ich würde sagen, entweder der Ratgeber des Fürsten - oder vieler Fürsten, es kann auch Millionen Fürsten geben - oder Gegner dieser Fürsten. Aber er muß sich immer der Gefahr bewußt sein, daß er selbst sich in einen Fürsten verwandeln kann, in jemanden, der die Lebewesen handhabt, vielleicht auch mit den besten Intentionen, aber doch handhabt. Ich denke, die Aufgabe des Intellektuellen, vor allem des Humanisten, ist es, in der Rede aufzuklären, die Wogen zu glätten, dort wo Gewalt ist, die Wahrheiten aufzuzeigen, aber nie bestrafend ... ja, ich würde ihn so sehen, als einen, der die Aufgabe hat, aufzudecken und zu vermitteln in einem. Die Funktion des Intellektuellen hat sehr verschiedene Phasen durchlaufen, den maître a pensée, wie er zwischen den beiden Kriegen existierte, und den Meinungsproduzenten, den opinion maker, der fast eine Maschine ist, die Meinungen liefert, die sich dann von Tag zu Tag neu präsentieren müssen. Nun, ich habe nie an das reale Gewicht der Meinungen geglaubt, denn kaum werden sie wichtig, werden sie von denen beseitigt, die die Geschichte machen. Denn die Leute, die imstande sind, in aller Ruhe zu töten, nach mir der Typus des Politikers, unterscheiden sich eben aus diesen Gründen; einer, der sich Gedanken macht über die Möglichkeit, die Existenz anderer zu gefährden zieht sich zurück; wer hingegen sicher ist, auf die Köpfe der anderen steigen zu können, der Grund mag ihm als richtig erscheinen, dieser ist dann eben eine andere Rasse, ein anderes Tier. Leider sind wir heutzutage sozusagen eingebettet zwischen Meinungen; man hört sie in allen Tonarten, wir sind von einem Informationsüberfluß erdrückt. Mich persönlich stört es sehr, wenn ich nach Meinungen gefragt werde, die über meinen Bereich hinausgehen, weil ich das Gefühl habe, Gemeinplätze zu sagen, also Dinge, die mit dem alten und elementaren guten Ton zu tun haben; meine Meinung gilt wie die des Erstbesten auf der Straße. Oder auch wegen der Schwierigkeit, heute auch nur ein Minimum an globaler Information zu haben, weil zu viele Sachen zu lernen sind, man kommt mit der Zeit nicht hin, es besteht die Gefahr, großen Unsinn zu reden. Folglich wäre der Intellektuelle, oder besser noch der Philosoph, heutzutage eher Spezialist in Universalität, auch er wird Spezialist, ein Universologe. Das was zählt, sind die Meinungen im technischen Bereich; um nur ein Minimum an Informationen in einem Bereich zu haben, muß man Jahre darüber sitzen, und dann, nach all den Jahren, ändert sich im Laufe von drei Jahren das ganze Wissen. Es gibt Bereiche, die länger bestehen, wie die humanistischen, denn hier hat die Tradition fast dasselbe Gewicht wie die Neuerung, man muß wenigstens die Vergangenheit kennen. Vergil lesen ist nicht dasselbe wie Plinius lesen. Innerhalb gewisser Grenzen kann die alte Figur des Intellektuellen und des Humanisten noch ihre Rolle spielen, wenn sie nur nicht zu weit außerhalb des Abgesicherten gebracht wird...

Frage: Folglich Opfer des Logos zur Potenz?

A. Z.: Ja, der Logos ist fürchterlich, er ist das, was uns bedroht, wir sind dabei, an All-wissen draufzugehen, wie man früher an Ignoranz draufgegangen ist. Es gibt noch ein anderes Paradoxon: je mehr einer Spezialist ist, um so mehr ist das Feld seines Wissens reduziert, folglich weiß der spezialisierteste Spezialist gar nichts mehr, weil die einzige Sache, über die man alles wissen kann, die ist, über die man nichts weiß.

Frage: Du hast mit Fellini zusammengearbeitet, bei den Filmen «Casanova» und «Das Schiff der Träume». Als was hat sich die Beziehung des Phonems, des poetischen Mittels, zu der filmischen Darstellung herausgestellt?

A. Z.: Ich muß sagen, anfänglich hatte ich ein gewisses Mißtrauen gegen das Kino, zugleich auch Sympathie dafür. Es ist ein Medium, in dem sich viele Dichter versucht haben. Auch in seinen Ursprüngen gab es häufig die Umsetzung von Poesie, so zum Beispiel durch Artaud, der selbst Schauspieler war. Mir gefällt die filmische Darstellung sehr, aber ich sehe gleichzeitig, daß die Dichtung ein wenig auf Kollisionskurs mit dem Kino steht, denn sie erhebt in ihrer Art einen Anspruch auf Universalität, der dem des Kinos entgegensteht. Zwei Hähne im selben Korb. Ich muß jedoch sagen, die Anwesenheit eines poetischen Elements in einem wertvollen Film kann die Aufwertung der Dichtung innerhalb des Films selbst bedeuten, d. h. Dichtung, die mit ihren poetischen Werten hervortritt und gleichzeitig die Qualität des Films verbessert. Es könnte ein wichtiger Austausch sein.

Frage: Da wir bis jetzt über Kunst gesprochen haben, könnten wir mit einer Ironie schließen. Wie reagierst du auf die Behauptung Hegels, daß die Kunst für die Idee sterbe, oder auf den Satz Adornos, nach Auschwitz sei kein unbeschwertes Gedicht mehr möglich; auch etwa auf die Stellungnahme von Hildesheimer, der in einem Interview erklärte, er gebe seine literarische Produktion auf. Ist das nicht in Wirklichkeit eine Niederlage des alten Humanismus, oder wie würdest du dieses Problem sehen?

A.Z.: Wir wissen nicht, welcher Art die Empathie der audiovisuellen Mittel, vor allem des Fernsehens, sein wird; welche psychologische Deformation es für die Tiefenstruktur des Menschlichen bedeuten kann; für mich kommt folglich die Gefahr von dort. Ich bin überzeugt, daß auch mit all dem Absurden von heute, solange der Mensch Gefühle, Emotionen hat, eine Form von Kunst herauskommt; sollte die Emotionalität auf Null sinken, dann wird auch die Kunst verschwinden. Solange ein emotional Gelebtes noch zum Vorschein kommt, wird dies immer nach einem Ausdrucksmittel suchen, das im Akt des sich Ausdrückens auch Innovation wird, denn es gibt nie nur reine Expression, Schreiben bedeutet auch schon erfinden. Ich gehe immer von einem emotionalen Ursprung aus. Auch wenn wir vor reinen Formen stehen, so deshalb, weil darin eine tiefe Lust, eine leuchtende Freude für das Spiel steckt, d. h. eine auf Emotionalität beruhende Freude am Spiel. Sei es auch eine Kunst, die auf reinen Formen beruht, jede Art von künstlerischer Aktivität liegt für mich in der Emotionalität. Eine Emotionalität, die man außerordentlich intensiv erlebt und die sich getrost auf der Tastatur des Komischen, Tragischen und auch des Abstrakten bewegen kann; denn der Tod der Kunst wird nicht erst dann eintreten, wenn alle Techniker oder Philosophen sind, sondern wenn sich die Gehirnstrukturen geändert haben. Es kann ruhig sein, daß sie stirbt, aber das würde ich nicht in absehbarer Zeit sehen.
Nun, über den Tod der Kunst ist viel gesprochen worden, viel an Kunst ist aber gerade aus der Trauer um die Kunst entstanden, aus dem Weinen über das Verschwinden der Kunst, tatsächlich aber fuhr sie fort, zum Vorschein zu kommen. Auch die Wissenschaft selbst bewegt sich aus einem Raptus der Phantasie, wie wir wissen.
Hegel und Hölderlin interessierten sich für jenen Mythos, für das Thematisieren einer Angst vor dem Kommenden. Gerade Hegel hat diese Angst aufgenommen, er hat einen bestimmten Tod seiner Kunst zelebrieren können, weil er als junger «Eleusis» geschrieben hat, ein schönes Gedicht. Er hat, als er die «Phänomenologie des Geistes» schrieb, den Grund genannt, warum in ihm die Kunst sterben müsse. Ich frage mich, und damit meine ich nicht die «Enzyklolpädie der philosophischen Wissenschaften», ob die «Phänomenologie des Geistes» nur zufällig mit linguistischen, phonetischen Werten beladen ist oder ob sie schon ein Kunstwerk in sich selbst ist, metaphysisch, poetisch. Man ist dort ja nicht weit entfernt von den Zeiten, in denen er «Eleusis» geschrieben hat. Ich sehe fast eine Furcht, einen aportropäischen Ausdruck von Beschwörung, daß die Kunst stirbt etc...
Sicher, es ist besser, daß die Kunst für lange Zeitabschnitte schweigt, als immer die gleiche Suppe zu kochen, hauptsächlich in den bildenden Künsten, weil dort die Händler verkaufen müssen und alles Neo und Post und Post und Neo nennen, nur um Geld zu machen. Ich bin aber überzeugt, daß es auch biologischer Räume bedarf, damit sich diese tiefen Schichten bilden, aus denen ein künstlerischer Ausdruck entstehen kann. Daher ist es richtig, daß die Kunst ihre kleinen Tode hat, es ist besser, sie macht ihr Schläfchen, als uns aufgewärmte Suppen zu servieren, wie es oft geschieht, und ich möchte nicht selbst einer sein, der aufgewärmte Suppen anbietet.

Frage: Wir essen gern in deinem Restaurant...

A. Z.: Ich habe mich nie außerordentlich von den Musen genährt gefühlt. Auf jeden Fall möchte ich dies sagen: einerseits verneine ich die These vom Tod der Kunst, aber ausgenommen bleibt andererseits das Fragezeichen, das uns die Roboterisierung bereitet, wir wissen nämlich nicht, was sie in nächster Zeit bringen wird. Ich sage ja und Willkommen zu einem auch längeren Schweigen jener Künste, die nicht mehr Kunst sind, weil sie Wiederholungen sind, ganz einfach Epigonentum.


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