Felix Philipp Ingold




Weit verbreitet (ein realisierter Gemeinplatz!...) ist der Horror, allein zu sein, und sei's auch bloss für ein Weekend; oder plötzlich keine Anrufe mehr zu bekommen, keine Werbung, keine Bankauszüge, keine Todesanzeigen. Vor solchem Horror ist gefeit, wer das Alleinsein als Lebensform wählt; gefeit aber nur, wenn die Einsamkeit kein Exerzitium ist, durch das irgendetwas abgegolten werden muss. Gefeit, wenn es - die Wüstenväter sind fern, die Klosterfrauen nicht zahlreich genug - gelingt, das Alleinsein als Gewinn, auch als Lustgewinn zu verbuchen, und nicht als Defizit des zur Sozialität bestimmten Menschen. Wer sich allein fühlt, leidet an unmenschlichen Ent- zugserscheinungen, die zutiefst menschlich sind. Wer allein sein will, hat vielleicht begriffen, dass zwei Augen mehr sehn als vier, und er kann, und er muss - um endlich doch noch Mensch zu werden - ein unmenschliches Leben leben; ein armes, ein reiches Leben, in dem nichts zu wenig, nichts zu viel ist.

Aus: Gegengabe


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